LEICHEN PFLASTERN SEINEN WEG/IL GRANDE SILENZIO

Rache und Klassenkampf - ein 68er-Manifest

Im Berggebiet Utahs macht ein harter Winter in den Jahren 1897/98 das Leben der armen Siedler unmöglich. Es ist kaum Essbares vorhanden und so greifen sie einzelne Wagenladungen mit Proviant ab. Der Gouverneur erklärt die vermeintlichen Wegelagerer zu Kriminellen und so finden sich in der Stadt Snow Hill immer mehr Kopfgeldjäger ein, die die Vogelfreien töten und dafür mal größere, mal kleinere Belohnungen einstreichen. Loco (Klaus Kinski) ist einer davon. Ihn zeichnet besondere Hinterlist und Skrupellosigkeit aus. Eng arbeitet er mit dem Händler Pollicut zusammen, der als Friedensrichter der Gegend auch die Prämiensummen verwaltet und auszahlt. Nachdem Loco und seine Männer den jungen Ehemann von Pauline getötet haben, versucht sie, Silence anzumieten, der wiederum Loco töten soll. Silence ist ein legendäre Gestalt in der Gegend, zieht er doch seit Jahren umher und tötet seinerseits die Kopfgeldjäger. Mal für Geld, meist aus Leidenschaft. Er wurde als Kind Zeuge ihrer Arbeit und sein Schweigen ist umittelbar mit dem Schicksal Pollicuts verbunden. Silence, um selbst nicht unter Kriminalitätsverdacht zu geraten – er verläßt sich bei seinen Tötungen einerseits auf sein Geschick, er zieht enorm schnell, andererseits auf seine automatische Pistole, die es ihm ermöglicht, schneller, ohne Durchladen abdrücken zu können – provoziert seine Opfer, bis diese den Revolver ziehen. So kann er immer aus „Notwehr“ handeln. Loco jedoch kennt diesen Trick und läßt sich nicht provozieren. Er weiß, daß das Gesetz hinter ihm steht, er tut nominell nichts Unrechtes. Doch der Gouverneur hat von den massenhaften Tötungen gehört und erwägt eine Amnestie. Dazu schickt er Sheriff Burnett nach Snow Hill. Er soll die Ordnung wieder herstellen. Sein Eintreffen bringt Bewegung in die statischen Verhältnisse vor Ort. Der Sheriff, Loco und Silence treiben zu einem tödlichen Showdown aufeinander zu…

1968. In Prag rollen russische Panzer, in Paris werden Barrikaden gebaut, in Chicago Studenten verprügelt, in Bonn fliegen Steine. Aufruhr, Rebellion…Revolution? Die Doors und die Stones liefern den Soundtrack. Und Sergio Corbucci den entsprechenden Film: IL GRANDE SILENZIO. Corbucci mag keine Western, dreht aber eben einen solchen, um seine Message an den Mann zu bringen, da kann man ihn einen Opportunisten nennen (ein paar Lire wird es ihm zudem eingebracht haben). Aber er erzählt dafür gnadenlos direkt und brutal seine Version einen spezifischen katholischen Klassenkampfes, nämlich den einer Erlösung, einer messianischen Befreiung aus den Ketten des Kapitalismus. Ein Passionsspiel.

Vielleicht sollte man Corbuccis Klassiker eher mit einem von Pasolinis oder Francesco Rosis frühen, realistisch-analytischen Sozialdramen vergleichen? Allerdings, das muß erwähnt sein, funktioniert IL GRANDE SILENZIO als Western hervorragend. Corbucci, der immer wieder mal betont hat, Western zu verabscheuen, hat seine Hausaufgaben gemacht: den klassischen Hollywoodwestern nicht unähnlich, weiß er ökonomisch genau Dynamik, Ruhe, Höhepunkte zu setzen; die Story ist einfach und dennoch trägt sie die knapp über 100 Filmminuten, zudem ist sie allgemein genug, um metaphorischen, mythischen Charakter anzunehmen; das Personal ist stimmig, man erkennt es, so wie es im Western sein muß, Corbucci weiß eine jede Figur jedoch noch mit genug eigenem auszustatten, damit alle interessant bleiben; nicht zuletzt funktioniert die Geschichte sowohl auf der Ebene, wofür der Film dann ja bekannt wurde, also der politisch-ideologischen, aber ebenso funktioniert sie auf der für den Western so wichtigen persönlichen Ebene: es ist ein Rachedrama, wie bei Mann oder Boetticher.

Im vermeintlich vorrevolutionären Europa konnte man Standpunkte, wie Corbucci sie naiv darlegt, problemlos vertreten. Die Art und Weise, wie der Film das kapitalistische Element ausstellt, verdeutlicht, daß der Western dies eigentlich fast immer getan hat. Nur geht IL GRANDE SILENZIO den Schritt weiter, indem es nicht um ein gutes Gewehr, einen Schatz, eine Frau geht – also alles Dinge, die Männer in klassischen Western erobern und sich damit (etwas) verdienen – sondern direkt ums Leben. Beziehungsweise um das beendete Leben. Ein Nicht-Leben ist hier reines Geld wert. Ein Mehr(wert) existiert nicht. Loco führt ein kleines Büchlein, in dem er die Nummer einer jeden Leiche, die Identität selbiger und deren Standort einträgt. Er zückt einen kleinen Bleistift, um zu notieren. Und man erwartet, daß er gleich die Spitze anleckt. Daß Kinski es nicht tut in dieser Rolle, macht ihn für mich groß. Corbucci nimmt den Western auf dessen ureigenem, amerikanischem Terrain sehr ernst.

IL GRANDE SILENZIO musste sich, v.a. wegen des Erscheinungsjahrs, immer die Vergleiche mit Leones Meisterwerk C`ERA UNA VOLTA IL WEST (1968) gefallen lassen. Ein Vergleich, der hinkt. Leone liebte den Western und das merkt man in jeder Sekunde seines Films. Corbucci will etwas spezifisches Erzählen. Dazu nutzt er den Western, wissend, daß gerade das Subgenre des ‚Italowestern‘ boomt wie nie. Bestenfalls steht er seinem Genre indifferent gegenüber.

Man hat es hier mit etwas komplett anderem zu tun, als in Leones Großbreitlautleinwandfilm. IL GRANDE SILENZIO ist leise. Die Musik ist weitaus verhaltener, als die zu C`ERA UNA VOLTA IL WEST. Beides jedoch ist Ennio Morricone, er muß parallell daran gearbeitet haben. Zwar zucken auch hier die durchaus triumphalen Töne hervor, doch zu elegisch die Geschichte, zu elegisch die Bilder. Die Musik verweht. Ebenso die Bilder. IL GRANDE SILENZIO ist ein enger Film. Selbst wenn er in die extremen Weiten geht, die Schneelandschaften sich an den Berghängen ausbreiten, immer durchzieht diese Flächen die Spur eines Reiters oder einer Kutsche. Und so werden selbst diese Motive zu solchen der Enge, zu Rahmungen, zu erdrückendem Weiß: Hier kann sich niemand ausbreiten, auch nicht verstecken, hier ist nicht das gelobte Land, das einen jeden aufnimmt. Hier ist es kalt und unwirtlich, hier kann nur überleben, wer bereit ist zu töten und deshalb wird Töten zu einer institutionellen Angelegenheit. Aber das Gros der Szenen des Films nutzt gar nicht diese Landschaften. Meist spielen sich die einzelnen Szenen in den engen, dunklen Räumen der Siedlung ab. Äußerlich wirken die Häuser oft riesig, wodurch selbst in den Außenaufnahmen innerhalb der Stadt selten weite Bilder, Bilder mit Himmel entstehen, sondern ebenfalls wieder Beengung und Düsternis vorherrschen. Im Innern scheinen all diese Häuser jedoch kleine Räume mit niedrigen Decken zu haben. Die Bilder fransen oft in der Dunkelheit dieser spärlich beleuchteten Räume ins Dunkel der Ränder aus. Die gewählten Bidlausschnitte zeigen uns fast in Nahaufnahme Hinterköpfe, Rücken, im Rest des Frames steht uns jemand am anderen Ende des Raumes gegenüber. Daß der Film  kein Happy-End hat (und zudem, wenn man das alternative Ende – dank dieser DVD-Ausgabe ist es möglich – gesehen hat!), kein Happy-End haben kann, ist praktisch in jedem Moment klar. Diese Welt ist durch und durch materialistisch, hier existiert nur der reine Gewinn. Sie braucht eine Läuterung. Silence zeigt Züge eines Messias, eines Racheengels auch, der die Sünden reinwaschen zu können scheint. In dem Moment, in dem dies nicht mehr möglich ist, erhält er Züge eines Erlösers. Messiansische Überwindung eines verkommenen Systems.

Corbuccis Message ist heutzutage natürlich überholt. V.a. in ihrer Naivität. Die Logikbrüche der Handlung, die dann immer nur allegorisch zu verstehen sind, sind heute zu frappierend. So erfährt man eigentlich nie, für wen die Waren, die die Armen stehlen und verteilen, eigentlich gedacht sind. Man sieht nicht wirklich viel von der Stadt, außer dem korrupten Pollicut und den Mädchen im Saloon scheint niemand dort zu leben. Auch wird nicht klar, ob Silence sich für gewöhnlich bezahlen läßt. Er gibt Pauline auf deren Drängen schriftlich einen Preis an. 1000$ will er haben. Damit verlöre Silence natürlich sein messianisches Charisma. Corbucci inszeniert ihn – und will das auch so, folgt man den Zitaten in Hembus „Westernlexikon“ – klar als Erlöser. Diese Figur muß sterben, damit überhaupt noch Hoffnung entstehen kann. Daß es nach der Tötung von Silence noch zu einem Massaker kommen muß, um wirklich zynisch dieser katholischen Hoffnung abzuschwören, zeigt in der Rückschau vielleicht, daß Corbucci einen ganz guten Riecher hatte für das, was auch auf Italien zukam in den folgenden 10 Jahren. Nicht nur in Deutschland, auch in Italien haben Linksterroristen in den 70er Jahren getötet. Mag sein, daß Corbucci das gnadenlose Zerfallen der Linken am Ende der 60er Jahre (auch und gerade in Italien) sehr genau verfolgt hatte. Mag sein, daß er auch in diese Richtung ein Statement abgeben wollte. Die Härte, die sein Film hat, ist trotz ihrer scheinbaren Beiläufigkeit weitaus realistischer als beispielsweise Leones.

IL GRANDE SILENZIO wirkt heute ein wenig angestaubt. Und trotzdem bleibt es ein guter Western in seiner Direkt- und Einfachheit. Einer der wirklich besten Italowestern allemal.

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