TAUBEN IM GRAS

Der erste Teil von Wolfgang Koeppens 'Trilogie des Scheiterns'

Liest man nach Jahrzehnten die frühe bundesrepublikanische Nachkriegsliteratur erneut  – u.a. Böll, Grass. Andersch oder Koeppen – fällt im Falle von Wolfgang Koeppens TAUBEN IM GRAS (erschienen 1951) vor allem der stilistische Unterschied zu seinen damaligen Kollegen auf. Geschult an den Meistern der Moderne – James Joyce allen voran, aber auch John Dos Passos oder William Faulkner – ist Koeppen weitaus mehr als bspw. Heinrich Böll an einer literarischen Neuerung, an einem Stilbruch gelegen, der nicht nur inhaltlich, sondern eben auch formal die Differenz und den Bruch zur bisherigen deutschen Literatur markiert; obwohl auch das Vorbild von Alfred Döblins BERLIN ALEXANDERPLATZ, seinerseits ein Epigone Dos Passos´, deutlich spürbar ist.

Koeppen wagt sich an einen von Metaphern gesättigten, oft assoziativen Stil, voller Allegorien und Verweise, vor allem auf die griechische Mythologie, was seine Nähe zu Joyce und dessen ULYSSES belegt. An einem einzigen Tag lässt der Autor eine Reihe von Protagonisten durch das nach  wie vor kriegsverwüstete München wandern, ein jeder scheinbar geworfen, den Zufällen des Schicksals ausgeliefert – wie „Tauben im Gras“, deren Anordnung ebenfalls rein zufällig wirkt. Ein weiterer Verweis, hier auf Gertrude Stein und ihr Gedicht FROM FOUR SAINTS IN THREE ACTS, und somit erneut eine Schnittstelle zur literarischen Moderne, die in Deutschland nach den Jahren des Naziterrors erst spät entdeckt wurde.

Im Kern sind es sechs Personen, die Koeppen diesen Tag in München verbringen lässt, der möglicherweise der 20. Februar 1951 ist, da an einer Stelle eine Abendzeitung den Tod André Gides verkündet, der am 19. Februar des Jahres verstarb. Neben dem verhinderten Schriftsteller Philipp sind dies seine Frau Emilie, eine reiche Erbin, dem Suff verfallen, deren Reichtum aber nichts einbringt, da er in Immobilien besteht, die sich niemand leisten kann und will, die mehrfach an diesem Tag versucht, Erbstücke – Schmuck, einen Gebetsteppich, eine Tasse – in Pfandleihen zu kapitalisieren; Odysseus, ein schwarzer Amerikaner, der mit dem Kofferträger Josef durch die Stadt zieht und in einer späten Verwicklung zu dessen Mörder wird; der – ebenfalls schwarze – Soldat Washington, der zu verhindern sucht, daß seine Geliebte Carla das gemeinsame Kind abtreiben lässt; schließlich Frau Behude, Carlas Mutter, in der das Weiterwirken von Rassenlehre und Ressentiment überdeutlich zu Tage treten. Flankiert wird dieser Reigen von einer Anzahl von Figuren – einem Psychiater, bei dem einige der Protagonisten in Behandlung sind, dem Schauspieler Alexander und seiner Frau, genannt Messalina, die von Philipp ein Drehbuch für einen „anspruchsvollen“ Film erwarten, Christopher und Richard, deutschstämmige Amerikaner, die in München Verwandte bzw. Geschäftspartner suchen, der Dichter Edwin, der einen Vortrag über die europäische Geistesgeschichte halten soll, Kay, eine junge amerikanische Lehrerin, die mit einer Reisegruppe einen Studienausflug nach Deutschland macht, Hans und Ezra, zwei Jungen, die mit einem imaginierten Tauschgeschäft einen Volksaufstand auslösen und fast dafür verantwortlich sind, daß sich der Zorn der Masse gegen die „Neger“ richtet, die in den Straßen der Stadt als G.I.´s und MP´s patrouillieren.

Einen Roman wie TAUBEN IM GRAS Dekaden nach seiner Veröffentlichung zu lesen, erfordert natürlich Distanz und regt zu Analysen an, die zugleich den Zeitgeist jener Jahre rezipieren müssen, sich aber dennoch erlauben dürfen, Tiefenschichten freizulegen, die der Autor möglicherweise nie beabsichtigt hatte, die aber dennoch – eben auch und gerade durch die zeitliche Distanz – offensichtlich werden. Das fängt bei der angeblichen Zufälligkeit an, die der Titel postuliert, die der Text aber durchweg unterläuft und konterkariert. Koeppen fängt eine – anders als Böll bspw. – eher enge gesellschaftliche Schicht ein, indem  er auf deutscher Seite fast ausschließlich Vertreter der Bourgeoisie, vor allem der intellektuellen Bourgeoisie, auftreten lässt. Schriftsteller, Schauspieler, Mäzene, Damen aus den Salons der Stadt, die auf der Suche nach Zuträgern für abendliche Orgien sind, wodurch auch Gelegenheitsprostiituierte und zumindest eine Dirne aus der Münchner Halbwelt ins Spiel kommen. Die Demokratie macht es möglich und auch ein gewisser resignativer Zweifel an dieser Gesellschafts- und Staatsform schreibt sich dem Text ein. Daß diese Menschen sich treffen und über den Weg laufen, ist also alles andere als Zufall in einer Stadt, die gerade dabei ist, sich wieder zu etablieren, zugleich aber noch deutlich die Spuren des Krieges trägt. Es ist Koeppens Stil, der sich gelegentlich einen schon beißenden Sarkasmus und durchaus böse Untertöne nicht  verkneifen mag, und natürlich seiner sprachlichen Meisterschaft zu verdanken, daß und wie es ihm gelingt, die Kontinuitäten und Zusammenhänge herauszustellen, die eben weit über die „Stunde Null“ und das Ende der Nazi-Herrschaft hinausreichten und die neue, junge Republik weitaus mehr prägten, als man es bis weit in die 1980er Jahre wahrhaben wollte.

Es ist aber auch eine gewisse Larmoyanz festzustellen, die sich dem Text  immer wieder einschreibt und bei der sich der Leser nie ganz sicher sein kann, ob sie nur der jeweiligen Figur entspricht – gerade bei Philipp und Emilie tritt diese besonders hervor – oder eben doch auch ein tiefsitzendes, eben auch der Resignation geschuldetes Gefühl des Autors spiegelt. Am Grunde aller Klischees stehen Wahrheiten, und bedenkt man das Erscheinungsdatum, kann man erkennen, daß Koeppen Klischees definiert und ausarbeitet, die in den folgenden Dekaden vielfach aufgegriffen und verdichtet wurden, die aber zu seiner Zeit wahrscheinlich eher genauer Beobachtung und der Widergabe gewisser Haltungen entsprach. Der Zynismus, das „uns geht’s ja noch Gold“-Gefühl der Davongekommenen, die Versuche, das Gewesene entweder zu verdrängen oder aber in ein passendes, die eigene Mitschuld eher marginalisierendes Narrativ einzupassen, die Weinerlichkeit, verloren zu haben, was ewig schien – es sind dies jene Stereotype, die in der bundesdeutschen Literatur, aber auch im Film und in vielen klugen Essays der kommenden Jahre und Jahrzehnte ausformuliert werden sollten.

Wie bei Böll, aber auch bei Günter Grass, ist auch bei Koeppen eine gewisse Nabelschau festzustellen, die zunächst einmal um das eigene, das deutsche Elend einer besiegten Nation, eines besiegten und erniedrigten Volkes kreist. Ursachen und Wirkungen dessen, was zu jenen verbrecherischen Jahren geführt hatte, die schließlich in einen Weltenbrand mündeten, kann man hier noch nicht wirklich erkennen, aber zumindest schreibt Koeppen, indem er mit Odysseus und Washington zwei Schwarze in den Text einführt, seinem Text jenen unterschwellig weiterwirkenden Rassismus ein und verdeutlicht gerade anhand der Vorkommnisse, die Odysseus zu einem Mörder machen und Washington beinah zum Opfer eines  enthemmten Lynchmobs, wie Vorurteil und Hass ihr Gift versprühen oder langsam entfalten, je nach dem Erhitzungsgrad und der Hysterie, die gerade herrschen. Zugleich verdeutlicht er aber auch, daß das gegenseitige Ressentiment nicht nur in einem faschistischen Land sich entfalten kann, sondern in den USA immer schon grundlegender Tenor gewesen ist, obwohl der Amerikaner Richard die „Werte seines Landes“ verteidigen will, indem er den bedrohten Schwarzen verteidigt und beschützt.

Beide Figuren sind schwierig, sowohl Odysseus, als auch Washington. Und so greift hier ein weiterer Analyseansatz, denn Koeppen erliegt da möglicherweise Sichtweisen, die er anzuprangern meint. Beide Figuren sind wichtig für den dramaturgischen Aufbau des Buches, was einmal mehr die Theorie der Zufälligkeit unterläuft, da zumindest der Autor dies alles eben nicht zufällig anordnet. Daß sich parallel zu des Dichters Edwins Vortrag  zur europäischen Geistesgeschichte, den die meisten Hörer schlicht verschlafen, da sie ihn zum einen intellektuell und sprachlich nicht verstehen, zum andern aber auch nicht folgen können, da die Lautsprecheranlage im Saal defekt ist – eine Wendung deren allegorischer Gehalt gar nicht überschätzt werden kann – in der früheren „Hauptstadt der Bewegung“ ein Mob bereit ist, aufgrund von Fama, reinen Gerüchten, deren Inhalt aber allzu gut mit dem Infekt des rassischen Denkens, als auch – bei Frau Behrend – mit den Komplikationen persönlicher Verwicklungen korrelieren, ist es doch ihre Tochter Carla, die ein „Negerkind“ erwartet, ist der dramatischen Rundung und dem allegorischen Gehalt des Werkes geschuldet. Doch gerade in der Figur des Odysseus – der Leser erfährt nie, wer dieser Mann eigentlich ist, der da mit einem Lautsprecherkoffer und offensichtlich viel Bargeld durch München zieht, der einen Weißen in Vertretung seiner Rasse das tun lässt, was Schwarze Jahrhunderte für Weiße getan haben, nämlich ihr Gepäck schleppen – kommt Koeppens eigene Befremdung zum Ausdruck. Es mag sein, daß der Autor es genau so gewollt hat, um seinen Lesern einen Spiegel vorzuhalten, doch diese Figur bedient in ihrem Auftritt – er spricht selten, er gibt seltsame Laute von sich, er „schändet“ deutsches Kulturgut, indem er sich mit einem Stift auf einem Kirchturm verewigt – exakt jenes Bild des Fremden, des Undurchsichtigen und auch zu Fürchtenden, das viele gerade von Schwarzen bis heute gern teilen. Da schwingt etwas von der Angst mit, daß sich diese Fremden eines Tage  an uns allen rächen könnten für erlittenes Unrecht. Und auch ein leiser Hauch von „Durchmischung“ und „kultureller Entfremdung“ weht den Leser an. Es dürfte einem weißen Autoren, zudem einem Deutschen, 1951 fern gelegen haben und vielleicht auch unmöglich gewesen sein, sich wirklich in einen schwarzen Amerikaner und dessen spezifische Motivation in Hinsicht auf Rassentrennung und Ressentiment hineinzudenken oder gar in ihn einzufühlen. So bleibt diese seltsame Figur, die ihrem antiken Namensvetter gleich scheinbar ziellos durch das Meer dieser Stadt streift, meist gute Laune ausstrahlt und dann vergleichsweise unmotiviert zum Mörder wird, sich von einer Dirne becircen lässt (sic!) und schließlich von genau dieser, als die Situation sich zuspitzt, gerettet wird, erratisch und dem Leser fremd, ja, ihr ist etwas Unheimliches, Dräuendes eingeschrieben.

Man könnte literaturwissenschaftlich Seite für Seite des Buches so untersuchen. Aber trotz aller kritischen Rezeption bleibt dieser Text sicherlich einer der wesentlichen zur unmittelbaren Nachkriegszeit in der deutschen Nachkriegsliteratur. Wolfgang Koeppen war ein Solitär in seiner Generation. Er verweigerte sich der Sachlichkeit, die bspw. Bölls Schreiben definierte ebenso, wie der verspielteren Variante, die für Grass´ Schreiben so wesentlich war, er suchte den Anschluß an die Moderne, die sich ihm  – im Text so auch genannten und angeführten – in den oben bereits erwähnten Vertretern offenbarte und schuf gerade auf diesen etwas mehr als 200 Seiten ein tiefenscharfes Portrait einer sich neu formierenden Gesellschaft, die das Gift der früheren Jahre keineswegs überwunden hatte, dies vielleicht auch gar nicht wollte, und zugleich dabei war, sich im neu entstehenden ideologischen Konflikt zwischen Ost und West zu positionieren. Wie Döblin flechtet auch Koeppen immer wieder Versatzstücke tagesaktueller Meldungen, die  genau diese Konflikte (vor allem der anstehende Korea-Krieg) thematisieren und die Angst vor dem nächsten, dann vielleicht finalen, Krieg evozieren, in den Text und verdeutlicht im Auftritt seiner amerikanischen Protagonisten – also auch der jungen Lehrerin Kay, des ehemaligen Fliegers Richard, des jungen Ezra, der Allmachtsphantasien von totaler Vernichtung  hegt, oder eben auch des Dichters Edwin – die beginnende Freundschaft zu den Deutschen, den Nutzen, den man sich davon versprach, dieses Land aufzupäppeln und nicht zuletzt den beginnenden EInfluß, den die amerikanische  Alltags- und Popkultur ab nun auf eben diese bundesdeutsche Gesellschaft nehmen sollte.

Das ist in seiner durchaus die Bildung des Autors ausstellenden stilistischen Eigenart, die das Lesen nicht immer einfach macht, schon hohe literarische Kunst. Aber man  versteht bei der Lektüre auch, weshalb Koeppen, anders als Böll, nie den Stellenwert erreichen konnte, den sein sprachliches Vermögen ihm vielleicht hätte einbringen müssen. Das ist verkopft, hintergründig, intellektuell und richtet sich inhaltlich wie formal eher an eine Leserschaft, die selbst einem gewissen, auch durch die Nazis nicht zu unterdrückenden, Bildungsniveau entspricht und verweigert sich dem Konsum durch den Gelegenheitsleser ebenso, wie es sich der schnellen Interpretation, dem Sentiment, der einfachen Betrachtung verweigert. 1951 wollte sicher kaum jemand auf diese Art und Weise mit der eigenen Vergangenheit, weniger noch mit der Gegenwart, konfrontiert werden. Zu hoch Koeppens Anspruch, zu doppeldeutig seine Metaphern, zu schmerzhaft die dem zugrunde liegende Allegorie. Literaturhistorisch allerdings gibt es mit Wolfgang Koeppen noch einmal eine ganz andere deutsche Nachkriegsliteratur zu entdecken, die fast etwas in Vergessenheit geraten ist. Hier schrieb ein Solitär, ein einsamer Mahner, einer, der sich der klaren Sprache ebenso verweigerte (und damit seiner Zeit weitaus mehr gerecht wurde, als so mancher, der meinte, gerade diese klare Sprache täte Not), wie er sich der klaren Interpretation verweigerte. Koeppen bleibt vieldeutig, ambitioniert, ambivalent und eben darin sehr, sehr vielschichtig. Seine Literatur ist gefährlich in dem Sinne, daß sie den Leser in Bereiche des Unbewussten führt, wo man immer wieder auf eigene Unzulänglichkeit stößt, Bereiche, in denen das Verdrängte virulent ist, wirkt und Wirkmacht entfaltet. So gesehen erfüllt Koeppens Literatur also höchste literarische Ansprüche.

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