ELM HAVEN/SUMMER OF NIGHT – A WINTER HAUNTING

Dan Simmons als Gesamtpaket erschienenes Mid-West-Epos kann unr bedingt überzeugen

Illinois im heißen Sommer 1960 – die Freunde der sogenannten „Fahrradpatrouille“ Mike, Harlen, Kevin, Duane und Dale sitzen die letzten Stunden in der alten Schule von Elm Haven herunter, bevor die dreimonatigen Sommerferien beginnen. Danach wird alles anders sein, denn Old Central, das riesige, die Stadt beherrschende Schulhaus, soll abgerissen werden, die Schule umziehen. Vor den elf- und zwölfjährigen Freunden liegen lange Tage voller Abenteuer in den umliegenden Feldern und Wäldern, mit endlosen Baseballspielen, Fahrradtouren und der einen oder anderen Party. Doch bald stellen sich seltsame Ereignisse ein. Einige der Freunde sehen immer wieder einen Soldaten zwischen den Maisfeldern, die diese Gegend von Illinois bestimmen, der der Kleidung nach dem Ersten Weltkrieg entstammen müsste, ein Abdeckereilaster macht wiederholt Jagd auf die Jungs und Duane, der mit seinem alkoholkranken Vater auf einer Farm außerhalb der Stadt lebt, hat einige verstörende Erlebnisse und – da er ein extrem interessierter Junge ist – stellt eigene Nachforschungen an, die ihn auf die Spur einer alten Glocke führen, die einst von den Borgias gegossen wurde, deren Bronze jedoch viel, viel älter ist und möglicherweise mit einem Fluch belastet. Doch sein Wissen kann Duane nicht mehr mit seinen Freunden teilen, denn eines Nachts kommt es auf der Farm zu einem fürchterlichen Unfall…

Dan Simmons, der in Deutschland einer eher kleinen Gemeinde durch seine Science-Fiction-Romanen bekannt wurde, bevor er mit dem mittlerweile zu einer TV-Serie verarbeiteten Roman THE TERROR (2007) auch einer breiteren Leserschaft ins Bewußtsein rückte, schrieb im Jahr 1991 SUMMER OF NIGHT (Deutsch: SOMMER DER NACHT; erstmals 1992 veröffentlicht), die Geschichte um die fünf Freunde der „Fahrradpatrouille“. Schnell wurde das Werk mit Stephen Kings ES (1986) verglichen. In beiden Romanen stößt eine Freundesgruppe am Rande der Pubertät auf etwas zutiefst Böses, das sich ihrer Stadt bemächtigt; in beiden Romanen müssen die Jugendlichen weitestgehend allein gegen einen übermächtigen Feind antreten; in beiden Romanen hat das Böse eine Reihe menschlicher und halbmenschlicher Helfer, was zu Paranoia und Angstzuständen führt, weil sich niemand mehr sicher sein kann, wer Freund, wer Feind ist. Doch während King sein Werk von Anfang an auf zwei Ebenen erzählte – einer Ende der 50er Jahre spielenden und einer, die in den damals zeitgenössischen 80ern angesiedelt ist – ließ Simmons es bei den Erlebnissen des Sommers 1960. Erst elf Jahre später kehrte er mit A WINTER HAUNTING (IM AUGE DES WINTERS; Deutsch erstmals 2006) in die Kleinstadt Elm Haven zurück und berichtete von der Rückkehr von Dale als verstörtem Erwachsenem in die Heimat seiner Kindheit. Nun hat der HEYNE-Verlag beide Bücher in dem Band ELM HAVEN (2019) zusammengefasst, überarbeitet und neu herausgebracht.

Anders als in Kings Großwerk, haben Vergangenheit und die Gegenwart der frühen Nullerjahre hier nur bedingt miteinander zu tun. Wohl zieht Dale im zweiten Band auf die verlassene Farm, auf der einst sein Freund Duane ums Leben kam, doch sind seine neuerlichen Erlebnisse mit dem Übernatürlichen nicht unmittelbar an die Vorgänge von vor über vierzig Jahren gekoppelt. Vielmehr muß er sich mit Verwerfungen seines erwachsenen Lebens auseinandersetzen. Dabei spielen die Vorkommnisse aus dem Jahr 1960 nur indirekt eine Rolle und werden nie wirklich erwähnt, weil sich Dale kaum mehr erinnern kann, was damals geschah. Da er mittlerweile ein Schriftsteller ist, möchte er einen Roman über jenen Sommer schreiben, der in seiner eher verklärten Erinnerung zwar durch Duanes Unfall überschattet, ansonsten aber eben genau der magische Sommer war, der in der amerikanischen Literatur seit jeher fast mythische Züge auf dem Weg vom Kinde zum Erwachsenen angenommen hat.

Dan Simmons kann schreiben, das muß man ihm lassen. Seine Werke sind langsamer und weitaus weniger hysterisch als Kings Romane, die Atmosphäre, die er hier schafft, ist grandios. Man kann auf den knapp 700 Seiten des ersten Bandes den Sommer geradezu riechen und schmecken. Die schwüle Hitze wabert durch die Seiten, man sieht den kochenden Asphalt, die köstliche kühlende Limonade, die die Mütter ihren Jungs mitgeben, rinnt geradezu die eigene Kehle hinab. Gerade in den Beschreibungen dieser unbescholtenen Moante entfaltet sich Simmons ganz eigene Stärke. Und es gelingen ihm zunächst auch eine ganze Reihe wirklich unheimlicher Momente, solange weder die Jungs, noch die Leser wissen, womit sie es zu tun haben. Da gibt es die bereits erwähnte Erscheinung des Soldaten, es tauchen vermehrt Löcher in der Erde auf, die wie Venen und Arterien im Erdreich wirken, Schatten machen sich in der Stadt breit und der ebenfalls schon erwähnte Abdeckereilaster macht immer wieder Jagd auf einige Mitglieder der „Fahrradpatrouille“. Solange dies alles im Ungefähren bleibt, folgt man Simmons gern und lässt sich auch durchaus gruseln. Zumal er die Schrecklichkeiten immer wieder mit den idyllischen Szenen des Sommers mischt und mit viel Empathie und Wohlwollen vom unbefangenen Erwachsenwerden erzählt. Im Kontrast entsteht der eigentliche Horror.

Doch sobald er in seinen Beschreibungen deutlicher wird, lässt sein Roman leider ebenso deutlich nach. Der Tod Duanes – sicher die eindringlichste und ergreifendste Szene – fasst uns als Leser noch an, doch ab diesem Zeitpunkt wird Elm Haven zu einer Art Geisterbahn für seine jugendlichen Bewohner. Hinzu kommt nun eine ganze Reihe von Unwahrscheinlichkeiten. Da besorgen die Jungs sich Waffen und sind offensichtlich auch bereit, diese einzusetzen, Dale und Harlen besuchen einen reichen Wohltäter der Stadt, den sie massiv unter Druck setzen, schließlich kommt es zu einem Showdown im alten Schulhaus, bei dem sich einige der Kids wahrlich als Helden hervortun. Allein – all das wirkt wenig glaubwürdig. Und Simmons Erklärungen für die ganzen unheimlichen Vorkommnisse sind zumindest für den heutigen Leser, nahezu 30 Jahre, nachdem das Buch entstanden ist, allzu abgegriffen und abgenutzt, um noch wirklich zu packen.

Der zweite Band, der – seinem Titel entsprechend – nicht mehr im heißen Sommer zwischen mannshohen Maisstauden spielt, sondern im tiefsten Winter, ist literarisch anspruchsvoller und zeugt durchaus davon, daß sein Autor sich in den Jahren zwischen beiden Werken weiterentwickelt hat. Gewagter in der Komposition – unter anderem lässt Simmons hier den nun schon so lange verstorbenen Duane durch seinen Jugendfreund Dale sprechen und wieder auferstehen – und stilistisch feiner, berichtet Simmons von einem Mann in den mittleren Jahren, der sich emotional in eine Sackgasse begeben hat. Frau und Kinder hat er zugunsten einer jungen Geliebten verlassen. Die wiederum hat nun ihn verlassen und Dale weiß weder ein noch aus. Seit Jahrzehnten in Montana beheimatet, als Autor mittelmäßiger Trapper-Romane zu einem gewissen Vermögen gekommen, unterrichtet er an einer lokalen Universität englische Literatur, will aber nun, zurück in Elm Haven, ein „ernsthaftes“ Buch schreiben und seine Reputation auffrischen. Doch seine psychische Disposition ist eher die eines Depressiven. Er hat einen Selbstmordversuch hinter sich und seine Wirklichkeitswahrnehmung ist prekär. So schichten sich in den Monaten, die er in seiner alten Heimat verbringt, immer mehr Ereignisse übereinander, bei denen weder Dale noch der Leser bald mehr wissen, ob sie einer Realität entspringen, oder ob es Ausgeburten eines zunehmend delirierenden Gehirns sind.

Das könnte an und für sich eine interessante Ausgangsposition sein, doch bleibt alles zu lange im Vagen einerseits, ist andererseits aber auch zu schnell schon als neuerliche Geisterbahnfahrt markiert, als daß es seinerseits fesseln könnte. Zu seltsam mutet es an, was Dale da widerfährt, zu undurchsichtig die Beziehungen, die er in der Stadt pflegt und schließlich hat der Leser auch das Gefühl von einem Autor auf extrem falsche Fährten geführt worden zu sein, der sich erst sehr spät darüber klar geworden ist, wohin das alles führen soll. So bleibt schließlich der Eindruck, es mit einem, im Gesamtpaket, viel zu langen Roman zu tu zu haben, der zu viele Logiklöcher aufweist, der gut startet, sich viel Zeit lässt und irgendwann die falsche Abzweigung genommen hat. Und dessen Folgeband mit dem Vorgänger nur sehr indirekt in Zusammenhang steht, sich eigentlich nur ein gewisses Personal ausleiht, um inhaltlich ganz eigene Wege zu gehen, die sich nie als aus den älteren hervorgehend erweisen. Viel vertanes Potential. Da sollte man lieber noch einmal TERROR oder auch DROOD (2009) aus dem Schrank holen und sich erneut dort einlesen. In beiden Fällen ist Simmons doch sehr viel Besseres gelungen.

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