DAS GLÜCK DER ANDEREN/A PRAYER FOR THE DYING

Stewart O´Nan schreibt an einer fortlaufenden Chronik des amerikanischen Wahnsinns

Sieben Jahre nach dem Bürgerkrieg, den er als regulärer Soldat bei den Truppen des Nordens gekämpft hat, dabei vor allem in Kentucky gegen irreguläre Truppen des Südens, bemüht Jacob Hansen sich, in der kleinen Stadt Friendship Ruhe zu finden und die Erinnerungen zurück zu drängen. Er bekleidet das Amt des Sheriffs, ist zugleich aber auch Leichenbestatter und Prediger in seiner Gemeinde. Als eine Seuche ausbricht, die sein Verbündeter, der Arzt der Stadt, als Diphterie ausmacht, beginnt für Hansen ein verzweifelter Kampf. Immer mehr Menschen erliegen der Krankheit, darunter auch seine kleine Tochter und schließlich seine Frau. Doch die wahre Apokalypse kommt über die Stadt, als ringsum Präriefeuer ausbrechen und langsam alles verschlingen, was den Flammen Nahrung gibt.

Das ist, roh zusammengefasst, das Handlungsgerüst von Stewart O´Nans Roman DAS GLÜCK DER ANDEREN (Dt. 2003; Original A PRAYER FOR THE DYING; 1999). In den Tagen, die die Handlung umfasst, muß Hansen sich nicht nur damit auseinandersetzen, daß der Mensch, so sehr er auch an ihn und das Gute in ihm glauben will, sich immer selbst am nächsten steht, sondern er muß vor allem den eigenen Dämonen entgegentreten. Tief geprägt und traumatisiert von seinen Kriegserlebnissen, ist ihm vor allem der Job als Leichenbestatter zu einer Art dauerhaften Katharsis geworden. Während er „seine“ Toten zurecht macht, spricht er mit ihnen, befragt sie, bittet sie um Nachsicht mit den Lebenden. Der Job als Prediger ist sozusagen die Beigabe, kann er hier das Wort doch an die Lebenden selbst richten, die ihm dabei eine gewisse Autorität zubilligen. Die Arbeit als Sheriff ist mehr oder weniger folgerichtig, denn sie gibt ihm die Möglichkeit, der Gemeinde auch tätig zu dienen. Er kümmert sich um entlaufene Kühe und darum, daß ein toter Hund nicht auf der Hauptstraße liegen bleibt, er schlichtet Streit und versucht, den Leuten in der Stadt klarzumachen, daß die „Kolonie“, eine Erweckungsgemeinschaft, die sich außerhalb der Stadt niedergelassen hat, keine Bedrohung darstellt. Die Krankheit und das Feuer nehmen für Hansen zunehmend biblische, alttestamentarische Formen an. Ist es Strafe für mangelnde Demut, die über ihn und die Seinen kommt? Ein Fegefeuer? Eine Prüfung? Er fühlt sich an Hiob und andere Geschichten des Verlusts aus der Bibel erinnert, während er versucht, das Richtige zu tun. Soll man die Stadt evakuieren? Soll man die Bewohner warnen, daß eine Seuche wütet? Oder soll man, wie der Doc meint, erst einmal abwarten und schauen, wie die Dinge sich entwickeln? Und soll Hansen Frau und Kind fortschicken? Sie retten, weil er weiß, daß die Gefahr tödlich ist?

O´Nan schreibt seinen Roman weder in der Ich-Form, noch als auktorialer Erzähler, sondern er nutzt die seltene Du-Form. Dadurch wird die Distanz zwischen Jacob Hansen, seiner Geschichte und dem Leser vermindert. Zugleich wird der Leser aber auch unmittelbarer Zeuge der immer schrecklicheren Zerwürfnisse, die Hansen mit sich selbst auszutragen hat. Seine Entscheidungen sind nie falsch, aber eben auch nie richtig. Nur kann er in Anbetracht der Katastrophen, die über seine Stadt gekommen sind – die Seuche – und zu kommen drohen – das Feuer – letztlich keine eindeutigen Entscheidungen mehr treffen. Die einen laufen den andern zuwider. Er sperrt die Stadt ab, damit niemand die Krankheit ins Umland trägt, er bittet seinen alten Waffengefährten Bart, Sheriff der nächstgelegenen Stadt, um Amtshilfe, tötet diesen aber mit erstaunlicher Kälte, als er die noch lebenden und nicht erkrankten Bürger seiner Stadt vor dem Feuer in Sicherheit bringen will.

O´Nan gelingt da ein kleines Meisterstück, wenn er uns den ununterbrochen mit sich selbst ins Gericht gehenden Sheriff – es ist hauptsächlich diese Tätigkeit, bei der wie ihn erleben – als einen Gehetzten präsentiert, der die Gespenster seiner Vergangenheit zu bändigen versucht, indem er tätige Nächstenliebe übt, nur um uns nach und nach jemanden zu offenbaren, der mit einem Teil seines Wesens so oder so bereits im Wahnsinn haust. Und je schwieriger die Lage wird, je weniger Hansen seinen eigenen Ansprüchen gerecht werden kann, desto mehr greift der Wahnsinn auf ihn über. Die Toten sind nicht mehr zu beerdigen, er kann sie bestenfalls verscharren, meist aber übergibt er sie den Flammen, wenn er die von der Krankheit heimgesuchten Häuser niederbrennt. Er kann den Infizierten nicht helfen, also greift er zu immer drastischeren Maßnahmen, um sich ihrer zu erwehren. Einige sperrt er in ihren Häusern ein, andere überlässt er ihrem Schicksal, sobald er sieht, daß sie zu schwach sind, um sich noch fort zu bewegen. Dabei versichert er sich ununterbrochen seiner Menschenliebe und der Sorge, die er sich um jeden einzelnen macht. Die Verzweiflung entwächst der Erkenntnis, daß es letztendlich vollkommen gleich ist, wie man sich entscheidet. Denn das, was Hansen, der sich bemüht, äußerst rational zu handeln, als Gottes Gericht wahrnimmt, ist zu groß, als daß menschliches Handeln, menschliche Entscheidungen noch relevant wären.

Wie weit der Wahnsinn geht, wird dem Leser in jenen Momenten deutlich, wenn Hansen gelegentlich nachhause kommt, wo seine sterbende und schließlich tote Frau auf ihn wartet, die er, gemeinsam mit der längst toten Tochter, beide einbalsamiert, an den Tisch setzt und seine Mahlzeiten in ihrer Gegenwart zu sich nimmt. Und schließlich auch das Bett mit seiner toten Frau teilt. Da wir all dies aber immer durch die Augen des Sheriffs wahrnehmen, verlieren diese Handlungen zunächst ihren Schrecken, mehr noch: Sie wirken wie geradezu heilende Handlungen, aus denen er die Stärke schöpft, weiterzumachen, sich und die anderen anzutreiben, durchzuhalten, gegen Seuche und Feuer anzukämpfen. Für alle sichtbar wird seine ganze geistige Versehrtheit erst in jenem Moment, da er seinen Freund Bart und einen von dessen Helfern einfach über den Haufen schießt.

O´Nan evoziert wahrlich apokalyptische Bilder, wenn er die Kranken beschreibt, vor allem aber, wenn er den Ascheregen beschreibt, der unablässig auf die Stadt niedergeht, Spuren verwischt, alles uniform werden lässt, die Lungen verätzt und den Blick nimmt. Je stärker die Asche, desto unklarer Hansens Geist. Der Wahnsinn bemächtigt sich dieses Mannes, aber die Frage ist, ob er nicht schon lange in ihm lauert? Und darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es nicht ein Wahnsinn ist, der bereits die ganze Gesellschaft befallen hat? O´Nan greift zur Inspiration auf reale Begebenheiten zurück, die er jedoch stark entfremdet und damit vollkommen fiktionalisiert. Er bedankt sich aber explizit bei Michael Lesy, dessen Buch WISCONSIN DEATH TRIP (1973) ein Klassiker und mittlerweile auch ein wahres Kultbuch geworden ist.

Lesy nutzte Photographien des späten 19. Jahrhunderts, größtenteils in der kleinen Stadt Black River Falls, Wisconsin, aufgenommen, die für das seltsame Verhalten ihrer Bürger über einen gewissen Zeitraum (ca. 1890 bis 1910) bekannt geworden ist. Diese fügt er mit Auszügen aus Zeitungen und Tagebüchern zusammen, um so ein eigenes Bild dessen zu schaffen, was er für die Realität hinter den Geschichten von Seuchen, Wahnsinn, Gewalt und Mord hält, für die die Kleinstadt und ihre Umgebung berühmt-berüchtigt wurden. So entstand ein Kompendium des Lebens von Farmern und Siedlern in einem Land, das extreme Härten bot und seinen Bewohnern alles abverlangte. Lesy ist der Auffassung, daß es diese Bedingungen waren, die den Menschen so zusetzten, daß einige schließlich den Verstand verloren. Er widerspricht jedoch den zeitgenössischen Annahmen, daß es sich um eine kollektive Psychose o.ä. gehandelt habe.

O´Nan nennt Lesys Buch seine Inspirationsquelle, ohne dabei aber auf die realen Ereignisse einzugehen. Vielmehr nimmt er mit Jacob Hansen einen dieser Menschen, bietet dem Leser so viel von dessen Geschichte, wie nötig ist, um zu begreifen, und lässt uns in der eben seltenen Form, die er nutzt, daran teilhaben, wie innerer und äußerer Druck, wie eigene Ansprüche und Gottgefälligkeit zu einem üblen Gemisch werden können, in dem man vielleicht meint, rational zu handeln, längst aber keine wirkliche Entscheidungsmacht mehr besitzt. Und das schließlich zu Gewalt führt, die vielleicht rationale Gründe haben mag, in ihrer Abruptheit jedoch völlig unvermittelt und irrational wirkt.

O´Nan, ein Bewunderer Stephen Kings, geht aber noch einen Schritt weiter. In jenen Szenen, in denen Hansen mit seiner toten Familie am Esstisch sitzt, mehr natürlich noch in jener, in der er beschreibt, wie er mit seiner toten Frau schläft, nutzt O´Nan nahezu das Potential des Horrorromans, um das ganze Ausmaß der Zerrüttung im Geist dieses Mannes zu verdeutlichen. Dabei wird er nie ekelerregend oder explizit. Es reicht, daß der Leser versteht, was geschieht – und daß Hansen in diesen Momenten absolut mit sich im Reinen ist, handelt er doch nach seinen eigenen Maßstäben voller Liebe und Zuneigung. Mit diesen Szenen evoziert O´Nan aber noch ein ganz anderes Bild: Das des Serienmörders, Nekrophilen und mutmaßlichen Sadisten Ed Gein. Gein, der nahe Plainfield, Wisconsin, lebte, flog 1957 auf, als sein Haus durchsucht wurde und dort nicht nur die ausgeweidete Leiche einer tags zuvor entführten Frau, sondern auch allerhand seltsame, ekelerregende Gegenstände aus menschlichen Knochen und menschlicher Haut gefunden wurden. Gein wurde das Vorbild des jungen Norman Bates inRobert Blochs PSYCHO (1959), welches die Vorlage für den berühmten Film von Alfred Hitchcock war, aber auch für die seltsame Familie in Tobe Hoopers Horrorfilm THE TEXAS CHAINSAW MASSACRE (1974) und für Buffalo Bill, jenen Serienmörder, den die junge Clarence Starling in Thomas Harris´ Roman DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER (1988) mit Hilfe des Kannibalen Hannibal Lecter fangen soll. Auch aus diesem Buch destillierte der Regisseur Jonathan Demme einen überaus erfolgreichen Film. All diese Werke erzählen auf mal seriösere, mal eher unappetitliche Weise aber auch etwas über die Verfasstheit Amerikas und seiner Gesellschaft.

So schreibt sich Stewart O´Nan in eine fortlaufende Chronik des Wahns ein, zeigt Kontinuitäten auf, verdeutlicht einige diesem Land, seiner Gesellschaft, seiner Verfasstheit zugrundeliegende Konstanten. Die Härte, die Religiosität, die Gewalt als steter Begleiter des Lebens, nicht zuletzt der Bürgerkrieg und die fürchterlichen Verwerfungen, die er nicht nur in der Gesellschaft, sondern in jedem einzelnen hinterließ – all das ist in O´Nans Roman spürbar, fast schon erfahrbar, wozu die Form eines ununterbrochenen Selbstgesprächs, die er wählt, maßgeblich beiträgt. O´Nan schreibt sich und seine Protagonisten auch in eine größere, weiter gefasste Geschichte ein, in einen kollektiven Wahnsinn, der diese Gesellschaft immer wieder zu erfassen scheint. DAS GLÜCK DER ANDEREN erzählt also in der Fiktion vom „ganz normalen Wahnsinn“, der Amerika – leider – oft ausmacht.

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