DAS LICHT, DAS ERLOSCH. EINE ABRECHNUNG/THE LIGHT THAT FAILED. A RECKONING
Ivan Krastev und Stephen Holmes legen eine brillante Analyse jener illiberalen osteuropäischen Bewegungen vor, die den Westen so überraschen und ängstigen
Mittlerweile ist es unwidersprochen, daß der liberale, pluralistische und vor allem kapitalistische Westen – auch wenn das ein weit umgreifender Begriff ist – in den Jahren 1989/90 siegesbesoffen dem Glauben verfiel, daß der Untergang des Kommunismus ein weltgeschichtlich folgerichtiges Ereignis gewesen sei und die liberale Demokratie sozusagen das natürliche Staatsmodell der Zukunft sei – und zwar global gesehen. Paradigmatisch war es Francis Fukuyama, der mit seinen Thesen vom „Ende der Geschichte“ diese Haltung vertrat. Wer Augen hatte, zu sehen, und Ohren, um zu hören, der ahnte früh, daß dies ein etwas naiver Ansatzpunkt war. Nun, ca. 30 Jahre später, stellen teils die gleichen Leute, die damals der Meinung waren, einen welthistorischen „Sieg“ errungen zu haben, verwundert fest, daß sich in weiten Teilen der Welt – ob im Osten Europas, ob in Russland oder in China – keinesfalls demokratische Modelle westlicher Prägung durchgesetzt haben. Vielmehr sind es ganz unterschiedliche, meist un-ideologische Modelle mal mehr, mal weniger demokratischen Anstrichs, die zunehmend gewählt werden. „Gewählt“ im wahrsten Sinne des Wortes: Ob Viktor Orbán in Ungarn, Jarosław Kaczyński in Polen oder – wenn auch in einem strukturell anderen System und Verfahren – Wladimir Putin in Russland, wurden Vertreter einer „illiberalen Demokratie“ mit überzeugenden Mehrheiten gewählt, also vom Volk in Machtpositionen gehoben und darin bestätigt. China stellt einen Sonderfall dar, da das Land bei steter wirtschaftlicher Öffnung seit den 1980er Jahren politisch-ideologisch einfach seinen kommunistischen Werten treu geblieben ist und zumindest formal weiter ein Ein-Parteien-System herrscht, das sich de facto längst ent-ideologisiert hat.
Warum dies geschah, weshalb sich gerade die osteuropäischen Länder – und Regionen, nimmt man die sogenannten „neuen“ Bundesländer des wiedervereinigten Deutschlands hinzu – von den Verheißungen der sozialen Marktwirtschaft und jenen des Kapitalismus und damit auch denen der liberalen Demokratie abgewandt haben, versuchen seit geraumer Zeit viele kluge Wissenschaftler und Theoretiker zu hinterfragen und zu analysieren. Philip Ther untersuchte bspw. DAS ANDERE ENDE DER GESCHICHTE und legte eine essayistische Studie der Entwicklungen seit 1989 vor. Ivan Krastev und Stephen Holmes legen mit DAS LICHT, DAS ERLOSCH (THE LIGHT THAT FAILED; Original erschienen 2019) eine allerdings tiefgreifendere Analyse vor, die nicht nur einen – wenn auch gesondert aus einem ganzen Komplex an Erklärungen herausgegriffenen – Grund für das Versagen der liberalen Demokratie in den Ländern des ehemaligen Ostblocks benennt, sondern hoch interessante und auch verstörende Einblicke in die Entwicklung vor allem des nach-sowjetischen Russland bietet.
Der Kernbegriff, um den die Autoren kreisen, ist der der „Nachahmung“. Sie konstatieren, daß die Länder Osteuropas nach 1989/90 damit begannen, die liberalen Demokratien des Westens teils zu imitieren, teils in leicht abgeänderter Form zu adaptieren. Zunächst war dies Ausdruck des Glaubens und der Hoffnung, auf recht schnellem Wege den Wohlstand zu erreichen, den man im Westen vermutete. Allerdings – das machen Krastev und Holmes sehr deutlich – ahmte man ein Modell nach, wie man es sich vorstellte, kein real existierendes, sondern eine idealisierte Form des Westens, die man teils vom Hörensagen, teils aus den Medien, teils aber wirklich nur aus der Werbung kannte. Die Enttäuschung, die solcher Nachahmung folgen musste, war diesen idealisierten Vorstellungen inhärent.
Schnell jedoch kommen die Autoren zu Differenzen und deutlichen Unterschieden der Ausprägungen dieser Nachahmungen. Was im Ideal wie eine wunderbare Vorstellung einer hehren Zukunft wirkte, entpuppte sich im Laufe der Zeit als ein Frankenstein-Geschöpf, bei dem die einzelnen Teile, aus denen es zusammengesetzt wurde, kaum zueinander passen und dessen Selbstwahrnehmung zu Selbsthass, Verachtung des „Schöpfers“ und Ablehnung dessen, was einst verheißen wurde, geführt hat. Doch während Länder wie Polen und Ungarn, die teils von Leuten geführt werden, die einmal in klarer Opposition zu den in ihren Ländern herrschenden Systemen standen, in Viktor Orbáns Fall sogar wirkliche Dissidenten waren, sich daran machten, den westlichen Liberalismus wirklich zu simulieren, in der Hoffnung, aufzuholen und ähnlichen Wohlstand zu generieren, liegen die Dinge bspw. in Russland ganz anders.
Nach einer Dekade des brutalsten Raubtierkapitalismus´, während dessen übelsten Jahren Mitte der 90er Jahre der Staat nur durch eine reine Demokratie-Simulation zusammengehalten werden konnte, änderte sich die Politik Russlands unter Wladimir Putin fundamental. Nachdem Putin feststellen musste, daß er sich auf westliche Versprechen – keine Ausweitung der NATO bspw. – nicht verlassen konnte, imitierte er die westliche Demokratie immer stärker ex negativo. Er mühte sich nicht, die wirklichen Errungenschaften zu installieren – Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Ausgleich – sondern jene Verirrungen, die er als bigott empfand und mit deren Imitation er meinte, dem Westen die Maske herunterreißen zu können und seine wirkliche, hässliche Fratze zu entblößen. Übergriffigkeit auf andere Länder, verlogenen Kriege, die angeblich für die Menschlichkeit, allzu oft aber erkennbar nur für Rohstoffe geführt wurden, innere Widersprüche – Putin wollte diese Seiten des Westens und seiner Versprechungen offenlegen. Krastev und Holmes konstatieren hier eine extrem kurzsichtige Politik, deren Movens durchaus auch Rache ist. Zugleich verfolgt Putin das Ziel, Russland, dessen Trauma des Verlusts nach 1990/91 im Westen nie wirklich wahrgenommen wurde, wieder als Großmacht auf die politische Weltbühne zu hieven. Dabei bieten die Autoren erstaunliche Einblicke in die Simulation einer Demokratie. So beschreiben sie bspw. die ofenkundig manipulierten Wahlen in Russland als genau so gewollt. Gerade die Manipulation, von der jeder weiß, stellt den starken Staat aus. Sie beschreiben dies als eine Art unausgesprochenen Akt zwischen der Bevölkerung und dem Staat, bzw. seinen herrschenden Repräsentanten: Das Volk wird „beschützt“, verzichtet dabei bereitwillig auf gewisse rechtsstaatliche Freiheiten, der autoritäre Staat beweist dem Volk (und sich selbst) seine Macht gerade eben dadurch, daß er Wahlen manipuliert. Dies zu können, ist die eigentliche Aussage des gesamten Vorgangs.
Krastev und Holmes bieten in dem Russland-Kapitel genau solch atemberaubende Einblicke, die in westlichen Analysen selten bis gar nicht erwähnt werden, die aber ihrer eigenen Logik nach zwingend sind. Auch mit gewissen westlichen Vorurteilen räumen die beiden auf. Während in Deutschland mit dem Aufkommen einer Partei wie der AfD (Alternative für Deutschland) offener Rassismus und Fremdenfeindlichkeit scheinbar gesellschaftsfähig wurden, permanent eine Angst vor Überfremdung geschürt wurde, wo man als realistisch denkender Mensch weder eine „Umvolkung“, noch einen „Untergang des Abendlandes“ erkennen kann, beruhten die osteuropäischen Ängste auf geradezu gegenteiligen Analysen: Länder wie Ungarn, aber auch Rumänien und Bulgarien, erlebten in den 30 Jahren seit der europäischen Wende einen enormen Abfluß an Bildung und Fachkraft. Die gebildeteren Bürger dieser Länder suchten ihr Heil in (West)Europa, suchten Arbeit in den westlichen Ländern, studierten (wie übrigens auch Orbán) an westlichen Eliteuniversitäten und blieben oftmals dort. Zwar machen die demographischen Ängste, die sich hinter diesen Abgängen oftmals eines Viertels der Bevölkerung verstecken, fremdenfeindliche und demagogische Ausfälle nicht besser oder entschuldigen sie gar, dennoch lernt man die Differenzen zwischen westlichen Ängsten, die gelegentlich wie Kollektiv-Paranoia wirken, und durchaus berechtigten Ängsten in den betreffenden Ländern zu verstehen. Das daraus illiberales staatliches Verhalten resultiert, ist allerdings besorgniserregend und keineswegs zwangsläufig oder folgerichtig. Daran lassen auch die Autoren keine Zweifel aufkommen.
Der Titel des Buches spielt auf eine Geschichte von Rudyard Kipling an, die er einst mit zwei Enden ausstattete: Einem pessimistischen und einem optimistischen. Genauso sehen Krastev und Holmes den Ausgang der aktuellen politischen Situation, global gesehen. Allerdings postulieren sie in ihren Schlußkapiteln eine Entwicklung, die zunächst auf wenig Gutes hoffen lässt. Im Fall der USA unter Donald Trump thematisieren sie die Ängste des Nachgeahmten. Trump behauptet offen die Nachteile der Nachahmung für den Nachgeahmten, der dadurch nur Nachteile habe, da er gebe, aber wenig dafür bekomme. Deshalb wolle er ein America First das weniger bedeute, Amerika zuerst, sondern Amerika als Gleicher unter Gleichen, ein Wettbewerb, in dem es sich dann immer durchsetzen könne, da es schlicht stärker, innovativer und wirtschaftsmächtiger sei. Das Trump´sche Amerika will nicht mehr nachgeahmt werden, es will einfach sein Ding durchziehen, was im Falle dieses spezifischen Präsidenten eben auch bedeutet, daß der Gewinner all der abgeschlossenen Deals alles bekommt – the winner takes it all. Eine brutale Vorstellung internationalen Handels und Handelns.
China wiederum sehen die Autoren als die eigentliche Herausforderung der Zukunft. Denn hier hört die Nachahmung auf. China will nicht nachahmen, China transformiert. Es will die Errungenschaften westlicher Industrie und Wirtschaft, doch zu seinen eigenen, nicht-demokratischen Bedingungen. Wenn, wie das Buch es behauptet, die 30 Jahre nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch des Kommunismus in seiner real existierenden Variante, eine Übergangsphase gewesen sind, stellt sich die Frage: Was nun? China gibt darauf eine zumindest aktuell scheinbar wirkmächtige Antwort. Es beweist, daß die Idee, daß mit der Marktwirtschaft Liberalismus und schließlich die Demokratie, wir der Westen sie kennt, auf gleichsam natürlichem Wege folgten, eine Fehleinschätzung war und ist. Vielmehr zeigt China dem Westen, daß man auch in einem autoritären Ein-Parteien-System durchaus erfolgreich wirtschaften kann, dabei aber die Demokratie komplett außen vorlässt. Ein Modell, das vor allem für westliche Politiker vom Schlage eines Donald Trump oder Boris Johnson durchaus attraktiv wirken könnte.
So bleibt die Zukunft – wie meist – offen und die Geschichte schreitet voran, auch wenn westliche Konservative dies lange nicht wahrhaben wollten. Um auf den aktuellen Stand des Diskurses zu gelangen, sollte man DAS LICHT, DAS ERLOSCH unbedingt lesen. Es hilft, einzuschätzen, zu verstehen, aber auch, den Alarmismus aus der Debatte zu nehmen. Trotz seines etwas hart klingenden Untertitels – EINE ABRECHNUNG – ist dies ein im besten Sinne des Wortes aufklärerisches Werk.