DER LETZTE ZUG NACH SCHOTTLAND/THE SINGING SANDS

Josephine Teys letzter Roman führt Inspektor Grant in das Schottland seiner Kindheit

DER LETZTE ZUG NACH SCHOTTLAND (THE SINGING SANDS, original veröffentlicht 1952; Dt. hier in der Übertragung von Manfred Allié, 2023; vormals auch als DER SINGENDE SAND/1988 auf Deutsch erschienen), wurde seinerzeit aus dem Nachlass der Schriftstellerin Josephine Tey veröffentlicht und stellt damit den Abschluss ihres Werks dar. Die Autorin, die wahrscheinlich schon Ende 1950 wusste, dass sie an einer tödlichen Krankheit litt (Tey war extrem zurückhaltend, weshalb sie diese Kenntnis wahrscheinlich auch gegenüber Freunden, Bekannten und ihrer Familie für sich behielt) wird das Manuskript also im Bewusstsein ihres eigenen nahenden Endes verfasst haben. Val McDermid weist in dem hier beigefügten Nachwort darauf hin und führt eine gewisse Melancholie, die den Roman präge, auf eben diesen Fakt zurück.

Es ließe sich nun aber vortrefflich darüber streiten, ob es wirklich Melancholie ist, die dieses Werk prägt. Es stimmt schon – Alan Grant, der meist in Teys Kriminalromanen ermittelnde Inspector von Scotland Yard, denkt nicht nur über das Pensionsalter nach, sondern sogar über die Ehe, was der Leser, der ihn aus früheren Abenteuern kennt, kaum zu glauben vermag. Und natürlich mag man einer Meisterin wie Val McDermid auch ungern widersprechen, doch scheint es eher so, dass Teys Blick noch schärfer, noch genauer, auch gnadenloser gesellschaftliche wie individualpsychologische Eigenarten und Gegebenheiten seziert und ihr Stil scheint noch etwas an Schärfe, auch zynischer – zumindest sarkastischer – Schärfe zugenommen zu haben. Das wirkt nicht zwingend melancholisch. Teys Blick bspw. auf den schottischen Nationalismus – welch ein aktuelles Thema! – ist bitterböse und sehr entlarvend. Denn der wird hier geradezu bloßgestellt. Vielleicht ist es weniger der spezifisch schottische Nationalismus – die Schotten, die in diesem Roman vorkommen, und es sind nicht wenige, scheinen wenig davon angekränkelt, eher wirken sie indifferent, fast desinteressiert, bestenfalls amüsiert – sondern vielmehr Nationalismus als solcher, der hier entlarvend aus- und bloßgestellt wird. Denn der mehrfach auftretende Wee Archie, der wortgewaltig für den schottischen Alleingang wirbt, ist nicht nur ein Blender, sondern, wie sich an einer Stelle des Romans zeigt, nicht einmal ein reinrassiger Schotte. So desavouiert Tey nationalistische Anwandlungen als letzte Bastion jener, die aus sich selbst heraus keinen Halt, in sich kein Heim zu finden scheinen und deshalb auf etwas rekurrieren – die Geschichte, die Traditionen, die Nation! – das einerseits billig zu haben ist, andererseits niemals widersprechen und die Dinge richtigstellen kann. Billige Triumphe.

Doch ist es immerhin Archies Art, die Grant einen wesentlichen Hinweis gibt, der ihn stutzen lässt und schließlich auf die richtige Spur zur Lösung eines Falles gibt, der eigentlich nicht einmal ein Fall ist. Eine typische Konstellation für Tey: Grant, der eine Art Nervenzusammenbruch erlitten hat und unter einer Depression und klaustrophobischen Zuständen leidet, genehmigt sich eine ausgedehnte Auszeit und begibt sich auf das Landgut einer Jugendfreundin – eine entfernten Cousine, die er immer heimlich angehimmelt hat – irgendwo in den Highlands. Er scherzt mit Laura, eben jener Jugendfreundin, die einst seinen besten Freund Tommy geheiratet hat und in die Grant insgeheim immer noch ein wenig verliebt ist, er schwelgt mit ihr in alten Zeiten, geht mit ihrem Sohn Pat Angeln, er lässt die Seele baumeln und versucht, Abstand von seinem aufreibenden Londoner Alltag zu bekommen. Doch da er beim Verlassen des Nachtzugs nach Schottland Zeuge wurde, wie der Schaffner einen Gast zu wecken versucht und Grant selbst es war, der feststellte, dass der Mann tot ist, ist sein detektivischer Spürsinn schon wieder geweckt. Und als er eher durch Zufall entdeckt, dass er eine Zeitung aus dem Besitz des Toten – offiziell Opfer eines Unfalls in alkoholisiertem Zustand – an sich genommen hat, auf der der Mann ein offenbar von ihm verfasstes Gedicht niedergeschrieben hatte, streckt Grant schließlich seine Fühler aus.

Im ersten Teil des Romans schildert Tey ausgiebig Grants Urlaubspläne, seinen Gesundheitszustand, sein fast schon romantisches Zusammentreffen mit der Witwe Kentallen – immerhin eine Lady, die ihm ähnliches Interesse entgegenzubringen scheint, wie er ihr – und seine daraufhin erfolgenden Überlegungen zu Ehe und einem ruhigen Lebensabend. Wir begleiten den Inspektor bei seinen Angelausflügen mit dem jungen Pat und wohnen seinen Diskussionen mit Cousine Laura bei, die seinen gesundheitlichen Zustand durchschaut und ihm mit ihrer recht entspannten Haltung gerade gegenüber seinen psychischen Problemen sehr hilft. Wir machen mit Grant einem Ausflug auf die „Inseln“ – gemeint sind die Äußeren Hebriden – der allerdings schon im Zeichen seiner Ermittlungen steht und auch zu einem von Grants ebenso zufälligen wie unwillkommenen  Zusammentreffen mit eben jenem überzeugten Schotten Wee Archie führt. Der Leser folgt dem Inspektor auf seiner Landpartie, man kann diesen schottischen Frühling – noch ist es kühl und oft feucht, die Winde lassen den abziehenden Winter noch erahnen – geradezu erfühlen, man kann die Ruhe spüren, die Grant erfasst, wenn er die Leine ausgeworfen hat und darauf wartet, dass kein Fisch anbeißt.

Interessant ist Teys Umgang mit Grants Krankheit. McDermid weist auch darauf in ihrem Nachwort hin: Als der Roman geschrieben wurde, galten längst Typen wie Sam Spade, Philip Marlowe oder Lew Archer als Prototypen eines Detektivs oder Ermittlers. Harte Kerle. Grant ist genau das nicht. Er leidet unter seinen Anfällen, das schon. Doch leidet er nicht, weil sie seine Männlichkeit in Frage stellen – Grant wirkt nicht wie ein Mann, dem solches je in den Sinn käme – sondern weil sie ihn einschränken. Er sitzt in einem Auto und kriegt keine Luft mehr; allein der Gedanke an einen Flug – Stunden in einer engen Röhre, Tausende Meter über dem Boden – treibt ihm den Schweiß auf die Stirn. Er sieht seine professionellen Möglichkeiten eingeschränkt, darin besteht sein Leiden, das sind seine Befürchtungen. Lauras ebenso pragmatischer wie ehrlicher Umgang damit, ihr offenbar leicht fallendes Eingeständnis, selbst unter vielerlei Ängsten zu leiden und diese letztlich einfach zuzulassen und zu akzeptieren, helfen Grant enorm. Das macht ihn nicht nur für einen Romanhelden von 1952 ungewöhnlich. Er spricht nicht nur über seine Ängste – freilich nicht mit jedem, das ist klar, aber eher seinem Verhalten als Gentleman geschuldet, weniger trotzigem Machismo – sondern nimmt auch die Hilfe einer Frau an, wenn auch einer ihm seit Kindheitstagen nahestehenden und vertrauten.

Die Geschichte nimmt schließlich Fahrt auf, als ein junger Mann auftaucht, der Grant aufgrund eines von ihm aufgegebenen Zeitungsinserats aufsucht und etwas Licht in die Geheimnisse um den rätselhaften Toten, dessen Identität und Profession bringen kann. Die Handlung verlagert sich bald nach London – inklusive eines kurzen Abstechers nach Südfrankreich – und hier nun wird aus der anfänglichen Urlaubsbeschreibung endgültig der Kriminalroman, den der Leser recht eigentlich erwartet. Doch wer Tey kennt – auch in den Vorgängern ist es selten eine als solche angestrebte Ermittlung, meist wird Grant eher durch Zufälle des Lebens in seltsame Geschichten hineingezogen oder aber, wie im Meisterwerk ALIBI FÜR EINEN KÖNIG, muss er sich die Zeit vertreiben – weiß, dass man es bei Inspektor Grant selten mit Action zu tun bekommt, die Spannung sich auch meist nicht aus einem überaus verzwickten Whodunnit generiert, sondern eher aus den psychologischen und den hintergründigen Überlegungen des Helden. So ist es auch hier. Grant, der ein Talent für Gesichter und deren Spezifika besitzt und sich zudem mit Handschriften beschäftigt – ein leiser Hauch jener durchaus umstrittenen Wissenschaft namens ‚Graphologie‘ durchweht den Roman – analysiert jene poetischen Zeilen und die Art, in der sie auf die von ihm entwendete Zeitung geschrieben wurden, und müht sich, auf diese Weise den Geheimnissen des Toten auf die Spur zu kommen. Und schließlich ist es Archie Wee und dessen Eitelkeit und ihre Art, sich in seinem Antlitz und seinem Wesen auszudrücken, die Grant, als er die Bekanntschaft eines berühmten Abenteurers und Entdeckers macht, auf die letztlich richtige Fährte setzen.

Grant ist kein Hercule Poirot und auch kein Sherlock Holmes. Dafür ist er zu modern, zu sehr auch mit den Wassern der Wissenschaften des 20. Jahrhunderts gewaschen. Doch ist er eben auch keiner jener harten Hunde, die Raymond Chandler oder Dashiell Hammett entwarfen und die selten durch Logik, meist eher durch Gewalt oder ihre Art, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, bestechen und ihre Fälle so zwar meist nicht lösen, aber zumindest zu einem Abschluss bringen. Grant ist kein Genie und kein Dummkopf, er ist aber sehr wohl von seinem Beruf und dem, womit er dadurch konfrontiert wird, fasziniert. Und dies lässt Tey ihm hier auch durchgehen. Bei allen Überlegungen, ob es ihn vielleicht in den Ruhestand und möglicherweise sogar in den Stand der Ehe treiben könnte, ist es am Ende eben das Verbrechen, das seine ganze Aufmerksamkeit erfordert. Und er ruft sich am Ende des Romans geradezu zur Ordnung, seinen Platz im Leben und seine Berufung nicht falsch einzuschätzen. Interessant an seinen Überlegungen hinsichtlich des Ehelebens ist vor allem, dass dabei fast keine Rolle zu spielen scheint, wie Lady Kentallen die Sache sieht und Tey sie dann auch als ein fast ätherisches Geschöpf schildert, das einer Elfe gleich durch die schottischen Nachmittage treibt, erstaunlicherweise mit ähnlichen Hobbies ausgestattet wie Grant selbst – dem Angeln – und eindeutig als androgyn geschildert.

Das gibt Tey die Möglichkeit, Grant einen Hauch von Homosexualität anzuheften, der sich wiederum in dem Verhältnis spiegelt, das der junge Amerikaner, der Grant aufsucht, weil er sich Sorgen um seinen Freund macht, zu eben diesem pflegte und noch einmal durch dessen Trauer um den Verstorbenen verstärkt wird, da sie durchaus an einen Liebenden erinnert. McDermid will Grant unbedingt als sexuelles Wesen sehen und nimmt an, dass Tey sehr bewusst immer wieder sexuelle Grundierungen in ihren Romanen auftrug. Mag sein, man kann darüber streiten. In NUR DER MOND WAR ZEUGE lässt sie einen ältlichen Anwalt, einen Hagestolz, sich in eine seiner Klientinnen verlieben. Hier, in DER LETZTE ZUG NACH SCHOTTLAND wird das Thema homosexueller Verbindungen zumindest angedeutet und sehr liberal behandelt. Und so mag man McDermid in ihrem Urteil zustimmen, dass Tey Schriftstellerinnen wie Patricia Highsmith oder Ruth Rendell den Boden bereitet hat, über den diese dann schon sehr viel freier, wenn auch immer noch steinigen Wegs, schreiten konnten.

Bleibt als einziger Wermutstropfen zu diesem letzten Werk Teys eigentlich nur die Auflösung des Falles zu nennen. Sie greift auf ein Mittel zurück, dass auch schon der Großmeister des Thrillers Alfred Hitchcock – dessen frühes Meisterwerk YOUNG AND INNOCENT (1937) auf einem Roman von Josephine Tey (A SHILLING FOR CANDLES/KLIPPEN DES TODES; erschienen 1936) beruht – gern und leider zu häufig bemühte: Der alles erklärende Brief (bei Hitchcock konnte es auch der Psychiater sein, der am Ende allen erklärte, weshalb Norman quasi zum Mörder werden musste u.ä.), das Geständnis in Form länglicher Erklärungen. Das ist immer schwach, auch wenn es hier immerhin mit Grants eigener Erklärung, weshalb die meisten Verbrechen sich aufklären lassen, da der Täter immer etwas übersieht oder aber an der eigenen Eitelkeit scheitert, korrespondiert. Denn diesen Brief zu schreiben, da der begangene Mord so perfekt ist, dass ja niemand erkennt, dass es ein Mord war, zeugt schon von enormer Eitelkeit. Dennoch wirken die seitenlangen Erklärungen am Ende des Romans nachgeschoben. Als sei es der Autorin nicht gelungen, dies alles in der eigentlichen Handlung unterzubringen.

Sei es wie es sei, auch DER LETZTE ZUG NACH SCHOTTLAND überzeugt und wer Inspektor Grant und seine profunden Überlegungen einmal zu schätzen gelernt hat, wird ganz sicher nicht auf diesen (ungewollten?) Abschluss der Reihe verzichten wollen. Wie immer lohnt es sich, Grant zu folgen und diesmal bedeutet das sogar, mit ihm ganz physisch ins schottische Hochland und zu einigen von dessen Sehenswürdigkeiten zu reisen.

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