DIE SCHWARZE FRAU/THE BROKEN GIRLS

Simone St. James erzählt eine gelungene, weil ebenso packende wie morbide Geistergeschichte

Die goldene Voraussetzung für jede Geistergeschichte: Die Leser*innen müssen sie glauben. Dafür wiederum muss vorausgesetzt sein, dass die Leser*innen sie glauben wollen. Wer an eine Geistergeschichte rational herangeht, sie nur durch die Brille der Vernunft und des Möglichen betrachtet, zerstört ihr Potential von vornherein. Aber um glaubwürdig zu sein, braucht es eben auch eine gute Geschichte, vor allem aber das Fein-, nein Zartgefühl, das Verständnis dafür, wie eine solche Geschichte funktioniert. Wer einfach nur einen Schocker erschaffen will, gleich ob in der Literatur oder auf der Leinwand, der sollte zu anderen Mitteln greifen. Geistergeschichten taugen meist nicht für den Aufreger, den vordergründigen Grusel oder das nackte Entsetzen. Im Kern sind Geistergeschichten vor allem voller Trauer. Trauer um Verlust und das Nichtvergehen im Vergänglichen, um die Ränder der Existenz, die sich nicht vom Sein lösen kann und deshalb auf immer verfangen bleibt in der Zwischenwelt, da, wo der Firnis dessen, was gern „Realität“ genannt wird, besonders dünn ist.

Simone St. James hat diese Grundregeln des Sub-Genres begriffen und liefert mit DIE SCHWARZE FRAU (THE BROKEN GIRLS, Original erschienen 2018; Dt. 2019) einen, wenn auch mit leichten Mängeln behafteten, so doch durchaus passenden und das Publikum fesselnden Beitrag. Auf zwei Zeitebenen erzählt sie von den Vorgängen in dem Internat Idlewild Hall in Vermont, von den vergessenen Toten dort und im Umfeld und vom Schmerz des Verlusts, der manchmal nicht vergehen will.

Im Jahr 1950 sind es die vier Zimmergenossinnen und späteren Freundinnen Katie, CeCe, Roberta und Sonia, die gemeinsam das Leben in dem kalten und abweisenden Gemäuer ertragen. Hier werden Mädchen untergebracht, die aus den unterschiedlichsten Gründen in ihren Familien nicht (mehr) gewollt sind: Uneheliche Töchter ebenso, wie ungebärdige, aber auch Waisen, wie die französischstämmige Sonia, die nach dem Krieg aus Europa in die Staaten kam. Seit Generationen teilen sich die Insassinnen des Internats über Randbemerkungen in den nie ausgetauschten Schulbüchern ihre Erkenntnisse über Mary Hand mit. Mary Hand scheint ein Geist zu sein, der im Internat umgeht, nachts an den Fenstern der Zimmer kratzt und mal flehentlich, mal gebieterisch um Einlass bittet. Sie erscheint aber auch mal im Garten, mal im Speisesaal, mal in den Bädern und mal in den Zimmern und Arrestzellen der Schule. Letztere werden genutzt, um Schülerinnen wie Katie, die sich allzu gern widerborstig zeigen, zu isolieren und zu bestrafen. Die Zimmergenossinnen werden einander nicht nur Freundinnen, sondern auch Stützen je mehr sie einander vertrauen und ihre Geschichten an-vertrauen.

Im Jahr 2014 wird Fiona Sheridan, wenig ambitionierte freie Mitarbeiterin des lokalen Lifestyle-Magazins darauf aufmerksam, dass das alte Internat offenbar einen Käufer gefunden hat, instandgesetzt werden und wieder als Schule eröffnet werden soll. Fiona verbindet eine düstere Geschichte mit der Schule und dem Grundstück, auf dem sie steht: Im Jahr 1993 wurde hier ihre Schwester Deb ermordet aufgefunden. Jemand hatte ihre Leiche auf dem Sportplatz abgelegt. Debs damaliger Freund sitzt seither, verurteilt als ihr Mörder, im Gefängnis. Fiona zweifelt immer mal wieder an seiner Schuld, will doch zu vieles in diesem Fall nicht wirklich zusammenpassen. Doch nicht nur ihr Vater – eine Journalistenlegende – sondern auch ihr Freund Jamie, Sprössling einer Polizistenfamilie, dessen Vater seinerseits Chief im Ort war, als Deb ermordet wurde, und nun selbst bei der Polizei tätig, mühen sich darum, Fiona von den Gedanken an Deb abzubringen. Doch wird ihr journalistischer Ehrgeiz geweckt, als sie sich immer tiefer in eine Reportage über die Neueröffnung der Schule eingräbt.

Simone St. James erzählt auf beiden Zeitebenen mit großer Ruhe und vor allem sehr präzisem Timing, so dass die Leser*innen immer mitgenommen werden und nach und nach ein Sog entsteht, dem sich zu entziehen schwerfällt. Auf beiden Ebenen ist die Erzählung spannend. Dies aber vor allem, weil sich die Autorin vor allem der Probleme widmet, die erst einmal nichts mit Grusel und Gefahr zu tun haben, sondern mit den verletzten Seelen der Beteiligten. Das gilt für alle hier beschriebenen Mädchen, die – wie CeCe – beinah Opfer der Schwäche der eigenen Eltern, wie Katie aufgrund ihrer vermeintlichen Aufmüpfigkeit abgeschoben oder, wie Roberta, nach einem psychischen Zusammenbruch, mit dem in den 50er Jahren noch niemand umzugehen verstand, einfach in eine Anstalt gesteckt wurden. Ganz besonders gilt dies aber für die Vierte im Bunde, für Sonia. Nach und nach erfährt Fiona, dass das im Jahr 1950 verschwundene französische Mädchen eine ehemalige KZ-Gefangene war. Sie ist die einzige Überlebende ihrer Familie und wurde, in den USA angekommen, etwas verschämt in dieses Internat verbracht, weil sich niemand mit dem Horror und der Not, die dieses Kind erlebt hatte, auseinandersetzen wollte.

Als aufmerksamer und vor allem geschichtsbewusster Leser wird einem an dieser Stelle des Romans zunächst flau, vermutet man doch Kolportage und eine skrupellose Ausnutzung des Holocaust-Themas zwecks gehobener Tragik einer doch eher trivialen Geschichte. Dem ist aber nicht so. St. James gelingt es, von diesem Schicksal leise und mit dem gebotenen Ernst, ohne übertriebene Dramatik oder gar als Spektakel zu berichten. Sie wird der Not dieses Mädchens gerecht, maßt sich jedoch nicht an, von den Gräueln der Lager erzählen zu können. Viel mehr lässt sie Fiona in einer Szene mit einer britischen Holocaust-Forscherin reden, die ihr und damit auch dem Publikum nüchtern Zahlen und Fakten zum Frauenlager Ravensbrück mitteilt, wo Sonia mit ihrer Mutter eingesperrt war. Gerade in dieser Nüchternheit wird das Grauen spürbar, ohne dass es die gesamte Erzählung durchdringen würde. Vor allem aber wird lediglich indirekt von diesem Grauen erzählt, was angemessener ist, als irgendwelche wilden Erlebnisse zu schildern, die Sonia aus der Haft erinnert. Und doch wird ihre Geschichte schließlich sehr wesentlich für den Verlauf von Fionas Recherche sein.

Es ist dieses leise, stille, vorsichtig tastende Erzählen, das sensibel mit den Gefühlen der Figuren umgeht und zugleich doch auch Spannung aufbaut und vor allem hält, welches den Roman so lesenswert macht. Weshalb dann überhaupt von Schwächen sprechen? Weil der Roman leider Schwächen aufweist. Zum einen ist da die Charakterisierung der Figuren im Jahr 2014. Mag die der Protagonisten des Jahres 1950 – hier vor allem des Personals des Internats, also der Lehrerinnen – oft Klischees entspringen, so kann man diesen doch eine gewisse Glaubwürdigkeit attestieren, da sie einer ferneren Vergangenheit entstammen. Lehrpersonen an einem reinen Mädcheninternat in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts werden nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität durchaus einem gewissen Typus entsprochen haben. Zudem schafft es St. James, die Lehrerinnen, soweit sie sie überhaupt in den Vordergrund stellt, was nur selten und dann absolut handlungsbasiert geschieht, individuell zu gestalten. Es sind Frauen, die ihrerseits nicht zufrieden mit ihrem Leben sind, die sich andere Leben vorgestellt und erträumt haben und die – das wiederum ist wesentlich für die Handlung – ebenso Angst verspüren in dem alten Gemäuer wie ihre Schutzbefohlenen.

Anders aber sieht das beim Personal des Romans auf der Ebene des Jahres 2014 aus. Denn da greift St. James auf allzu geläufige Klischees der gängigen (amerikanischen) Kriminalliteratur zurück. Natürlich ist Jamie ein großer, muskulöser, gutaussehender Mann, nach dem die Frauen sich nur so verzehren. Natürlich ist der Sex, den Fiona und Jamie haben, ausgesprochen gut und aufregend, natürlich lieben die beiden sich, müssen einander aber, wie sich das für Beziehungen in Krimis nun mal gehört, erst noch finden usw. Es dauert, bis St. James sich von genau diesen Klischees löst und zumindest Fiona eine wirkliche, individuelle Persönlichkeit zugesteht. Dann aber wird diese Figur prägnant und immer klarer umrissen. Jamie hingegen bleibt bis zum Ende des Romans eher blass und als Figur rein funktional.

Schwerer wiegt aber eine andere Schwäche, die das gesamte Konstrukt des Buchs, wenn nicht in Frage stellt, so zumindest doch unterläuft. Denn dies ist im Grunde ein Kriminalroman. Es geht um die Auflösung des lang zurückliegenden Verschwindens eines Mädchens, es geht darum, die letzten Zweifel und Ungereimtheiten im Mordfall Deb Sheridan auszuräumen. Beschrieben werden im Grunde Ermittlungen, nur eben nicht durch die Polizei, sondern durch eine Journalistin, die allerdings zwingend auf die Hilfe ihres Freundes, der bei der Polizei arbeitet, angewiesen ist, was die Funktionalität seiner Rolle noch einmal unterstreicht. Der gesamte Roman würde also auch ohne Mary Hand und andere Geistererscheinungen funktionieren. Diese werden dem geneigten Publikum also mehr oder weniger on top geliefert. Aber warum? Denn die Geschichte – die rationale Geschichte – die hier erzählt wird, trägt und ist spannend und tragisch und packt den Leser. Es bedarf keiner weiteren Spannungsebenen. Doch St. James baut sie nun einmal ein. Was sie damit definitiv schafft, ist eine ausgesprochen morbide Atmosphäre. Das Unwohlsein, dass die Mädchen in den 50er Jahren im Internat empfunden haben und welches von ihren Lehrerinnen geteilt wurde, wird so noch einmal verstärkt und auch für die Leser*innen spürbar. Auch Fiona wird mehrfach mit den Erscheinungen konfrontiert, an einer Stelle sogar hilft ihr die tote Sonia einem Häscher zu entkommen – ein Detail, das dramaturgisch aber auch anders, ohne Geist, hätte gelöst werden können.

Dennoch – ist das Publikum bereit, an Geistergeschichten zu glauben, dann bekommt man hier einen gelungenen Spannungsroman mit einer trotz allem recht gut konstruierten Geistergeschichte geboten, die den weiter oben aufgeführten Merkmalen dieser Gattung entspricht: Diese Geister sind Leidende, sind Getriebene, Gefangene zwischen den Welten, die vielleicht Rache wollen für erlittenes Unrecht, vor allem aber wollen sie gesehen werden, wollen, dass das an ihnen begangene Unrecht, die Verbrechen gesehen, beachtet werden. Die Tragik, die darin steckt, wird deutlich und nimmt die Leser*innen mit. Es ist dies ein glaubwürdiger Roman der alle Ansprüche erfüllt, die an eine Geistergeschichte ebenso gestellt werden, wie auch an einen Krimi.

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