DIE CHAUVINISTISCHE BEDROHUNG. RUSSLANDS KRIEGE UND EUROPAS ANTWORTEN

Sabine Fischer gibt profunde Einblicke in die Entwicklung Russlands seit dem Epochenbruch 1989/90

Die Lektüre von Büchern wie Sabine Fischers DIE CHAUVINISTISCHE BEDROHUNG. RUSSLANDS KRIEGE UND EUROPAS ANTWORTEN (2023) fußt immer in dem Wissen darum, dass sie in unmittelbarer Reaktion auf tagesaktuelle Geschehnisse geschrieben wurden. Das macht diese Werke oftmals zu ebenso aktuellen wie schnell vergänglichen, weil oft bald überholten Interventionen.

Sabine Fischer allerdings kennt ihr Sujet ausgesprochen gut. Schon bald nach der Zeitenwende 1989/90 ging sie, Jahrgang 1969, als junge Studentin nach Russland, sie hat sich intensiv mit der russischen Kultur, der Gesellschaft und natürlich auch der politischen Entwicklung der vergangenen 30 Jahre in der ehemaligen Sowjetunion und ihres Kernlandes beschäftigt. Diese Expertise fließt also ein, wenn sie sich der Entwicklung von Putins Russland seit den frühen 2000er-Jahren annimmt und diese fach- und sachkundig analysiert.

Zunächst setzt Fischer sich allerdings mit den verschiedenen Schulen des westlichen Liberalismus auseinander und definiert damit auch ihre eigene Sicht auf Russland. Es war eben dieser westliche Liberalismus, der sich in seinen Annahmen und Prognosen hinsichtlich der Entwicklung der ehemaligen Ostblockstaaten fundamental geirrt hat. Diese Fehlannahmen arbeitet Fischer noch einmal dezidiert ab und erläutert die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Der immer noch bekannteste Fehlschluss bleibt jene vom Autor mittlerweile auch widerrufene These vom „Ende der Geschichte“, welche der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama schon im Jahr 1989 aufstellte. Fukuyama behauptete, mit dem Zusammenbruch des Ostblocks habe das Modell der liberalen Demokratie sozusagen historisch gesiegt und es begänne eine Zeit ewiger Prosperität. Ein fataler Irrtum, wie ja nicht zuletzt das vorliegende Buch beweist.

Fischer führt sodann den Begriff des Chauvinismus ein, bzw. sie erinnert daran, was dieser Begriff eigentlich immer schon bedeutete und legt dabei einen besonderen Schwerpunkt auf den sexistischen Aspekt. Nicht von ungefähr bürgerte sich einst der Ausdruck Chauvi für besonders männlich – oder was sich dafür hielt – auftretende Kerle ein. Dass in diesem Begriff aber vor allem ein Kurzschluss nationalistischer, autokratischer und eben sexistischer Teilaspekte stattfindet und ein tatsächliches politisches Konzept beinhaltet, ist mittlerweile eher in Vergessenheit geraten. Es ist ein entschieden dem 19. Jahrhundert verhaftetes Konzept. Und es kehrt mit und durch Putins Russland und das durch ihn etablierte System in die Weltpolitik zurück.

Von dem Chauvinismus-Begriff ausgehend, erkundet Fischer zunächst die jüngere Vergangenheit Russlands. Die Kriege der 90er und Nullerjahre untersucht sie dabei ebenso, wie jene Engagements, die Putin in Syrien oder Afrika einging, um das internationale Gewicht Russlands auszubauen, zu erhöhen und zu behaupten. Barack Obamas Behauptung, Russland sei eine „Regionalmacht“, wurde in Russland und vor allem von Putin persönlich als Beleidigung aufgefasst. Wahrscheinlich ist sie auch genau so gemeint gewesen.

Es ist eine lange Geschichte von Missverständnissen und Misstönen, die das Verhältnis des Westens, vor allem aber auch das der EU zu Russland während der Jahre und Jahrzehnte seit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und des Ostblocks prägt. Angefangen bei der sehr unterschiedlichen Auffassung, ob es hinsichtlich der deutschen Wiedervereinigung ein Versprechen gab, die NATO niemals gen Osten auszuweiten, bis hin zu der oftmals überdeutlichen Ablehnung im Westen, Russland als Teil europäischer Einigung und Integration zu begreifen.

Anders allerdings als bspw. Gabriele Krone-Schmalz, ebenfalls eine dezidierte Kennerin Russlands und Beobachterin des Zeitgeschehens in der ehemaligen Sowjetunion, die in den vergangenen Jahren – vor allem seit 2014, als Putin die Krim annektierte und damit jenen Konflikt eröffnete, der mittlerweile zum ersten konventionellen Landkrieg in Europa seit dem Ende des 2. Weltkriegs wurde und seit dem 24. Februar 2022 nicht nur die europäische Politik bestimmt – häufig durch Positionen auffiel, die im Westen zumindest als russlandfreundlich wahrgenommen wurden, steht Fischer ganz klar auf der Seite des westlichen Liberalismus, ist Vertreterin und Verfechterin einer pluralistischen und offenen Gesellschaft, begreift sich als Feministin und tritt somit allem Verständnis Russlands in der Putin´schen Variante entgegen.

Sie analysiert also, wenn sie auf den Chauvinismus-Begriff rekurriert, deutlich aus einer feministischen Position, aus der heraus sie Putins Politik (wenn man es denn so nennen will) auch als Bedrohung jener demokratischen und liberalen Errungenschaften begreift, die im Westen in den vergangenen 50 Jahren (wenn man 1968 einmal als Zeitenwende in diesen kulturellen Kämpfen begreifen will) durchgefochten wurden. Putins Doktrin verabscheut alles Liberale und Libertäre, er verachtet selbstbestimmte Frauen, er verachtet, ja hasst Schwule ebenso, wie die gesamte LGBTQIA+-Gemeinde, er verachtet den Westen für dessen angebliche Verweichlichung, die für ihn in einer selbstvergessenen Dekadenz gründet. Putin vertritt ein äußerst rigides Modell von Männlichkeit, das Gewalt geradezu verherrlicht, wenn nicht gar fördert und nicht zuletzt mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine immer offener zutage tritt. Es ist eine oft stark sexualisierte Gewalt, die nicht nur in der Ehe geduldet wird, sondern auch metaphorisch zum Einsatz kommt. So bediente Putin sich zu Beginn des von ihm als „Spezialoperation“ betitelten Überfalls auf die Ukraine einer recht eindeutigen Vergewaltigungsrhetorik, die das Verhältnis des Landes an der russischen Südflanke, dem er jedwede Existenzberechtigung abspricht, zu Russland als das einer Frau definiert, die sich zu beugen habe. Sie könne dies freiwillig tun – oder aber müsse mit den Folgen ihrer Weigerung zurechtkommen.

Sabine Fischer leitet nicht nur aus diesem, sondern etlichen weiteren Beispielen die These ab, dass Russland zunehmend verroht und diese Art von Verrohung auch genau so gewollt ist. Hier tritt eine ehemalige Supermacht auf, die sich gedemütigt fühlt und auf Konzepte zurückgreift, die die Welt eigentlich überwunden zu haben glaubte. Sie setzt auf Gewalt, auf das Recht des Stärkeren und den Glauben, in einer zusehends unübersichtlicheren Welt auf autoritäre Prinzipien zurückgreifen zu können und dafür weitestgehend Zuspruch zu finden. Und scheinbar wird diese Sichtweise ja auch immer wieder bestätigt. Die russische Zivilgesellschaft inklusive der Kirchen, scheint Putin weitaus mehr zugeneigt zu sein, als der Westen dies wahrhaben will. Möglicherweise eine weitere, ebenfalls fatale Fehleinschätzung.

Die Beschreibungen, in welcher Weise gerade Deutschland und die deutsche Ostpolitik – im Grunde seit den Zeiten Willy Brandts – sich immer wieder auf Russland, bzw. die ehemalige Sowjetunion, eingelassen und dabei oftmals auch überdeutliche Signale und Hinweise übersehen hat, dürften dem interessierten Leser bekannt vorkommen. Fischer hat viele davon in den einschlägigen Talkshows von – damals noch – Anne Will, Maybrit Illner oder Markus Lanz vorgetragen und erläutert. So sind gerade jene Abschnitte des Buchs, die sich mit der unmittelbaren Gegenwart beschäftigen nicht nur die, die am wenigsten neu, sondern auch jene, die zwar einleuchtend, aber immer auch kurzatmig erscheinen. Denn wie meist bei Büchern wie diesem ist es so, dass die Analyse und Beschreibung des Ist-Zustands sowie die historische Betrachtung den eigentlichen Wert ausmachen, während die unmittelbaren Ratschläge an die aktuell Mächtigen eher schmalbrüstig wirken. Wie will man auch – gerade als Wissenschaftler*in ohne die womöglich entscheidenden tagespolitischen Kenntnisse und Einblicke – Handlungsanweisungen geben? So wirken auch Fischers Hinweise, wie Deutschland, wie die EU, sich nun zu verhalten habe in der aktuellen Situation eher hilflos und reaktiv.

Interessanter wären langfristige Strategien, wie die EU als Ganzes sich entweder Russland (und letztlich auch anderen Aggressoren) wieder annähern kann, ohne einen unterwürfigen Gestus einzunehmen, oder aber Abschottung betreiben und sich wirklich unabhängig machen kann. Ein Anfang wurde durch die deutsche Regierung gemacht, indem man sich aus der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl befreite. Allerdings um den Preis, sich in die Abhängigkeiten anderer autoritärer Regime zu begeben. Und um den Preis, zu lernen, dass auf Umwegen auch Putins Gas wieder in deutschen Heizungen landet.

Fischers Buch ist eine interessante und anregende Lektüre, es ist profund, das merkt man. Doch wie in den meisten Fällen politischer Literatur beleuchtet es eben auch nur einen Teilaspekt, einen Mosaikstein im Gesamtbild einer äußerst komplexen Situation. Man wird weiter lesen müssen und sich weiter bilden müssen. Und wir werden alle – so oder so – weiterhin sehr wachsam sein müssen. Denn Russland verfolgt, das wird auch hier, auf den Seiten dieses Buchs, deutlich, ein strategisches, ein langfristig angelegtes Ziel: Es will die Zerstörung der westlich geprägten Demokratien und damit die Zerstörung der westlich geprägten Lebensstile. Wenn diese uns etwas wert sind, werden wir sie selbstbewusst und mutig verteidigen müssen.

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