DIE ERWEITERUNG
Robert Menasse schreibt einen weiteren Roman zur EU, diesmal widmet er sich der titelgebenden Erweiterung gen Balkan
Schiffe sind immer eine gute Metapher oder eine hervorragende Allegorie. Man kann auf ihnen Gesellschaftssysteme darstellen, historische Bewegungen, ja, ganze Epochen, wenn man will. Und so greift auch Robert Menasse in seinem jüngsten Roman DIE ERWEITERUNG (2022) auf ein Schiff zurück, um die schlingernde EU zu portraitieren. Das macht zwar nur die letzten 150 Seiten seines Buchs aus, doch läuft ein Teil der sehr verschiedenen Handlungsstränge auf genau diese Kreuzfahrt durch das Mittelmeer hinaus. Eine Situation, die es zulässt, symbolisch nicht nur eine abgehobene und auch in sich geschlossene Machtelite auszustellen – im Buch Deck Acht, wo die Staats- und Regierungschefs sich ein Stelldichein geben – , die spricht, wenn es ihr genehm ist und schweigt, wenn das angebrachter scheint, sondern auch sämtliche Krisen, die dieses Europa in den vergangenen zehn Jahren umtrieb: Die Flüchtlingskrise 2015, die in Wirklichkeit viel früher begann, allerdings niemanden interessierte, solange die Flüchtenden den Anstand hatten, ungezählt und still im Mittelmeer zu ertrinken; die Pandemie, die die Europäer scheinbar so unvorbereitet traf und nicht nur politische Prozesse blockierte, sondern das gesellschaftliche Leben nahezu gänzlich zum Stillstand brachte; vor allem aber den Nationalismus, der seit geraumer Zeit sein hässliches Haupt wieder in Europa erhebt.
2017 veröffentlichte Menasse DIE HAUPTSTADT, einen von der Kritik zunächst gefeierten Europa-Roman, der erst nach und nach kritisch hinterfragt wurde und dem Autor dann auch manchen Tadel einbrachte. Er habe falsche Zitate in den Text geschmuggelt, vor allem aber sei die Geschichte oberflächlich und durchdringe das Sujet nicht in der Tiefe. Ein Vorwurf, den man gelten lassen kann. Und auch am Folgeband DIE ERWEITERUNG kann man wieder eine gewisse Oberflächlichkeit konstatieren, die mit etlichen Handlungssträngen, die nicht alle aufgehen, übertüncht wird. Menasse, so viel steht fest, ist ein überzeugter, ja glühender Europäer, er tritt seit langem schon für ein klares Bekenntnis zu einer föderal gegliederten Europäischen Union ein, die schließlich die europäischen Nationalstaaten ablösen soll. Ein Konstrukt, über das seit Jahren, ja Jahrzehnten, oft erbittert, gestritten wird. Aber auch ein Konstrukt, das, seit in den letzten zehn Jahren (und mehr) die Reaktion sich bemerkbar macht und in immer mehr europäischen Staaten mittlerweile auch in Regierungsverantwortung steht, in weite Ferne gerückt ist.
Um all die verschiedenen Themen, die diese EU betreffen, unter einen Hut zu bringen, kapriziert Menasse sich auf drei große Handlungsstränge. Adam Prawdower, polnischer Beamter in der europäischen Kommission, wo er im Referat für die Erweiterung, Schwerpunkt Osteuropa, arbeitet, sieht die EU vor allem durch sein Heimatland bedroht. Sein „Blutsbruder“ Mateusz, mittlerweile polnischer Staatschef und dabei, das Land nach seinem Gutdünken umzubauen, ist sein Feind, den er umzustimmen hofft, zugleich aber auch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln bekämpft. Derweil will der albanische Präsident sein Land in die EU führen, sieht aber, daß dies mit vielen Versprechen und Hinhaltetaktiken auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wird. Wofür nicht zuletzt die Polen verantwortlich sind. Deshalb organisiert er jene Kreuzfahrt, die die europäischen Staatschefs auf der SS Skanderbeg zusammenbringen und davon überzeugen soll, wie wichtig es ist, daß auch die osteuropäischen, vor allem die Balkanstaaten, aufgenommen werden. Um dieses Ziel durchzudrücken, setzt aber auch er auf die Nationalismus-Karte. Er will eine Replika des berühmten Helms von Skanderbeg – albanischer Nationalheld, der einst Europa vor dem Ansturm der Osmanen bewahrt haben soll und somit für die Europäisierung Albaniens stehe – herstellen lassen, um sich als Führer aller Albaner, gleich wo sie leben, – derer es bspw. sehr viele in Süditalien gibt – zu präsentieren. Die Opposition regt daraufhin den Diebstahl der originalen Helms – oder dessen, was man gemeinhin dafür hält – aus einem Museum in Wien an, wo er Teil einer Dauerausstellung ist. Dadurch kommen zwei Polizisten in die Handlung, der Wiener Kommissär für Diebstahl und ein Europol-Beamter. Allerdings ruft der Diebstahl auch eine ganze Reihe zwielichtige Figuren auf den Plan, die an dem Helm interessiert sind – oder daran interessiert sind, ihn bald zurück zu geben, da die Fahndung danach ihre Geschäfte stört. Und dann ist da noch der Referent für Erweiterung Karl Auer, der auf einer Dienstreise nach Albanien in die Juristin Baia Muniq kennen- und lieben lernt.
So strickt Menasse ein weites Netz aus Einzelschicksalen, in denen sich europäische Schicksale und europäisches Schicksal spiegeln, auch brechen. Leider gelingt es ihm aber nicht, dies alles in eine kohärente, in sich geschlossene Handlung zu übersetzen. Im Grunde hat man es mit (mindestens) drei Romanen in einem zu tun. Und jeder einzelne dieser Romane wäre es wert gewesen, geschrieben zu werden. Und vielleicht hätte eine Trilogie, die sich hier und da überschneidet, letzten Endes auch mehr über die Beschaffenheit und die Problemlage dieses Konstrukts erzählt, das so vielen Bürgern, auch in Deutschland, immer abgehobener und entrückter scheint. Und vielleicht wäre in einer Trilogie auch das Anliegen des Autors besser zur Geltung gekommen. Er hätte jedem dieser Schicksale, jeder dieser Geschichten die nötige Aufmerksamkeit schenken können, hätte jeder dieser Geschichten auch in Winkel folgen können, die nun, in diesem weit über 700 Seiten starken Roman, oft oberflächlich, häufig wie angerissen und nicht bis an ihr Ende erzählt wirken.
Denn so, wie der Roman sich dem Leser nun präsentiert, ist es Stückwerk, das sich manchmal an sich selbst überhebt, manchmal auch einfach an seinem durchaus vorhandenen Humor verschluckt. Natürlich ist die ganze Symbolik um den Helm des Skanderbeg hervorragend geeignet, jene seltsame Doppelstrategie zu symbolisieren, die westliche europäische Länder immer wieder in den östlichen Beitrittsstaaten wahrnehmen: Der paradoxe Versuch, Nationalismus und europäischen Geist unter einen Hut zu bringen. Ob Polen oder Ungarn, Bulgarien oder eben jene Beitrittskandidaten, die gern unter „Balkan“ subsumiert werden – sie alle spielen immer wieder mit nationalistischen Elementen und Versatzstücken, wollen zugleich aber an die europäischen Geldtöpfe. Ob sie in die europäische Wertegemeinschaft wollen, steht in den Sternen. Der Helm und die Symbolik, die er repräsentiert, verdeutlichen das Erpressungspotenzial, das in der nationalistischen Drohung steckt. Mit den Figuren des Mateusz und des Adam Prawdower greift er das damit angedeutete politische, das polnische Dilemma explizit auf, auch wenn er hier keine Zwillinge, sondern eben „Blutsbrüder“ einführt, die sich um die polnische Sache streiten (wobei die Zwillinge ja, solange beide noch lebten, mehr oder weniger an einem Strang gezogen haben). Und anhand der doppelten Liebesgeschichte – neben jener des Karl Auer und von Baia Muniq gibt es noch einen ausgedehnten Exkurs ins albanische Hinterland, wo eine TV-Moderatorin und ein ehemaliger Berater und Sprecher des albanischen Präsidenten ihre Liebe zueinander entdecken, allerdings mit tragischem Ausgang – gibt Menasse seiner Geschichte einen Hoffnungsschimmer, wenn auch einen eher kitschigen. Denn, so scheint der Autor hier sagen zu wollen, solange die Liebe eine Chance hat, solange ist diese EU nicht verloren. Liebe überwindet Grenzen.
Spätestens, wenn Menasse sein gesamtes Personal aber auf die SS Skanderbeg schickt und dort die großen europäischen Fragen im Klein-Klein untergehen, wechselt der Roman von einer durchaus realistischen Ebene, inklusive eines Kriminalfalls europäischen Ausmaßes, auf eine rein allegorische Ebene. Und allerspätestens, wenn immer wieder das Warnsignal „Code Alpha“ über die Decklautsprecher ertönt und die ärztliche Belegschaft des Schiffes damit zusammenruft, da ein medizinischer Notfall eingetreten ist, merkt man, wie Menasse während des Schreibprozesses von der Wirklichkeit eingeholt wurde. Covid-19, landläufig Corona genannt, übernahm die Herrschaft über ein zutiefst verunsichertes Europa und für zwei Jahre schien wirklich nichts mehr, wie es war. Und so also geschieht es auch den Amtsträgern und den Beamten an Bord des Schiffes. Nun also sitzen sie alle gemeinsam auf diesem Schiff, das vom Kurs abkommt, weil kein Hafen entlang der Adria und dann im restlichen Mittelmeer bereit ist, Landeerlaubnis zu erteilen. Als der Kahn dann schließlich auf den offenen Ozean vor Marokko driftet, wird er (natürlich) mit einem Flüchtlingsboot konfrontiert und die Protagonisten werden entsetzt Zeugen, wie die Flüchtenden nach und nach absaufen. Natürlich auch dies nicht ohne Symbolik – denn eine der ertrinkenden Frauen aus dem Boot reckt die rechte Faust in die Luft, während sie untergeht.
Das ist dann nicht mal mehr Humor, das ist dann doch der blanke Zynismus. Und trifft. Denn es stimmt ja: In dem Moment, in dem Europa wirklich vor Problemen stand, wurden die Sorgen, Ängste und die Not der afrikanischen Länder und anderer Staaten der einstmals „3. Welt“ völlig vergessen und außen vorgelassen.
Wie so oft ist vieles davon richtig und Menasse hat auch recht, wenn er Europa in seinem Roman einen Spiegel vorhält, der das verzerrte Gesicht dieses (politischen) Kontinents zeigt, eine Art europäischer Dorian Gray. Doch wie so oft beweist DIE ERWEITERUNG eben auch, wie schwierig es ist, einen politischen Roman zu schreiben. Erst recht, wenn man der Komplexität und auch der gelegentlich eben langwierigen Prozesse, die politische Arbeit mit sich bringt, gerecht werden will. Das Changieren zwischen dem großen Bild und dem Einzel- und/oder Privatschicksal funktioniert nur bedingt, denn das Einzelschicksal spiegelt niemals das große Ganze. Kann es auch nicht. Im Einzelschicksal kann man die Utopie aufzeigen, die bspw. in der Liebe sich zeigt. Doch Europa als EU bleibt Bürokratie, bleiben lange Verhandlungsnächte und komplizierte Verträge, die selten den Ansprüchen gehobener Prosa genügen. Und dies darzustellen, hilft dann oft eben nur noch Symbolik. Und die ermüdet, irgendwann.