GROSSE ERWARTUNGEN/GREAT EXPECTATIONS

Weltliteratur? Aber ja!

Ist immer so eine Sache mit den großen Romanen des 19. Jahrhunderts. Die einen sagen, daß das die großen Romane schlechthin gewesen seien, daß die Kunst des Romanschreibens überhaupt im 19. Jahrhundert zu ihrer Vollendung gekommen sei. Mag sein. Sofort denkt man an Flauberts MADAME BOVARY, an Tolstoi und natürlich Dostojewski, an Fontane, Balzac, Stendahl, Hugo aber auch die großen Unterhalter wie Dumas et al. Und Dickens. Dickens? Was war der denn nun? Ein Weltliterat oder doch nur ein schnellschreibender Zeilenschinder, der drei, vier Sachen zugleich runterschmierte, weil er irgendwie seine Familie(n) durchbringen musste? Letzteres wurde dem Rezensenten einmal von einem Kommilitonen in einem Seminar erklärt. Nun denn. Gute oder gar große Literatur darf doch gelegentlich auch unterhalten, oder?

Nicht alles, was Dickens schrieb, muß gefallen. Doch GREAT EXPECTATIONS ist nun definitiv einer seiner besten, seiner größten Romane. Nimmt man DAVID COPPERFIELD, OLIVER TWIST und BLEAK HOUSE hinzu, hat man sicherlich einen guten Dickens-Kanon, der einen erst einmal beschäftigt hält.

GREAT EXPECTATIONS hat all die Vor- und Nachteile, die Dickens auch ausmachen: es fesselt, es rührt, es hat eine teilweise schaurig-unheimliche Geschichte und Atmosphäre, tolle Typen aber eben auch wilde Handlungssprünge, psychologische Ungenauigkeiten (obwohl dies gerade in diesem Buch nicht so zutrifft, wie in anderen, Pips Seelenleben und -nöte sind schon gut und genau erfasst), zu viele Zufälle und das Ganze ist – wie oft beim großen Engländer – arg überkonstruiert. Aber dennoch ist es eines der besten seiner Werke. Interessanterweise weißt es etwas weniger Humor auf, als frühere Werke aus seiner Feder,  obwohl es eine Tragikomödie sein sollte. Es ist dichter in der Erzählweise, moderner, auch stringenter. Da es einer seiner letzten Romane und er sicherlich schon gezeichnet war von den zunehmenden Krankheiten und der Erschöpfung, die ihn am Ende seines Lebens häufig und schließlich bleibend befiel, mag das den Umständen geschuldet sein. Sein Blick ist wie immer scharf und kritisch. Die englische Gesellschaft als undurchlässige Klassengesellschaft mit leeren Ritualen und Idealen wird einmal mehr genauestens seziert.

Inhaltlich ist GREAT EXPECTATIONS dem zehn Jahre älteren DAVID COPPERFIELD verwandt, beides sind in gewisser Weise ‚Coming-of-age‘-Romane, in beiden bemüht sich ein junger Mensch, den Unbilden der Armut zu entkommen, in beiden wird er gewissen Seelennöten ausgesetzt, wobei Pip hier noch genauer beschrieben und erfasst wird in seiner Angst vor und um den entflohenen Strafgefangenen Magwitch. Seine Liebe zu Estella und deren Hartherzigkeit muten manchmal an wie ein moderner Bericht über das Liebesleben junger Leute und Pips Wandlung zum snobistischen Dandy, der sich seiner eigenen Verwandten schämt, leuchtet dramaturgisch ein. Daß das Ende der „großen Erwartungen“ gekommen ist, als sich das Geheimnis um Pips plötzlichen Wohlstand lüftet und er sich ins Ausland zurückziehen muß, um schließlich – geläutert – heimzukehren und doch noch in Estellas Arme zu sinken, ist purer Dickens mit all seinen Happy-End-Hoffnungen. Man mag es oder nicht, doch am Ende dieser 500 Seiten, in denen man all diese Figuren kennen- und lieben gelernt, man mit ihnen gefiebert und gefürchtet und gelitten hat, freut man sich, wenn sie ein wenig Glück finden, mag die Realität auch meist anders aussehen.

Wie Anthony Burgess einmal auf die Frage nach Joyce‘ ULYSSES und deren Lesbarkeit geantwortet hat: Einfach lesen, nicht nach dem Sinn fragen, nicht sich fragen, ob man alles versteht, einfach lesen und genießen! – so möchte man auch über Dickens sagen: einfach lesen!! Ist das die große Weltliteratur? Vielleicht, vielleicht auch nicht, es stellt sich eher die Frage, ob das wirklich die Frage ist? Unterhaltsam, berührend und aufschlußreich als Zeugnis seiner Zeit sind die GREAT EXPECTATIONS allemal.

 

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