DEUTSCHSTUNDE

Wieder gelesen: Siegfried Lenz´ großer Nachkriegsroman

Klassiker nach Jahrzehnten erneut zu lesen ist manchmal doch ein gewagtes Unterfangen. Man erinnert sich vielleicht eher an das Gefühl, welches einem die Lektüre einst vermittelt hatte, denn an die Lektüre selbst. Im Detail. Sich Siegfried Lenz´ DEUTSCHSTUNDE – erschienen im Epochenjahr 1968 – wieder vorzunehmen, ist ein ganz gutes Beispiel.

Lenz´ Roman war jahrzehntelang Unterrichtslektüre. Man konnte anhand der Geschichte des Siggi Jepsen, der in einer Hamburger Jugendeinrichtung einsitzend einen Aufsatz über die „Freuden der Pflicht“ zu schreiben hat und diesen, nachdem er seine Arbeit als leeres Blatt abgegeben hat, in einen nahezu 600seitigen Bericht über das Verhältnis seines Vaters – nördlichster Polizeiposten Deutschlands in der Gemeinde Rugbüll in Nordfriesland – zu seinem Jugendfreund, dem Maler Max Ludwig Nansen, ausarten lässt, so herrlich und weitestgehend unbehelligt von den wirklichen Verbrechen des Regimes die dunklen Jahre des Nationalsozialismus abhandeln.

Lenz war da etwas gelungen, das einerseits typisch für die Nachkriegsjahre gewesen ist, andererseits aber auch empörend neu. Im Kern erzählt Lenz durch die Figur des Siggi – der seinerseits ca. zehn Jahre nach den Geschehnissen von dem Konflikt zwischen seinem Vater und dem väterlichen Freund, der der Maler für ihn und seine Geschwister Klaas und Hilke gewesen ist, berichtet – und vor allem in dessen teils rebellischer Sprache von den Unbilden derer, die daheim unter den Nazis zu leiden hatten. Nicht erzählt er von den verschwundenen Juden, von den Lagern und den Kriegsverbrechen. Am ehesten noch in der Figur des älteren Bruders Klaas werden die Schrecken des Krieges veranschaulicht, denn Klaas ist ein Deserteur. Und er wird bei einem Fliegerangriff schwer verletzt. Doch erinnert diese Figur eher an den Protagonisten aus Wolfgang Borcherts Theaterstück DRAUSSEN VOR DER TÜR (erschienen und erstmals aufgeführt 1947), in welchem ebenfalls ein heimkehrender Soldat unter den Traumata des Krieges leidet. Es ist also auch Nabelschau, die Lenz betreibt; für die Nöte und Ängste derer, die massiv – bis eben hin zur Lebensbedrohlichkeit – unter den Nazis zu leiden hatten, ist in diesem Buch kein Platz. Hier wird dem der Partei durchaus zugetane Maler Nansen – unschwer ist in ihm das Vorbild Ernst Nolde zu erkennen – ein Berufs- und Malverbot auferlegt, sei seine Kunst doch als „entartet“ zu betrachten. Jens Jepsen, Siggis Vater, muss dieses Malverbot nicht nur überbringen, sondern auch durchsetzen. Das wird bei ihm zu einer nahezu obsessiven Jagd auf die Bilder seines Jugendfreundes, der ihm einst das Leben gerettet hat.

Lenz erschafft in dem Typus, den Jens Jepsen verkörpert, exakt jenen, den es brauchte, um ein Regime wie das der Nazis nicht nur aufzubauen, sondern auch am Laufen zu halten. Denn es braucht den Mitläufer, den (im Sinne Heinrich Manns) Untertan, der seine Pflicht erfüllt, gleich, ob diese richtig ist oder falsch. Wobei Lenz, in dessen Roman eben jenes Regime, wie auch der herrschende Krieg – die Handlung setzt 1943 ein – seltsam fern, wenn nicht gar abwesend sind, nur wenige Andeutungen macht, ob dieser Mann, dieser Polizeiposten Rugbüll, wie Siggi ihn immer wieder abschätzig nennt, ein Überzeugungstäter ist. Eher wirkt er wie ein ferngesteuertes Element, sich an seinen Vorgaben und eben Pflichten abarbeitend, distanziert und keineswegs als Subjekt tätig. Doch an einer relativ späten Stelle im Roman erklärt Jepsen seinem Sohn, dass man eine Pflicht auch zu erfüllen habe, wenn die Zeiten sich änderten. Zumal eine „als richtig erkannte“ Pflicht. Diese Aussage deutet natürlich darauf hin, dass Siggis Vater den Ansichten seiner ehemaligen Dienstherren auch über die Zeiten hinweg verhaftet bleibt. Andererseits erklärt Siggi dem Leser, dass sein Vater zwar von den Briten abgeholt wurde, doch bereits nach 3 Monaten wieder auf seinen Posten zurückkehren durfte. So wäre er wahrscheinlich als „unbedenklich“, eben als „Mitläufer“ eingestuft worden durch die Entnazifizierungsbehörden.

Empörend hingegen Lenz´ Umgang mit Autorität und Institutionen. Siggi Jepsen wurde in eine Anstalt für Schwererziehbare eingeliefert, wo er sich jedoch vollkommen zu Unrecht sitzen sieht. Vielmehr, so erklärt er es zum Schluss des Romans, sitze er stellvertretend für seinen Vater und all jene, die ihre Pflichten eben so ernst nahmen, dass sie darob Freund und Feind, Familie und Herkunft vergäßen. Lenz wird es nicht so berechnet haben, doch mit vielem, was im Roman vorkommt – ein weitestgehend antiautoritär eingestellter Anstaltsleiter, Psychologen, die sich der Jugendlichen annehmen, allen voran der junge Mackenroth, durch dessen Arbeit wir einiges über Siggis Hintergrund erfahren – korrespondiert mit dem Zeitgeist des Jahres 1968. Allerdings kommentiert Siggi – und durch ihn eben auch Lenz – selbst diese Versuche immer wieder sarkastisch bis zynisch; Siggi lässt vieles von dem, was ihm angeboten wird, an sich abperlen. So bleibt sein Verhältnis zu Autoritäten und vor allem den Institutionen, die sie repräsentieren, immer prekär. Und wie bereits erwähnt, nutzt Siggi, nutzt Lenz, eine schnoddrige, jugendliche Sprache, um seine Geschichte zu erzählen. Vor allem dort, wo er Bezug auf die direkte Umgebung – Knast, Wärter, Direktor, Lehrer und letztlich seinen Vater – nimmt.

Prekär allerdings bleibt Lenz´/Siggis Erzählposition, die der Autor – wie viele seiner Generation, die die Jahre des Nazi-Regimes erlebt hatten und unter den damals herrschenden Verboten litten, stark beeinflusst von angelsächsischen Erzählern wie William Faulkner, aber auch Joseph Conrad – immer wieder in Frage stellt. Das beginnt damit, dass Siggi einen Aufsatz schreibt über eine Zeit, die er lediglich erinnert, die nahezu zehn Jahre zurückliegt und seine Kindheit umfasst. Wie prekär Erinnerungen an sich sein können, merken wir spätestens, wenn Siggis Schwester Hilke ihn in der Anstalt besucht, seinen Text liest und hier und da Korrekturen anbringt, eigene Erinnerungen, die gelegentlich denen Siggis zuwiderlaufen. Aber auch Lenz´ Stil verunsichert. Mehrfach im Text lässt er Siggi innehalten, ausführliche, manchmal fast behäbige Beschreibungen von scheinbar Nebensächlichem einbauen, um dann anzumerken, nun müsse man aber weiter in der Erzählung, nicht länger – oder gar immer – könne man an dieser Stelle verweilen. Es gibt sogar einige Andeutungen, dass das, was wir da lesen, der „Wahrheit“ nicht unbedingt entspricht. Lenz lässt uns also durch Siggi hindurch – der übrigens auch Szenen beschreibt, bei denen er nachweislich nicht vor Ort gewesen ist und also bestenfalls selbst Erzähltes wiedergibt, wenn nicht erfindet – durchaus immer wissen, dass wir es mit einem Roman, einer Fiktion zu tun haben. Auch damit ist er auf der Höhe seiner Zeit, die, nicht zuletzt geprägt durch den auch außerhalb Frankreichs aufkommenden Strukturalismus, begann, den Text als solchen zu hinterfragen und zu markieren.

Das indirekte Erzählen mag Lenz sich bei Conrad abgeschaut haben, der seine Geschichten gern doppelt und dreifach bricht und dadurch gelegentlich ein textuelles Labyrinth erschafft. Lenz aber hat noch anderes im Sinn. Er greift nicht ohne Hintergedanken auf das Motiv des Malverbots zurück. In der Kunst, so mag sein Kalkül gewesen sein, lässt sich am besten, weil theoretisch wie praktisch, metaphysisch wie ganz konkret und profan, ästhetisch und politisch die ganze Bandbreite eines autoritären Regimes abhandeln. Der Versuch des Totalitären, noch in die hinterletzte Kammer und Stube einzudringen, die Menschen zu kontrollieren, sie zu definieren und zu zwingen, sich den Wünschen und Anforderungen des Regimes zu beugen – gerade in der Kunst wird dies deutlich.

Nansen – oder eben Nolde – gilt/galt als Meister der Farbe und des Lichts. Doch ist das Licht und ist die Landschaft, die in diesem Licht erstrahlt, nie naturalistisch wiedergegeben, sondern immer subjektiv gefärbt (im wahrsten Sinne des Wortes) und damit immer auch subversiv. Mindestens aber der Subversion verdächtigt. Das geht im Roman soweit, dass Jepsen auch leere Blätter, die vom Maler als „unsichtbare Bilder“ deklariert werden, einsammelt und konfisziert. Selbst die unschuldigste Malerei wirkt auf Jepsen eben „entartet“.

Lenz jedoch will genau das – das Subversive, das Subjektive, die Explosion der Farben vor den Augen des Malers – sprachlich einfangen und wiedergeben. So schildert er immer wieder die Landschaft und dabei artet der Text zu nahezu expressionistischen Collagen aus, explodieren die Worte auf der Suche nach der Möglichkeit, die Unmittelbarkeit des Gesehenen einzufangen, wie es Nansens Farben auf der Leinwand tun. Und nicht umsonst ist eines der schönsten aber auch eindringlichsten Kapitel des Buchs dem Sehen selbst gewidmet. Nansen verdeutlicht Siggi, was das Sehen bedeutet und wie Wirklichkeit im Sehen erst erschaffen wird. Und inwiefern das Sehen selbst Fiktionen erschafft. Fiktion wird zur Wahrheit durch Konstruktion. Durch die Wirklichkeitskonstruktion des Auges beim Sehen. Wenn Nansen sich müht, die Angst farblich zu erfassen – er spricht während der Arbeit immer wieder mit seinem imaginären Begleiter Balthasar, dem er erklärt, wo noch mehr Furcht, mehr Angst, welche Farbe in ein Gemälde hineingepresst werden müsse – dann wird sie erst dadurch real. Und drückt zugleich tiefes Unbehagen an einer Wirklichkeit aus, die Nansen, die ein jeder, je weiter dieser Krieg voranschreitet, wahrnimmt.

Nur der Polizeiposten Jepsen nicht. Der aber – ein Ausflug ins Unnatürliche, den Lenz wagt – hat das zweite Gesicht, er kann „schichtig kieken“, wie es im Text heißt. Und sieht den Tod eines Kapitäns voraus, ein Vorgang, der sich nicht bewahrheitet. Wohl aber gelingt Jepsen auf diese Art das Kunststück, die heimliche Sammlung – Schlüssel, Totes, aber eben auch Bilder des Malers Nansen – seines Sohnes Siggi in einer alten Mühle aufzuspüren. Als die in Flammen aufgeht, ist dies auch der Auftakt zum letzten, alles entscheidenden Akt des Romans, an dessen Ende Siggi in eine Besserungsanstalt eingeliefert werden wird. Das „gute“ Sehen des Malers Nansen steht dem „schlechten“ Sehen des Polizisten Jepsen gegenüber. Das erste bringt Schönheit hervor, zweiteres lediglich Schrecken. Angst und Schrecken.

Überhaupt ist Angst ein Grundmotiv des Buchs: Angst vor einem Regime, das zwar unsichtbar, ungreifbar sein mag, welches im Hintergrund (Berlin!) aber immer spürbar ist; Angst vor einem Vater, der straft – eine der erschreckendsten Szenen im Roman ist jene, in der Siggi die Strafe schon vorwegnimmt und sich seinem Vater mit bereits heruntergelassenen Hosen geradezu anbietet – und abstraft und die diffuse Angst im Hintergrund verkörpert, als etwas Konkretes. Aber da ist noch eine andere Angst, eine Angst, die eng verwandt scheint mit der Schönheit. Es ist die Angst – oder besser: Furcht – die einem das Land selbst einimpfen kann. Dieses Land, diese Landschaft, die immer größer und weiter als der einzelne ist, die immer siegt, die den Menschen immer auf seinen Platz zu verweisen scheint. Die Landschaft, die den Maler Nansen immer wieder fasziniert, die Siggi Heimat ist, die Weite, der Himmel, der alles überspannt, das Meer, das mit Gewalt vordrängt, nur um sich dann weit, weit zurückzuziehen, die Dünen und die Marsch, die Geest dahinter – diese offene Landschaft, die immer schon bedrohlich sein mag, wird gleichsam zur reellen Bedrohung in dem Moment, in dem der einzelne nicht gesehen werden will. Nansen malt in seinem Atelier, doch schließt er dabei die Verdunkelung nicht richtig – und ist somit weithin sichtbar. Damit verrät er sich, weil er das Verbot nicht einhält, damit verrät er aber auch die Seinen, da er das Gebot (der Verdunkelung) nicht einhält und den Feind anlocken könnte. Und auch in anderen Momenten wird das Offene der Landschaft zur Gefahr: Doktor Busbeck, der für den bedrohten Nansen etwas in Sicherheit bringen will und sich dabei im Schatten des Deiches zu halten versucht, da auch er weithin sichtbar ist. Lenz versteht es brillant, diese Landschaft sprachlich zu erfassen, wie er Nansen die Mittel zuschreibt, sie malerisch zu interpretieren. Und es gelingt Lenz, diese Landschaft zu einem, wenn nicht zum eigentlichen Protagonisten seiner Erzählung zu machen.

Viel wurde Schülern im Laufe der Dekaden anhand dieses Romans vermittelt: die subjektive, also die Ich-Perspektive, die Frosch- und die Vogelperspektive, je nach dem, wer gerade erzählt: Der nahezu erwachsene, reflektierende Siggi oder jener Junge, der erlebt. Schüler lernten anhand der DEUTSCHSTUNDE, was ein Entwicklungsroman ist, was ein Künstlerroman; sie lernten alles über die Rahmen- und die Binnenhandlung. Sie lernten etwas über Emil Nolde. Sie lernten sogar ein wenig über die „schlimme Zeit“, die dunklen Jahre, den Krieg und seine Schrecken.

Doch gehört es eben auch zur Re-Lektüre, zu begreifen, dass es ein anderes Buch ist, nachdem man Noldes Verstrickungen mit dem und in das Regime mittlerweile sehr viel besser erforscht und auch präsentiert hat. Lenz allerdings hat dies zumindest geahnt. Im Buch wird Nansen unter anderem dadurch charakterisiert, dass über ihn geschrieben steht, er sei „nur zwei Jahre nach dem Führer“ in die Partei eingetreten. Dass Nansen – so Nolde denn, wovon auszugehen ist, das Hauptvorbild für die fiktionale Figur ist – eben auch sein´ Teil mit der Partei hat, sich dann aber abgewandt haben soll (er habe eine Farballergie – vor allem die Farbe Braun ginge gar nicht), wird zwar erwähnt, findet aber ansonsten wenig Niederschlag im Roman und wird auch nicht thematisiert. Nolde selbst hatte Berufsverbot, jedoch kein Malverbot. Lenz sitzt also des Künstlers eigener Überhöhung zum Opfer auf, wenn er dies denn übernommen haben sollte. Aber es ist ja eben genau das, was weiter oben beschrieben wurde: Es ist die Fiktion, die uns die Realität erst wirklich reell werden lässt. Und so ist es dem Schriftsteller natürlich ebenso erlaubt, seine fiktionale Figur zu überhöhen, wie es dem Maler erlaubt ist, die Farben der von ihm gemalten Landschaften mit seinen subjektiv empfundenen Gefühlen aufzuladen.

DEUTSCHSTUNDE ist und bleibt einer der großen deutschen Nachkriegsromane. Siegfried Lenz steht damit durchaus in einer Reihe mit den großen deutschen Nachkriegsautoren wie Günter Grass und natürlich Heinrich Böll. Mag sein, Lenz´ Schreiben ist nicht ganz von deren Tiefe oder Redlichkeit, mag sein, DEUTSCHSTUNDE ist in gewisser Weise auch berechnend, indem es seinem Publikum nicht zu viel zumutet (und somit kommerziell erfolgreicher sein konnte), mag sein, dass hier einer verherrlicht und überhöht wird, der es nicht verdient gehabt hat. Mag alles sein. Und doch wird hier sehr deutlich, wie das so funktionieren konnte mit dem deutschen Faschismus, welche Typen es dafür brauchte und welche Charakteristik die Menschen mitbringen mussten, die gar nicht tief in die Verbrechen verstrickt gewesen sein mögen, sondern einfach nur dafür sorgten, dass daheim alles glatt lief für die, die sich um die Verbrechen kümmerten. Und es wird hier auch deutlich, dass der Terror früher begann als an der Front oder im Lager.

Lenz´ Roman mag heutigen Ansprüchen nicht mehr genügen. Doch gemessen an seinem Erscheinungsjahr, das eben auch eine Chiffre für den Aufbruch einer jüngeren Generation ist, die mit dem Schweigen der Eltern brechen, die ans Licht zerren wollte, was über zwanzig Jahre unter den Talaren und Teppichen gehalten wurde, die mit Sprachbildern brach und mit Traditionen, die als muffig und tabuisierend wahrgenommen wurden, ist es ein moderner Roman, der auch mit seiner gelegentlichen Schnoddrigkeit gerade recht kam. Und immer noch recht kommt.

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