DIE STIMME/DE STEM
Jessica Durlacher packt schlicht zu viele Themen in einen Roman
Es dauert etwa 40 Seiten, bis der Leser erstmals denkt, das ist alles zu viel. Denn nach einem zugegeben eindringlichen Prolog in New York, wo die Familie der Erzählerin in Jessica Durlachers Roman DIE STIMME (DE STEM, Original erschienen 2021; Dt. von Annelie Bogener, 2022) aus nächster Nähe jenen Dienstag im September 2001 erleben muß, der die Welt so nachhaltig verändert hat, wird uns im ersten Kapitel des dann beginnenden ersten Teils des Buchs von der Inauguration der ersten amerikanischen Präsidentin berichtet, auf der eine ausgesprochen schöne Somalierin auftritt, die hier Liedgut vortragen darf. Und die vor Jahren mit der Familie der Erzählerin befreundet war, sich um deren Kinder kümmerte und dann – nachdem ihr Gesangstalent vom jüngsten Sohn der Erzählerin entdeckt wurde – bei ihrem Auftritt in einer Gesangsshow im Fernsehen ihre Kopfbedeckung abnimmt und damit exemplarisch die Befreiung der moslemischen Frau durchexerziert. Durch diese Aktion veränderte sich nicht nur das Leben des zukünftigen Stars, sondern auch das der Familie der Erzählerin – nachhaltig und unwiederbringlich.
Die Tragik, das Drama schimmert da schon durch jede Zeile und man fragt sich natürlich, wie die Dinge zusammenhängen; doch was im Hollywood-Film – stark in eine Story einsteigen und dann zügig steigern – als Rezept immer wieder funktionieren mag, wandelt sich auf die Literatur angewandt schnell in Kolportage. Und das ist das Gefühl, das sich dann eben auch einstellt. Nach etwa 40 Seiten. Es gibt Autoren – außerhalb der reinen Genre-Literatur, was immer das sein mag – die dieses Element zu einer Frage des Stils erheben. Philippe Djian ist ein Beispiel für einen Autor, bei dem die Katastrophe, die meist schon vor dem Einsetzen der Handlung geschehen ist und die selten bis nie genauer beschrieben wird, gar nicht groß genug sein kann. Massaker, Bombenanschläge, Naturkatastrophen – alles ist willkommen. Nur leitet Djian daraus allerhand grundmenschliche Eigenheiten und Reaktionen ab, um von diesen in einem zunehmend alttestamentarischeren Stil zu erzählen, während Jessica Durlacher dem Leser eine Geschichte nahezubringen versucht, die ausgesprochen realistische und auch drängende gesellschaftliche Themen und Problematiken verhandelt. Und da wirkt die Aufhäufung von Katastrophen, Schicksalsschlägen und (vermutlichen, einiges wird nur angedeutet) Krisen oft wie schriftstellerische Mimikry. Ein Kaschieren der Tatsache, daß man eigentlich nichts Wesentliches zum Diskurs beizutragen hat.
Durlacher kann ausgewiesen gut schreiben, technisch betrachtet. Das hat sie in einigen Werken bewiesen, die fast immer packend, spannend und auch unterhaltsam waren. Sie weiß, wie man den Leser einfängt und bei der Stange hält. Sie erzählt dann auch nicht stringent, sondern legt das Ganze als Erinnerungswerk an, ausgelöst durch den Abend der US-präsidialen Einsetzungsfeierlichkeiten, die stark an jene erinnert, die wir zur Einführung Joe Bidens in das Amt erleben durften. Und da vor allem erinnern wir uns natürlich an den Auftritt der sehr jungen Lyrikerin Amanda Gorman, die ihr Gedicht The Hill We Climb vortragen durfte und damit Furore machte. Die Analogie mit der Somalierin Amal ist offensichtlich gewollt. Ebenso gewollt ist die Ähnlichkeit, die diese Frau im alltäglichen Leben, im Auftreten, in ihrem Stil, ihrer Haltung mit der ebenso streitbaren wie streitlustigen Aktivistin Ayaan Hirsi Ali, Feministin und erklärte Kritikerin des Islam, aufweist. Nimmt man dann noch – ohne Spoilern zu wollen – den dramatischen Höhepunkt der Geschehnisse hinzu, hat Durlacher einen Bogen geschlagen vom Weltereignis 9/11 bis hinein in die unmittelbare und privateste Gegenwart einer niederländischen Familie mit jüdischen Wurzeln, die unter dem Schatten des Holocaust lebt, unter besonderer Berücksichtigung der Ereignisse der vergangenen Jahre hinsichtlich des Islam in der niederländischen Politik und Kultur. Und zu alledem gesellt sich die etwas wehleidige Klage einer Mutter über die Konflikte mit Pubertierenden und den Versuch, eine Familie zusammenzuhalten, deren erwachsener männlicher Protagonist zusehends in die Öffentlichkeit drängt. Irgendwann ist all das schlicht zu viel, too much.
Zudem kommt das größtenteils in einem Kolumnenstil daher. Eines jener Features aus der Redaktion, in welchem sich ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin fragt, ob sie die falsche Work-Life-Balance hält oder warum der eigene Sohn nicht mehr mit ihr reden mag, hat man sich doch alle Mühe gegeben. Bekenntnisberichte woker Mittdreißiger oder Mittvierziger, die es zu etwas gebracht haben – im Buch ist die Erzählerin Psychoanalytikerin, ihr Mann ein recht bekannter Anwalt – und denen so langsam schwant, daß es doch mehr gegeben haben muß im Leben als das? Im Fall unserer Erzählerin geht die Frage allerdngs eher in die umgekehrte Richtung: Hat sich das alles gelohnt? War es das wert? Dies alles bleibt oberflächlich, nie scheint Durlacher den Ereignissen und darüber hinaus den eigenen, widersprüchlichen Gefühlen wirklich auf die Spur zu kommen, um dem Leser etwas mitzuteilen, das entweder neu für ihn wäre oder zumindest ein anderes Licht auf hinlänglich bekannte Ereignisse wirft.
Es erinnert ein wenig an die letzten Werke von Durlachers Gatten, Leon de Winter, der, ebenfalls ausgesprochen unterhaltsam und vergnüglich, die Jagd auf Osama Bin Ladin zum Thema eines seiner Bücher machte, wie er anschließend sich und seine Frau in einen Roman über den Mord an dem niederländischen Regisseur, Aktivisten und Dauerprovokateur Theo van Gogh einschrieb. Der zu Lebzeiten wiederum ein enger Verbündeter von Hirsi Ali war. Eine gewisse Obsession mit dem Thema Islamismus/Terrorismus kann man de Winter nicht absprechen – und nun scheint dies auch für seine Frau zu gelten.
Wie viel interessanter wäre es gewesen, wenn Amal nicht schön, königlich in ihrer Haltung und sehr, sehr intelligent wäre, sondern hässlich, gemein und vielleicht auch ungebildet? Durlacher aber will offenbar Hirsi Ali ein Denkmal setzen, erst recht erhält man diesen Eindruck, liest man ihren Dank am Ende des Buches. Zwar gelingt ihr eine durchaus zwiespältige Darstellung von Amal, die unnahbar, egozentrisch und eigensinnig wirkt, doch die Bewunderung bleibt, schimmert auch noch zwischen den kritischsten Zeilen hindurch. Umso wehleidiger gelingen die Passagen, in denen die Ich-Erzählerin das Leid und die Unruhe beschreibt, die ihre Bereitschaft, Amal zu helfen, über die Familie bringt. Es entsteht der Eindruck, als habe Durlacher nahezu jedes Thema, das sie in den vergangenen zehn Jahren umgetrieben hat, in diesen Roman packen wollen. Einmal mehr: Zu viel.
Fragt sich, weshalb man dann dabeibleibt und die Lektüre bis zum Ende durchhält? Eben weil Durchlacher – technisch gesehen – eine sehr gute Schriftstellerin ist. Wie bereits erwähnt, weiß sie Spuren zu legen, Cliffhanger einzubauen, ohne zu dick aufzutragen, die Andeutungen und Vorgriffe auf chronologisch später Geschehenes lassen den Leser immer wieder durch die Seiten gleiten, es ist spannend, was man da liest. So könnte man DIE STIMME vielleicht als eine Art Kriminalroman aus dem „echten“ Leben lesen, unterhaltsam und eben spannend. Doch trieft dieses Buch dafür wiederum zu sehr vor Ambition, immerzu wird dem Leser Dringlichkeit vermittelt und angedeutet, wie wichtig und wesentlich das Thema ist, welches hier verhandelt wird. Schade, aber das ist einfach – zu viel.