DAS REICH UND DIE HERRLICHKEIT/THE CLAIM
Eine Tragödie im kalten, verschneiten Westen des Jahres 1867
Die Sierra Nevada, Kalifornien, 1867. Der Bautruppführer und Landvermesser Donald Dalglish (Wes Bentley) kommt in das Städtchen Kingdom Come. Hier regiert mit ebenso eiserner Hand wie großzügiger Geste Daniel Dillon (Peter Mullan), dem die örtliche Goldmine gehört und der die gesamte Stadt mit seinem Reichtum aufgebaut hat. Er erwartet die Eisenbahn dringend, damit Kingdom Come eine wichtige Stadt werden und prosperieren kann. So kommt es beim ersten Zusammentreffen der beiden Männer nicht nur zu einer Machtdemonstration Dillons, sondern auch zu einem Bestechungsversuch seinerseits gegenüber Dalglish. Der lehnt jedoch ab. Im Saloon, in dem das Treffen stattfindet, wird Dalglish auch Zeuge, wie die Bardame Lucia (Mila Jovovich), gebürtige Portugiesin, einen tieftraurigen Fado singt.
Mit Dalglish ist auch weiblicher Nachschub für das Bordell in Kingdom Come angekommen, das bei Lucia Unterkunft findet und hier die Herren des Bautrupps ebenso bedient, wie die Männer der Stadt. Lucia ihrerseits ist mit Dillon liiert, der gut zwanzig Jahe älter ist als sie. Vergleichsweise unbemerkt war die Ankunft zweier Frauen, die im Hotel vor Ort Logis nehmen. Elena (Nastassja Kinski) und ihre Tochter Hope (Sarah Polley) Burn drängen in die für Dillon sich so positiv gestaltende Gegenwart als düsteres Zeichen seiner Vergangenheit, ja, in gewissem Sinne sind sie die Nemesis für Kingdom Come.
Bald zwanzig Jahre zuvor verkaufte der damalige Trinker Daniel Dillon Frau und Tochter an Mr. Burn (Tom McCamus) für die Schürfrechte an eben der Mine, die Dillons Reichtum und damit den Aufbau der Stadt begründete. Dillons Reichtum beruht auf einem Ur-Verbrechen, das ihn verfolgt, das er verdrängt, von dem er sich eingeredet hatte, es sei durch seine späteren Taten Dutzendfach gesühnt. Nun muß er sich dieser Vergangenheit, seiner Schuld, stellen.
Es kommt zu verschiedenen Begegnungen zwischen Dalglish und Hope, deren Mutter an Tuberkulose zu sterben droht. Hope selbst ahnt nicht, daß Dillon ihr Vater sei, für sie ist er ein Onkel, vielleicht auch nur ein guter Freund ihres „verstorbenen“ Vaters. Dalglish nimmt Hope mit auf einen Ausflug, auf dem sie Zeuge von Sprengungen in den Bergen werden. Er erzählt Hope von den Visionen der Moderne, von die Nation vereinenden Schienennetzen, von Schulen und Gerichten und von einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Sie hört ihm gern zu. Hope begegnet auch Lucia, die sie abends im Saloon bei einem Lied am Klavier begleitet, wo Dillon allerdings auch für Ruhe sorgt, damit die Männer zuhören, während sie ein Gedicht vorträgt. Lucia versteht das Verhältnis von Dillon und Hope nicht, in ihrer Eifersucht versucht sie, Dalglish zu verführen.
Es kommt zu einer Begegnung zwischen Elena und Dillon. Sie erklärt ihm ihre Lage und er versucht, sich für sein Verhalten zu entschuldigen, bzw. zu rechtfertigen, doch gesteht er seine Schuld auch ein. Er will sie erneut heiraten und will ihr ihre Lage so gut es geht erleichtern. Das einzige, worum er sie bitte, sei das Versprechen, Hope niemals zu erzählen, was er einst getan habe. Er trennt sich von Lucia auf drastische Weise, allerdings nicht, ohne ihr einige Barren aus seinem Goldlager zukommen und die Rechte am Saloon überschreiben zu lassen. Um Elena seine Liebe zu beweisen, lässt er eine viktorianisch anmutende Villa auf einen kleinen Hügel ziehen, von wo sie majestätisch das Tal und die Stadt überblickt. Der König legt der Königin sein Reich zu Füßen, so mutet es an.
Obwohl es zwischen dem Sprengmeister Bellanger (Julian Richings) und der Prostituierten Annie (Shirley Henderson) und vor allem Dalglish und Hope zu echten Annäherungen kommt, brechen die Männer des Trupps auf in die Berge, sie wollen sehen, ob es trotz unwegsamen Geländes eine Möglichkeit gibt, einen Weg für die Bahn freizusprengen. Es kommt zu einem Unfall, bei dem einer der Männer zerrissen wird. Ein brennendes Pferd verschwindet in einem Gebirgsbach und dann dem Hang des verschneiten Berges hinauf. In einer Besprechung zwischen Dalglish und Bellanger beschließen sie, die Bahn nicht durch Kingdom Come zu führen, zu aufwendig sei das Unterfangen. Doch wolle man die Entscheidung zunächst für sich behalten.
Zurück in Kongdom Come, sind alle Bewohner bis auf Lucia bei der Feier zu Dillons und Elenas Hochzeit. Auf dem Fest finden sich Paare wie Bellanger und Annie, die sich zueinander bekennen, aber auch Dalglish und Hope kommen sich erneut näher. Dillon und Elena wirken beide überzeugend glücklich. Nur Lucia holt sich erneut einen Korb bei Dalglish, als sie versucht, ihn zu verführen. Am kommenden Tag besteht Dalglish darauf, daß das Eisenbahnerteam seine Rechnungen selber bezahlt. Dillon begreift, was das bedeutet und droht Dalglish. Der holt sich bei einem namen- und emotionslosen Vorgesetzten, der bei der Bahnlinie in einem Waggon residiert, Prokura, was die Mittel der Wahl angeht. Er fordert, die Stadt habe umzuziehen.
Während Elenas Kräfte mehr und mehr schwinden, kommt es zwischen Dillon und den Eisenbahnern zu einer folgenschweren Konfrontation. Die Bahner haben sich für den Aufbruch gerüstet, ein Lager vor der Stadt aufgeschlagen und sich ihre Waffen, die sie beim Einzug in die Stadt abgegeben hatten, aushändigen lassen. Sweetley (Sean McGinley), Dillons rechte Hand, lässt auch an seine Männer Waffen austeilen und so marschiert ein wilder Haufen zum Lager vor der Stadt. Doch Dalglish, sich seiner Handlungsfreiheit voll bewusst, erschießt in einer Blitzaktion Sweetley und verkündet, daß die Bahn nicht durch Kingdom Come führen wird. Man zöge nun ab. Dillon verlangt, am kommenden Morgen hätte man fort zu sein. Gebrochen zieht er sich in die Stadt zurück.
Die Prostituierten richten ein Abschiedsfest aus, am Morgen taucht Dillon, der eine weitere Nacht bei der sterbenden Elena gewacht hat, mit vier Männern beim Zelt der Bahner auf und erschießt zwei der schlafenden Wachen. Dann zwingt er Bellanger, der gerade von Annie zu überreden versucht wurde, in Kingdom Come zu bleiben, ihm zu sagen, wo Dalglish sei. Der ist bei Lucia und teilt das Bett mit ihr. Er hatte ihr empfohlen, dem Bautrupp zu folgen und sich in der Stadt niederzulassen, die an der Strecke entstehen würde. Ebenso bietet er dies auch allen anderen an, die folgen wollten. Wovon die Prostiituierten Gebrauch machen, waren sie doch eben erst angekommen und verbinden wenig mit der Stadt. Dillon stellt also Dalglish, doch anstatt ihn zu töten, muß er sich von Lucia, die durch Zufall über die Verbindung zwischen Elena, Hope und Dillon Bescheid weiß, seine Verfehlungen hinsichtlich Frau und Tochter entgegenschreien lassen. Er schießt auf einen Spiegel, senkt die Waffe und geht.
Elena stirbt schließlich und Dillon reitet in die neu entstehende Stadt an der Bahnlinie, um den Pfarrer für die Beisetzung zu holen. Er begegnet Lucia wieder, die verspricht, zur Beerdigung zu kommen. Nach derselben bringt Dillon Hope in die Berghütte, die einst seinen Reichtum besiegelte, wo er in einer stürmischen und trunkenen Nacht Elena und Hope verkaufte und in der auch das erste Wiedersehen mit der Mutter seiner Tochter stattgefunden hatte. Nun offenbart er Hope die Geheimnisse. Sie stürzt im Schneetreiben weinend davon. Er bleibt verzweifelt zurück.
Während am kommenden Morgen in der neuen Stadt Lisboa die Kirche durch Honoratioren der Eisenbahn eingeweiht wird, reitet Dalglish mit dem Pfarrer zurück von der Beerdigung Elenas. Annie und Bellanger wollen heiraten und sollen getraut werden. Unterwegs treffen sie Hope und sie begleitet sie. Nach der Trauung wird einen große Rauchwolke bemerkt, die sich hinter den Bergen, Richtung Kingdom Come, erhebt. Dillon, in seiner Verzweiflung, nicht nur sein Lebenswerk, sondern auch Frau und letztlich auch sein Kind verloren zu haben, hatte am Vorabend in einem Akt der Autodestruktion die Stadt angezündet.
Trotz aller Rettungsversuche, die Stadt ist verloren. Dillons Leichnam wird im Schnee entdeckt, wo er, erfroren, den Rosenkranz zwischen den kalten Fingern, gestorben ist. Lucia bricht verzwifelt über seinem Leichnam zusammen. Hope und Dalglish reiten langsam Richtung Lisboa davon, als der Ruf „Gold!“ erschallt. Einer der Männer hat Dillons Reserven gefunden…
Unter den Neowestern des neuen Jahrtausends gibt es einige, die die Grenzen des Genres aufzuweichen versuchten, andere, die sie zu sprengen drohten. Ron Howards THE MISSING (2003) spielt gar mit Ideen des Spirituellen und Übersinnlichen und findet eine übertriebene Entsprechung in BLUEBERRY (2004), Jan Kounens fast psychedelisch anmutender Verfilmung des gleichnamigen Western-Comics. Andere, wie James Mangolds 3:10 TO YUMA (2007), das Remake eines Klassikers aus den 1950er Jahren, entpuppten sich als nahezu epigonenhaft an die Regeln des Genres sich haltend, alte Haudegen wie Kevin Costner und Robert Duvall gönnten sich mit OPEN RANGE (2003) einen echten Cowboyfilm, ehrten das Genre und fügten ihm doch eine gehörige Portion Realismus hinzu.
Der Brite Michael Winterbottom nahm das Genre dann seinerseits so ernst, daß er sein tragisches Potential nutzte, um eine Geschichte von Thomas Hardy zu verfilmen. THE MAYOR OF CASTERBRIDGE von 1886 bietet eine kraftvolle Vorlage zu THE CLAIM (2000), in der die Tragödie um den seine Frau verkaufenden Mann, einen Trinker, voll angelegt ist, die aber – und das dürfte bei Winterbottoms Interpretation des Stoffes durchaus wesentlich für den Regisseur gewesen sein – ein Gesellschaftsbild zeichnet, wie die Auswirkungen kapitalistischer, damals vor allem industrieller, Ausbreitung das Leben noch in den ländlichsten und gemütlichsten – in Winterbottoms Fall den entlegensten und wildesten – Ecken der Welt beeinflussen. Der Regisseur modifiziert die Geschichte so, daß sie perfekt auf die Bedingungen seines Settings passen. Ist es in der Vorlage Farfraes moralisch überlegene Geschäftsführung, die klüger, ruhiger und letztendlich zielführend ist, während Henchard immer größere Risiken eingeht und somit im Kern eine Frage wirtschaftlichen Verstandes, wird eine Figur wie Dalglish zum Träger der Moderne, die sich zunächst technisch ankündigt (Eisenbahn), doch von allem Anfang an das kapitalistische Moment mit sich bringt und explizit vertritt und verteidigt.
Winterbottom will eine Aussage über das Entstehen einer modernen Gesellschaft westlicher Prägung treffen und zugleich eine Familientragödie erzählen, die aber im Kern von genau dem Denken ausgelöst wird, das auch der Ausbreitung der Industrialisierung und des Kapitalismus zugrundeliegt: Totale Ökonomisierung. Liebe, Freude, Sexualität – alles unterliegt einer eiskalten Berechenbarkeit. Letzterer Punkt wird von Winterbottom auch in der Entscheidung verdeutlicht, aus der sozial gefallenen Lucetta, die sich aber ihre Integrität bewahrt hat, die Puffmutter Lucia zu machen, die von Milla Jovovich in einer aufregenden Mischung aus höherer Tochter, luzidem Weib und einer Kindfrau gespielt wird. Da bis zur Ankunft von Elena und Hope Burns die einzigen Frauen in Kingdom Come Prostituierte sind, ihre Profession im Kontext des Films allerdings nie angezweifelt oder gar in Frage gestellt wird, liegt auf dem sexuellen Geschlechterpakt dieser Gesellschaft von allem Anfang an ein ökonomischer Schatten. Zugleich zeigt Winterbottom „Huren mit Herz“, ohne den Dreck, die Gewalt, die Anstrengung zu verheimlichen, in der subtextuellen Ebene nutzt er sie funktional, eröffnet es doch die Möglichkeit, selbstbewusste und sogar ökonomisch selbstbestimmte, gar unabhängige Frauen zu zeigen, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Ein wesentlicher Aspekt, der sich mit der Tragödie um Hope und Elena Burn kurzschließt.
Daran, daß Kingdom Come einer kapitalistisch geprägten Diktatur, einem Königreich entspricht, lässt der Film keinen Zweifel. Dillon gibt Dalglish deutlich zu verstehen, wie wichtig die Entscheidung, die Eisenbahn durch Kingdom Come zu bauen, für die Entwicklung, die Prosperität des Ortes ist. Das Fanal, sein „Reich“ in Brand zu stecken, das im Kontext der tragischen und dramatischen Ereignisse natürlich Ausdruck seines Schmerzes ist, ist zugleich aber auch in einem ökonomischen Kontext folgerichtig: Kingdom Come ist schon seit dem „Auszug der Huren“ keine Stadt mehr, eine Stadt nur aus Männern ist ein Camp. Kingdom Come ist nur noch eine Ansammlung von nett anzuschauenden Bretterhütten, nachdem die Entscheidung gefallen ist, die Bahngleise ca. 15 Meilen entfernt durch ein Tal zu legen – eine scheinbar unendliche Strecke, 1867 in der Sierra Nevada. Winterbottom leistet sich einen bösen Scherz am Ende des Films, der auf Dillons Kosten geht, wenn am Tag nach dem Finale plötzlich eine Stimme durch den Canyon gellt und „GOLD!“ verkündet.Auch wenn es nur Dillons Golddepot betrifft, klingt darin natürlich auch die Erinnerung an die diversen kalifornischen Goldräusche mit an, die so manche abgelegene Gegend wie eine Plage ereilten und zerrüttet hinterließen. Gold als Symbol des Kapitals in seiner reinen Form. Gold, Geld, Macht. Und doch hat es in Dillons Fall offensichtlich nicht geholfen, die Gespenster der Vergangenheit zu bändigen.
Dalglish, der zu Beginn des Films wie ein freundlicher, aufgeschlossener, das Neue bringender junger Mann wirkt, der schon die sich am zeitlichen Horizont andeutenden Moderne in sich trägt, entpuppt sich – dramatisch kaum hervorgehoben – als knallharter Vertreter der Interessen seines Herren, den niemand an die ökonomischen Vorteile von Bahngleisen in einer Stadt zu erinnern braucht. Dalglish bringt sowohl ganz konkret wie im übertragenen Sinne, den Tod mit sich. Er ist ein Technokrat der neuen Zeit. Er hat Prokura, er darf sich mit den Mitteln durchsetzen, die hier, an der ‚frontier‘, auch und gerade durch Männer wie Dillon etabliert wurden. Er wendet Gewalt an, da seine Vorgesetzten, eine namenlose und auch vergleichsweise gesichtslose Company, weder Zeit noch Geduld haben, auf die Bedürfnisse jedes Provinz-Patriarchen einzugehen. Zugleich bringt er aber den technischen Tod – und abeer auch das prosperierende Leben – , indem er entscheidet, wo die Gleise entlangführen werden. Von Dalglishs Entscheidungen hängen Wohl und Wehe ganzer Dörfer und Kleinstädte ab.
Wenn sich Dalglish im ersten Finale, das Dillon zweifelsohne einläutet, indem er die Eisenbahner nach dem Abschiedsfest der Prostituierten am Morgen angreift, als genauso skrupellos und brutal erweist, wie zuvor die Männer aus Kingdom Come, dann zeigt sich auch an ihm die Verrohung, die an der ‚frontier‘ herrschte, jener imaginären Grenze, die sich mit jedem Meter, den die Pioniere vorankamen, den sich die Eisenbahn tiefer ins Land fraß, verschob. Er bleibt interessant und attraktiv für Hope, die erkennt, daß sie nun Vater und Mutter verloren hat und allein in der Welt steht. Und vielleicht liegt in Delglishs (vermeintlicher?) Jugend auch noch genügend Potential, in sich den zivilisierten Gentleman noch zu entdecken; oder wiederzuentdecken. Es bleibt uneindeutig. Doch bezieht der Film eindeutig in anderer Hinsicht Position und erfüllt damit auf eine hintergründige und moderne Art und Weise einen Grundtopos des Genres: Es sind sowohl in Hope und ihrer sterbenskranken Mutter, als auch in Lucia und ihren Damen, nur Frauen als Menschen mit Mitgefühl und Empathie gezeichnet. Dillon beweist mit der Kaltblütigkeit, mit der er Lucia abzufertigen bereit ist, sobald Elena und Hope auf der Bildfläche auftauchen, daß sich an seinem Muster nichts geändert hat, daß seine Fürsorge der von ihm einst verkauften Frau und seiner Tochter gegenüber einem sentimentalen Gefühl entspringt, seiner Hilflosigkeit gegenüber Elenas stillem Vergehen, keiner Veränderung seines Charakters. Menschen bleiben für ihn Gebrauchsgegenstände, die auszuwechseln ihm nach Belieben zusteht. Delglishs Truppe wirkt in ihrer Aufmachung genau so zerzaust, wild und verwahrlost, wie die Männer in Kingdom Come und Winterbottom versteht es meisterlich, die Szenen in den matschigen, verschneiten Wegen zwischen den Bretterbuden so zu inszenieren, daß der Zuschauer nicht unterscheiden kann, mit wessen Leuten er es eigentlich gerade zu tun hat. Es wird auch zu Winterbottoms inszenatorischer Strategie gehört haben, daß Francis Ballenger der einzige Mann in diesem Reigen ist, dessen Gefühle nicht enigmatisch verborgen aus kleinsten Anzeichen herauszulesen sind, wie dies bei Dillon und Delglish im Grunde der Fall ist, sondern der offen und ehrlich zu seiner Liebe zu Annie steht; zugleich wird dieser Mann in der Gestalt von Francis Richings phänotypisch von einem Schauspieler dargestellt, der in jedem Italowestern jedem Bösewicht an der Seite Klaus Kinskis Ehre gemacht hätte.
Es ist eine Männergesellschaft, draußen, im Westen, in der Wildnis, an der ‚frontier‘. Und sie muß, damit schließlich – Delglish erzählt es Hope eines Abends – Schulen, Gerichte, Ämter und die Post eine grundlegende Gesellschaft bildeten, befriedet werden. Im klassischen Western sind es die Frauen, oft Lehrerinnen, die für genau diese Zivilisierung – im Western der 50er Jahre kann man getrost von „Domestizierung“ sprechen – symbolisch stehen. Erst wenn die Frauen – und damit sind eben „ehrbare“ Frauen im Western gemeint, keine Prostituierten – in dieser Gesellschaft zuhause sind und in Frieden leben können, wird aus einem losen Verbund einzelner Flecken ein Staat, eine Gesellschaft. Doch anders als der Western der 50er Jahre, der mit der allegorischen Domestizierung des Helden, der sich zuvor austoben durfte und selten für sein Verhalten in die Schranken verwiesen wurde, auch ein konservativ-reaktionäres Familienbild transportierte, in dem die zivilisierende Eigenschaft der Frau wie selbstverständlich mit (ver)sorgenden Eigenschaften einherging, bettet Wintterbottom, bzw. Drehbuchautor Boyce, seine Frauenfiguren in einen viel moderneren Diskurs. Vielleicht ist Winterbottom sogar ein feministischer Film gelungen. Denn er greift zwar auf klassisch der weiblichen Sphäre zugeordnete Topoi, wie der Fähigkeit zu leiden, zurück, zeichnet aber sowohl Lucia, als auch Elena und Hope als Frauen, die es kaum noch nötig haben, ihrer Umwelt etwas zu beweisen, haben sie doch alle ihre Geschichte, haben die Härten des Lebens auf mehr als eine Art zu spüren bekommen, sind darüber aber nicht verhärmt und auch nicht verbittert. Das unterscheidet sie grundlegend von den (allermeisten) Männern des Films. Diese Frauen empfinden Schmerz, Not und Pein und finden reife und erwachsene Wege, damit umzugehen und sie auszudrücken. Dillons letzte Tat, der schier wagnerianische Abgang in den brennenden Kulissen seines Reiches – es ist eine typisch männliche Reaktion, das eigene Leid überlebensgroß zu stilisieren – Exzess und Ekstase, um die Konfrontation mit den eigenen Fehlern, den eigenen Versäumnissen und schließlich dem eigenen Scheitern ertragen zu können.
Peter Mullans Darstellung wurde gelegentlich kritisiert, er sei erratisch, man wisse nie, was wirklich in Dillon vorginge, er sei zwar interpretierbar, aber nicht analysierbar. Man mag das so sehen, man könnte Mullans Darstellung aber auch einfach als die eines Mannes interpretieren, der sich innerlich völlig verhärtet hat, dessen Innerstes keinen Weg mehr findet in ein Außen, daß diese Erkaltung perfekt spiegelt in den winterlich eisigen Hängen der Umgebung Calgarys, die Winterbottom und Kameramann Alwin Küchler als Sierra Nevada, Kalifornien, dienen mussten. Auffällig ist, das die Leistungen von Mila Jovovich, Sarah Polleys und auch Nastassja Kinskis gegenüber denen von Mullan und auch Wes Bentleys hervorstechen, allerdings sind hier die Frauenrollen ausnahmsweise auch einmal interessanter als die männlichen. Auch darin deutet sich die „feministische“ Haltung des Films an – den Männerrollen in diesem Setting ist nicht mehr allzu viel hinzuzufügen. Ohne den vielgescholtenen Begriff „auserzählt“ strapazieren zu wollen, wird man kaum mehr Facetten finden, die nicht bereits über diese Männer und ihre Antipoden, ihre Metamorphosen, ihre Degenerationen erzählt worden wären.
Und doch gelingt WInterbottom das große Drama, das Hardy ihm in der Vorlage liefert. Gegen den Strich gebürstet gelingt es ihm sogar, es anders zu erzählen, es so anzulegen, daß zwar ein gewisser Fatalismus der Geschehnisse zu spüren ist, doch deutlich wird, wie die Schicksale dieser Menschen ineinander verwoben sind, wie sie durch Schuld, tiefe, nicht mehr umkehrbare Schuld, ineinander verschlungen sind unentwirrbar geworden sind. Und am Grund dieser Schuld liegen lang zurückliegende Entscheidungen, die getroffen wurden. Anders als Hardys Vorlage, unterdrückt Winterbottom die Trinkerei als Erklärung für Dillons grausame Tat, Frau und Kind zu verkaufen, zwar nicht unbedingt, doch stellen Mullans Spiel, Winterbottoms Inszenierung und Küchlers Kameraarbeit sie auf der Bildebene zurück zugunsten der Darstellung der tieferen Beweggründe eines Mannes, der der eigenen Hybris erlegen ist. Winterbottom scheut die großen Bilder nicht und es gelingen ihm dann auch einige, die sich dem cineastischen Gedächtnis tief einbrennen. Einem Fitzcarraldo des verschneiten Westens gleich, das Schiff eingetauscht gegen ein Haus, lässt sich Dillon hoch auf einem extra für seine sterbende Frau gebauten Haus thronend von seinen Männern durch die Landschaft ziehen. Ein perfektes Symbol diese gesamte Sequenz für die Hybris, in welche dieser Mensch sich hineingesteigert hat, seine Mittel die der Überwältigung, optische Reize, das Haus ein erhabenes Schiff des Westens. Dillons Version des Westens. Die Version eines Patriarchen.
Erhaben sind viele Bildmomente in THE CLAIM. Es ist einer der seltenen Schnee-Western. Und so werden wir einer Lawine ansichtig, deren Abgang uns in ihrer Ruhe und dem dannn aufbrüllenden Dröhnen viel von der Macht dieses Landes und davon berichtet, wie klein wir sind. Es gibt berühmte Vorbilder, Anthony Manns THE FAR COUNTRY (1954), Sergio Corbuccis IL GRANDE SILENZIO (1968) oder Robert Altmans Anti-Western MCCABE & MRS. MILLER (1971), doch sind es eigentlich Prärien, manchmal Wüsten, oft Berge, die dem Western eine Kulisse bieten, Schnee ist meist nur ein Moment, der das Vergehen der Zeiten andeuten soll. Wie in den genannten Werken, die nicht von ungefähr Vertreter des späten klassischen Hollywood-Western, vor allem aber des Italo- und des Spät-Western sind, wird die tiefverschneite winterliche Landschaft hier aber genutzt, um eine Gesellschaft in Erstarrung, vielleicht am Endpunkt zu zeigen. Oder zumindest ein Teil der Gesellschaft, vielleicht ein Teil der Gesellschaft, der in einer Sackgasse angelangt ist, was sicherlich für Dillon gilt, spätestens, nachdem Dalglish ihm eröffnet, daß die Eisenbahn nicht durch Kingdom Come führen wird. Lucia und ihre Damen begreifen die Lage und machen sich einfach auf den Weg, der Zivilisation hinterher. Und auch Hope verlässt den Ort des großen Sterbens. Dillons Dasein kommt hier zu einem Ende, und es ist folgerichtig, im Kontext des Films. Die brennende Stadt im Schnee, durch die Dillons Gestalt wankt – das Feuer als Fanal, es sind großartige Leinwandmomente, die Winterbottom und Küchler hier schaffen.
Und schließlich – das vielleicht eindringlichste Bild dieses Films – gibt es da das brennende Pferd, das wiehernd, mir Feuer bedeckt dem Ort des Grauens entflieht, nachdem der Wagen, den es mitgezogen hatte, in die Luft geflogen ist. Das fürchterliche Schreckensbild eines zerrissenen Mannes und dann umgehend die Poesie des Schreckens, wenn das entflammte Tier sich in der Weite eines schneebedeckten Hanges verliert – und Delglishs fast entrückter Blick, der ihm folgt. Kurz, für einen sehr kurzen Moment, streift Winterbottoms Film eine Ebene des Mystizismus, der dem Western selten bekommt – wofür unter vielen Liebhabern ebenfalls der schon erwähnte BLUEBERRY beredt (oder eben weniger beredt) Zeugnis ablegt. Es ist aber auch nicht Winterbottoms Intention, es ist ein Moment, den er sich gönnt, den er uns, den Zuschauern gönnt, und vor allem ist es ein Moment, den er der Filmgeschichte gönnt. Denn so weit THE CLAIM sich vom klassischen Western entfernt haben mag, wenig Zweifel bleiben, daß sich Buch und Regie ihres Metiers sehr sicher und bewusst sind. Es sind klassische Westerneinstellungen, die Küchler wählt, das Buch wählt teils deutliche Verweise vor allem auf den Spät-Western, wie gerade im Setting und der Detailversessenheit in der Mise en Scène, die auch an einen Werke wie Michael Ciminos HEAVEN`S GATE (1980) erinnert. Die Musik scheut sich nicht, Elena ein Thema zuzuordnen, das momentweise bewußt an jenes erinnert, das Claudia Cardinales Jill in C´ERA UNA VOLTA IL WEST (1968) charakterisiert. Allerdings erlaubt sich Michael Nyman bei weitem nicht Morricones abgrundtiefe wie himmelhochjauchzende Melancholie, vielmehr hält er sich wie der ganze Film eher zurück, bleibt verhalten und ertastet Elena als Person vorsichtig. Sie ist ein sterbendes, zerbrechliches Wesen und „ihr“ Thema spiegelt diese Zerbrechlichkeit perfekt. Generell ist C`ERA UNA VOLTA IL WEST eine der Referenzgrößen des Films. Die Eisenbahn, die stampfend auf den Schienen steht, während direkt vor ihr die nächsten Gleise verlegt werden, evoziert im cineastisch, besonders im vom Western, geprägten Hirn sofort die Bahn in Leones Klassiker. Einzelne Motive, wie der zerschossene Spiegel, verweisen auf direkte Vorbilder wie Peckinpahs PAT GARRETT AND BILLY THE KID (1973).
Die Frage, ob THE CLAIM ein Western ist oder nicht, kann also eindeutig beantwortet werden: Ja, es ist ein Western. Winterbottoms Vorlage – klassisches 19. Jahrhundert – bietet ein wirkliches Drama, das tragische Züge annimmt, und dennoch genaue psychologische Beobachtung der Figuren und ihrer Handlungen unter den Bedingungen ihres Lebens bietet, gemeinhin Zutaten, die dem Western gut bekommen, besser, als wenn er als Vehikel für Gesellschaftskritik oder reine Psychodramen dienen muß. Sicher spricht Winterbottoms Stil, dem wenig Humor eignet und der sich einer gewissen, ebenfalls der Landschaft und dem Winter entsprechenden, Bedachtsamkeit bedient, die man durchaus als langsam betrachten kann, nicht jeden Westernfreund gleichermaßen an. Wer auf eher actionreiche Western steht, wie Mangold mit 3:10 TO YUMA einen bietet, wird hier sicher nicht auf seine Kosten kommen, doch wer einen Film wie Ciminos HEAVEN´S GATE zu schätzen, Jim Jarmuschs schwarzweißer Re-Mythisierung DEAD MAN (1995) etwas abzugewinnen oder die schwelgerischen Landschaftsaufnahmen in OPEN RANGE zu würdigen weiß, wird auch in THE CLAIM auf seine Kosten kommen.