DIE MITTELLOSEN/NINCSTELENEK

Ein bedrückendes Zeitbild aus dem Ungarn der späten 60er und frühen 70er Jahre

Armut macht edel, hilfreich und gut! Armut macht edel…hilfreich und….gut? Selten wurde dem Leser so traurig, konsequent und verstörend gnadenlos vor Augen geführt, daß Armut eben nicht edel, hilfreich und gut macht, sondern oftmals zu Hass, Wut, Ausgrenzung, Verachtung und Gewalt, wie es Szilárd Borbély in seinem Roman DIE MITTELLOSEN (NINCSTELENEK; erschienen 2013, Dt. 2014/16) beschreibt.

Autobiographisch anmutend erzählt er aus dem Dorf im Nordosten Ungarns, nah den Grenzen zur Ukraine und Rumänien, in welchem er aufwuchs. Geschildert wird die Zeit Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Das Dorf lebt in bitterer Armut, rückständig, was Infrastruktur, Versorgung und gesellschaftlichen Umgang betrifft. Der assoziativ zwischen den zeitlichen Ebenen seiner Kindheit springende Ich-Erzähler berichtet davon, wie er schon früh schwere körperliche Arbeit verrichten musste, er erzählt vom Hunger und davon, wie die Dorfgemeinschaft unter den „neuen Herren“ dafür sorgte, daß diejenigen, die während der Horthy-Diktatur mitgemacht haben oder auch Opfer waren, sich ruhig verhalten aber auch nie vergessen, wer sie waren, wer sie sind. Die Mitläufer werden stigmatisiert, das Leid der wenigen Juden, die nach dem Krieg zurückgekehrt sind, wird beschwiegen. Ein allgemeiner Antisemitismus herrscht nach wie vor. Die Familie des Erzählers wird gleich in mehrerlei Hinsicht angefeindet: Sie sind nicht aus dem Dorf, sondern – auch wenn das nun bereits zwei Generationen zurückliegt – als Ruthenen aus Rumänien gekommen, zumindest ein Großvater hat unter Horthy gedient und vertritt nach wie vor die militaristischen, revisionistischen und reaktionär-faschistoiden Ansichten des Regimes, zudem ist der Vater des Erzählers angeblich – so will es der Dorfklatsch wissen und so haben seine Geschwister ihn einst um seinen Erbanteil geprellt – der uneheliche Sohn eines Juden.

Borbély nutzt lange eine einfache, redundante Sprache und erzählt fast rigoros aus einer kindlichen Perspektive. Das ist gewöhnungsbedürftig für einen erwachsenen Leser. Kurze Hauptsätze, kaum Einschübe, keine Nebensätze – man findet sich in einer Kindererzählung wieder, die von Brutalität, Vulgarität und permanentem psychischen Stress berichtet. Der Vater ein Nichtsnutz in den Augen einer ebenso verzweifelten wie in ihren Urteilen gnadenlosen Mutter, diese selbst ein psychisches Wrack, welches den Kindern – neben dem Erzähler eine Schwester und ein Neugeborenes, das im Laufe der erzählten Jahre bald stirbt und dessen Tod außer der Mutter niemand beweinen mag – wieder und wieder mit Selbstmord droht, um endlich all das Elend hinter sich zu lassen. Eine Tante lebt mit im Haushalt, die möglicherweise geistig zurückgeblieben ist, möglicherweise aber auch in den Schrecken des Krieges und der Diktatur einen Rückzug in den Wahnsinn angetreten hat.

Es gibt hier keine stringente Erzählung, keine „Geschichte“ im Sinne eines fortlaufenden Plots. Borbély gibt im Grunde reine Alltagsbeobachtungen wieder, bei denen er hin- und herspringt, aus der Perspektive des sechsjährigen zu der des elfjährigen und zu jener irgendwo dazwischen. Anlaß für diese Sprünge sind einzelne Szenen, Alltagsszenen, die ihn an frühere Momente erinnern oder veranlassen, dem Leser bestimmte Zusammenhänge zu erläutern, bis er gelegentlich zur Ausgangssequenz zurückkehrt, diese aber auch oft fallen lässt. Er erzählt vom Leben im Dorf, davon, wie der Vater keine Arbeit findet, sogar systematisch von der Arbeit ausgeschlossen wird, er berichtet davon, wie die beiden Großväter den Kindern ganz unterschiedlich „Geschichte“ vermitteln, immer wieder vom Gegensatz von „Kulaken“, Bauern und Zugezogenen, er berichtet von der alltäglichen Gewalt, die gegen die Kinder ausgeübt wird – durch die Mutter, durch die Lehrer, manchmal durch Gleichaltrige – und davon, wie diese Gewalt weitergegeben wird an Schwächere, zumeist Tiere, die oft mit Hingabe gequält werden. Überhaupt sind Gewalt und die Vulgarität der Erwachsenen eines der zentralen Themen dieser Schilderungen. Es ist eine gnadenlose Welt, in der Mitleid letztlich bestraft wird. Die Hühner leben mit den Menschen gemeinsam in den Häusern und werden doch geschlachtet, wobei dies in Abwesenheit des Vaters, als er endlich Arbeit findet, dafür aber weit wegziehen muß, nicht unbedingt fachmännisch ausgeübt wird. Die Katzen werden gequält, man lässt sie verhungern oder tötet sie rituell, um Neugeborenen das Träumen auszutreiben. Würfe, die nicht gebraucht werden, ertränkt man in der Sickergrube oder erschlägt sie mit einem Knüppel. Die Kinder werden beschimpft, üble, teils obszöne Beleidigungen sind an der Tagesordnung, auch durch die eigenen Eltern und Verwandten.

Im Laufe dieser 320 Seiten taucht der Leser in eine Welt ein, die unglaublich weit weg, die kaum vorstellbar erscheint, und dennoch mit einer Beiläufigkeit geschildert wird, die wenig Zweifel an ihrer Authentizität zulässt. Der Suhrkamp-Verlag hat seiner Ausgabe zwei Texte von Borbély beigestellt, die das Leben des Autors ein wenig erhellen und die Grenze zwischen Autobiographie und Fiktion erklären. Der erste – VERLORENE SPRACHE – bietet noch einmal einen Kurzabriss der Kindheit Borbélys, wobei er dezidiert auf den Verlust der Sprache eingeht, darauf, wie die Kinder in dieser Welt aus den unterschiedlichsten Gründen – familiären, gesellschaftlichen wie politischen – nicht reden sollten und durften, wie sie, die ihre Eltern zu Siezen hatten, in einer zunehmenden Sprachlosigkeit versanken und wie er, der Schriftsteller, ein Leben lang – ein kurzes Leben lang, denn er brachte sich 2014 auch aufgrund einer schweren Depression um – um diese verlorene Sprache kämpfen, sie sich geradezu zurückerobern musste. Dieser Kampf um Sprache ist im Text selbst ebenfalls dokumentiert, da die anfänglich so kindlich anmutende Sprache langsam auflockert, vielschichtiger wird, bis auf den letzten Seiten des Haupttextes schließlich ein fast achtzehnjähriger spricht, der sich bereits eine eigene Sprache, einen eigenen Duktus  angeeignet hat.

Der zweite nachgeschobene Text – AUCH DIE ERINNERUNG IST FIKTION – nähert sich dezidiert dem Spannungsverhältnis zwischen der eigenen Erinnerung und der Konstruktion von Erinnerungen, ein Thema, das nicht nur Borbély nachhaltig beschäftigt hat. In Ungarn ist Borbély vor allem als Lyriker bekannt geworden und in Erscheinung getreten. Von Péter Esterházy und Péter Nádas maßgeblich unterstützt, konnte er nicht nur veröffentlichen, sondern auch an der Hochschule von Debrecen lehren. In DIE MITTELLOSEN scheint er sich von der Erinnerung und der Qual, die sie bedeuten kann, freigeschrieben zu haben. Es ist ein manchmal schwer erträglicher Text, ein radikal subjektiver Text, der dennoch einen Einblick in eine Zeit in einem Land bietet, die gerade für westlich sozialisierte Leser nur sehr schwer nachvollziehbar, vorstell- und erfassbar ist. Doch scheint hm dies nicht wirklich geholfen zu haben. Wie zwei Nachworte der Übersetzer Heike Flemming und Lacy Kornitzer belegen, muß Borbély schwer unter der jüngsten Entwicklung Ungarns gelitten haben. Zu seinen sicherlich persönlichen psychischen Problemen gesellte sich eine tiefsitzende Angst nicht nur um das eigenen (soziale und gesellschaftliche) Leben, sondern auch um ein Land, das ihm trotz aller Beschwernisse eine Heimat war und das sich zusehends von den vermeintlichen Errungenschaften der Demokratie nach den Wendejahren 1989/90/91 wieder verabschiedet und neuen diktatorischen Versuchungen zu erliegen scheint.

DIE MITTELLOSEN ist bei aller scheinbaren sprachlichen Redundanz, bei aller Einfachheit der Mittel, kein leicht zu lesender Roman, sondern fordert den Leser vor allem emotional. Man will sich dieser so neutralen Kind-Sicht auf dieses Leben entziehen und kann es doch nicht. Man will dieses Buch weglegen und kehrt doch immer wieder zurück, um die nächsten 20, 30 Seiten zu lesen….zu erleiden. Sicherlich ist dies Literatur im besten Sinne des Wortes, sicherlich ist dies aber auch eine Zumutung an jeden Leser. Eine lohnende Zumutung allemal..

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