ANTI-EUROPÄER. BREIVIK, DUGIN, AL-SURI & CO.

Claus Leggewie untersucht dezidiert antiliberales Denken in drei exemplarischen Fallstudien

Die Fernsehzuschauer, die am Abend des 13. November 2015 daheim in ihren Sesseln saßen, um das Freundschaftsspiel der deutschen gegen die französische Nationalmannschaft im Stade des France in Paris zu sehen, nahmen lediglich ein dumpfes Knallen wahr. Das Geräusch kennt der erfahrene Fußballgucker, da seit Jahren Böller und Pyrotechnik zu den eher unschönen Begleiterscheinungen in den Stadien Europas gehören. Erst im Laufe der Übertragung wurden sie in Kenntnis gesetzt, daß es sich um Detonationen gehandelt hatte – Explosionen von Sprengkörpern, die sich an den Körpern von Selbstmordattentätern befanden, die sich vor und im direkten Umfeld des Stadions in die Luft gesprengt hatten. Im Laufe der Nacht kamen immer mehr Nachrichten hinzu von Angriffen auf Cafés und Restaurants und schließlich, der Morgen graute bereits, wurde das ganze Ausmaß der Terrorserie deutlich: Nachdem die Halle des Bataclan, eines Clubs, in dem auch Liveauftritte stattfanden, ebenfalls zum Ort eines Anschlags geworden war, wurden insgesamt 130 tote und fast 700 Verletzte gezählt. Europa war in London, in Madrid und schon zuvor mehrfach in Frankreich von islamistischen Terroristen angegriffen worden, doch eine solche Wucht, solche Gewalt und solchen Willen zur Vernichtung kannte man bisher fast ausschließlich aus den Ländern des Nahen Ostens wie dem Irak oder Syrien oder auch aus Afghanistan. Noch dem tolerantesten und weltoffensten Bürger Europas musste nun deutlich werden, daß diejenigen, die im Namen eines Gottes zu töten bereit waren, ihre Angriffe nun direkt gegen ihren Feind – eben jenes weltoffene, tolerante und liberale Europa und das wofür es steht – richteten. Wegschauen war nicht länger möglich, die Feinde Europas saßen in seiner Mitte.

Woher kommt der Hass und wie manifestiert er sich? Wie so oft gingen der Gewalt die Worte voraus. Es gab und gibt viele Prediger des Dschihad, des „Heiligen Kriegs“, einer von ihnen war (oder ist?) Abu Musab al-Suri. In seinem AUFRUF ZUM WELTWEITEN ISLAMISCHEN WIDERSTAND, ein Werk, das durch einige Stadien ging, bevor es schließlich ca. 2004 im Word Wide Web offen zugänglich wurde, legt er die Grundzüge dessen dar, was der Titel andeutet. Neben den ideologischen Anweisungen, die der Text beinhaltet, gibt er auch dezidierte Anleitungen, wie dieser Dschihad vonstatten gehen soll: Kleine Terrorzellen, die nahezu eigenständig arbeiten, sollen den „Heiligen Krieg“ in die Großstädte des Westens tragen und so die vermeintlich „dekadenten“ Gesellschaften verunsichern und so dazu bringen, ihre Toleranz fahren zu lassen und den Endkampf um die Vorherrschaft der Glaubenssysteme aufzunehmen – und zu verlieren, da sie zu verweichlicht und schwach seien, um einen solchen Kampf gewinnen zu können. Was in seiner schwarz-weißen Sicht vollkommen indifferent und geradezu primitiv auf einen europäischen Leser wirkt, ist in seiner Wirkmächtigkeit auf diejenigen, die es ansprechen soll, nicht zu unterschätzen. Abu Musab al-Suri war (oder ist?) so gesehen einer der gefährlichsten Männer, mit denen der Westen, genauer: Europa, es zu tun hat. Abu Musab al-Suri ist ein „Anti-Europäer“.

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie identifiziert den Dschihadisten al-Suri in seiner bereits 2016 erschienenen Studie ANTI-EUROPÄER. BREIVIK, DUGIN, AL-SURI & CO. als eben diesen gefährlichen Mann, als einen Gegner europäischer Werte, zumindest als Gegner der liberalen Werte, für die Europa seit der Aufklärung stand und erst recht nach 1945 steht. Zumindest noch steht, bis jetzt. Denn al-Suri hat in Europa seine Schatten, seine Wiedergänger, seine Spiegelbilder. Anti-Europäer finden sich auch hier und auch sie sind bereits über das Stadium des Wortes hinausgegangen. Es sind Populisten, Rechtsextremisten und Anhänger scheinbar längst überholter Ideologien, die mit Macht zurück auf den Marktplatz der Weltanschauungen drängen. Immer wieder werden Ausländer, Homosexuelle, Feministinnen und als Linke Angesehene Opfer von körperlichen Angriffen, gewalttätigen Übergriffen, teils Mordanschlägen. Doch der Norweger Anders Behring Breivik ist derjenige, der mit einem beispiellosen Anschlag im Jahr 2011, bei dem er insgesamt 77 Menschen tötete, hauptsächlich Jugendliche eines Lagers der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, ans Licht der Öffentlichkeit trat.

Er ließ sich nach seinem Massenmord auf der Ferieninsel Utøya widerstandslos festnehmen und liefert seitdem ein makabres Schauspiel in diversen Prozessen, die gegen ihn und von ihm angestrengt wurden. Er begreift sich als politischer Gefangener und zeigt keinerlei Reue, ganz im Gegenteil. Er versteht sich als Kämpfer für ein weißes, christliches Europa, das vor allem einem immer übermächtigeren Islam Einhalt gebieten müsse. Seiner vertrackten Logik nach musste er die „sozialistischen“ Jugendlichen töten, da ihre Eltern dafür verantwortlich seien, daß ein verweichlichtes (sic!) und „schwaches“ (sic!) Europa, in dem Schwule und Feministinnen, Liberale und Linke (sic!) den Ton angeben, den Islam überhaupt erst so stark hat werden lassen. Deren Nachwuchs zu töten, betrachtete er als Präventivschlag. In einem nahezu 1500seitigen Konvolut mit dem Titel 2083: EINE EUROPÄISCHE UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG ließ er die Welt per Internet an seinen durchaus wirr wirkenden Ideen und ideologischen Grundsätzen teilhaben. Obwohl er sich dezidiert von den Ideen der Nationalsozialisten abgrenzt, wählt er den Hitlergruß, um sich vor Gericht darzustellen, entspricht vieles in seinem Gedankengebäude – teils esoterischer Natur, teils rein ideologischer – genau diesen Ideen. Damit stellt auch er sich gegen das liberale, weltoffene und tolerante Europa, wie wir es seit nunmehr 70 Jahren kennen.

Leggewie nennt diese Anti-Europäer und ihre Ideen exterministisch. Und er findet in dem Russen Alexander Dugin eine dritte Form dieses Exterminismus´. Dugin hat in zahllosen Aufsätzen und Interviews, in eigenen Werken und Beiträgen zu Sammelbänden seine Idee eines eurasischen Weltreiches dargelegt. Es ist eine spezifische Form faschistoiden Gedankenguts, das sich explizit gegen den (west)europäischen Liberalismus wendet und, angereichert mit religiösen und esoterischen Versatzstücken, einem „Kampf der Kulturen“ das Wort redet, aus welchem die stärkere als Sieger hervorgeht. Dabei ist sein Denken nicht eindeutig schon bekannten Ideologien zuzurechnen. Er will eine Demokratie, doch soll es eine sein, die der „herrschenden“ Mehrheit absolute Macht über Minderheiten einräumt. Minderheiten werden geduldet, solange sie sich ruhig verhalten, werden sie aufmüpfig oder fordern Rechte ein, dürfen sie durchaus vernichtet werden. Vernichtung, Mord, auch Massenmord, sieht Dugin nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern er weist dem Töten sogar einen – ebenfalls religiös konnotierten – Stellenwert an sich zu.

So unterschiedlich diese drei Stellvertreter exterministischen Denkens auch anmuten, ja, so sehr sie sogar einander zu Todfeinden werden müssen in ihrem jeweiligen Kampf für etwas Absolutes, das jeweils ein Heilsversprechen in sich trägt, so sehr gleichen sie sich in ihrer Gegnerschaft zu den Werten Europas, wie sie heute (noch) vertreten werden. Sicher – und darauf weist auch Leggewie hin – sind es Extreme, die hier beschrieben werden, doch stehen sie exemplarisch für Denkrichtungen, die in abgemilderter Form wieder um sich greifen und das liberale Europa eben nicht nur von außen – wie es der Islamismus offenkundig tut – , sondern eben auch von innen her angreifen. Unscharf wird seine Analyse dort, wo er vielleicht allzu schnell von einem Massenmörder wie Breivik auf die neuen rechtspopulistischen Bewegungen schließt, die, zumindest bisher, zwar immer wieder mit nationalem und völkischem Gedankengut spielen, sich jedoch (noch) zurückhalten, was offene Forderungen nach gewalttätiger Exklusion oder gar Vernichtung klingt. Andererseits, bedenkt man, daß der Text nun zwei Jahre alt ist, kann man zumindest in den sozialen Netzwerken des Internets immer hetzerischere und zu Gewalt auffordernde Kommentare lesen, deren Urheber keineswegs davor zurückschrecken, das oben beschriebene Gedankengut zu verbreiten. Es mag kaum jemand Breiviks wirren Text komplett gelesen haben, aber die Quellen, die er nutzt, sind durchaus dieselben, aus denen sich auch die Vordenker der „neuen Rechten“ bedienen. Seine Ideen mögen krude, wenig durchdacht und oftmals wirklich wirr erscheinen, doch sind sie letztlich anschlußfähig an die der neurechten Think Tanks.

Neu mag das alles nicht mehr sein, auch nicht die Erkenntnis, daß sich extreme Ideologien bedingen und ergänzen, die zunächst im Widerspruch zueinander zu stehen scheinen, dennoch sollte man dankbar sein, daß sich hier mit kundigem Wissen eine Stimme erhebt, die die Aufgabe der „Gegnerforschung“ betreibt. „Gegnerforschung“, ein Begriff, den Wolf Lepenies geprägt hat, tut bitter Not, um zu begreifen, womit man es im Kern zu tun hat. Was wir dem entgegensetzen können? Letztlich nur genau das, was Europa, bei all seinen Fehlern und historischen Irrgängen, seit nunmehr fast 300 Jahren auch ausgezeichnet hat: Aufklärung. Aufklärung im besten Sinne des Wortes: Unaufgeregt, wissenschaftlich, genau und vor allem angstfrei. Man muß die Feinde der Freiheit kennen, sollte ihre Denkstrukturen studieren und sich bemühen, sie zu verstehen. Dann gelingt es vielleicht, wieder eine kraftvolle Idee hervorzubringen, die Europa, seine Werte und Errungenschaften hervorhebt, unterstützt und erneut attraktiv werden lässt. Es wird einen Grund haben, daß die Massen, die „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon), hierhin streben und daß sie immer noch an das glauben, was die Europäer aus dem Blick verloren zu haben scheinen: Die Hoffnung auf ein besseres Leben in Frieden, Wohlstand und Freiheit.

 

 

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