DIE TOCHTER DES OPTIMISTEN/THE OPTIMIST´S DAUGHTER

Eudora Welty hat mit diesem Text ein kleines, fast vergessenes Meisterwerk geschaffen

Eigentlich, so durchfährt es die Leser*innen dieses vergessenen und doch so meisterhaften Stücks Literatur, eigentlich ist dies trotz des Umfangs von über 180 Seiten eine Kurzgeschichte. Denn wie in den Meisterwerken der Gattung wird das meiste auch hier, zumindest über weite Strecken des Texts, nur angedeutet, bestenfalls skizziert – zart, ambivalent, verhalten. Ein langsam dahinfließender Text, unter dessen Oberfläche es ununterbrochen brodelt. Eudora Welty erhielt 1973 nicht zu Unrecht den Pulitzer-Preis in der Kategorie Belletristik für DIE TOCHTER DES OPTIMISTEN (THE OPTIMIST´S DAUGHTER, 1969/72; Dt. 1972/91).

Aber selbst diese Halme reagierten – alles reagierte unvermeidlich – auf ein Beben, das man unter den Füßen spürte:

Der neue Teil des Friedhofs grenzte an die Schnellstraße.“ (S.96)

Was auf den ersten Blick, während der ersten Lektüre, so profan wirkt, ist gleichsam die Zusammenfassung dessen, was Welty in ihrem Roman anbietet: Ein dahingleitendes Erlebnis, kaum Handlung, stattdessen die fast akribische Wiedergabe einer Beerdigung und eine Innenschau der vielleicht wichtigsten Person bei diesem Ereignis: Der Tochter des Verstorbenen, eines im Leben meist optimistischen Richters im tiefen Süden der USA.

Die etwa vierzigjährige Laurel kehrt aus Chicago in ihre Heimatstadt zurück, um an der Seite ihres Vaters, des Richters McKelva, zu weilen, als dieser wegen einer Augenoperation nach New Orleans reisen muss, wo er sich von Doktor Courtland, einem alten Freund der Familie, behandeln lassen will. Dort trifft Laurel auch auf die neue, die zweite Frau des Vaters, die Texanerin Fay. Fay ist jünger als ihre Stieftochter und voller Vorbehalte gegen diese, wie auch gegen alles, wofür Laurel steht: Den „alten“ Süden, die Traditionen, die Sitten und familiären Gewohnheiten. Als der Richter unversehens stirbt, sorgen Laurels frühere Freundinnen, aber auch deren Eltern, die allesamt mit dem Richter befreundet oder geschäftlich verbandelt waren, dafür, dass es ein angemessenes Begräbnis, vor allem aber eine angemessene Trauerfeier gibt. Auf der tauchen schließlich – von einem Bekannten des Richters informiert und eingeladen – auch Fays Verwandte auf. Erst als Fay mit diesen nach der Feier entschwunden ist, die Gäste gegangen sind und auch die Bediensteten sich verabschiedet haben, kommt Laurel zu sich und es beginnt eine lange introspektive Betrachtung ihrer Familie.

Es sind die letzten vierzig Seiten dieses Texts, auf denen das, was zuvor unterschwellig zu spüren war, was da zwischen den Zeilen brodelte, was immerzu zu beben schien, endlich aufbricht und nicht nur für den Leser, sondern vor allem für Laurel selbst griffig, greifbar, gegenwärtig wird. In die Trauer um den Vater eingeschlossen ist die Trauer um die Mutter, lange schon tot, deren Verlust Laurel wirklich zu beweinen sich nie gewagt hatte. Nun wird deutlich, was dieser Verlust für die Tochter bedeutete und es wird deutlich, wie in der Trauer ein Paradoxon offenbar wird, das vielleicht kennt, wer diesen Schmerz erfahren musste: Wie man eben jene, die man betrauert, herbeisehnt, ja herbeifleht, um in ihren Armen Trost um ihren Verlust zu finden. Und wie in einer weiteren Stufe tiefere Einsichten zum Wesen derer, die man da betrauert, sich Bahn brechen. Und wie die Betrauerten deutlicher werden, immer verständlicher, mehr gar, als sie es zu Lebzeiten vielleicht gewesen sind.

War der Vater wirklich der Optimist, zu dem ihn der Titel des Kurzromans ausruft? Oder ist er vielmehr zu einem Zweckoptimisten geworden im Angesicht des drohenden Verlusts seiner Frau, Laurels Mutter, als diese erkrankte und scheinbar nichts, nicht einmal Dr. Courtland, ihr zu helfen vermochte? Mag es sein, dass der allseits beliebte Richter McKelva – der auch Bürgermeister der kleinen Gemeinde war, in der er sein Leben verbrachte und in welche er seine Frau verbrachte, gleichsam entführte, seine Frau, eine gebürtige Dame aus Virginia, wohin sie einmal im Jahr entfliehen musste für einen ganzen Monat, zurück auf „den Berg“, auf dem sie einst aufwuchs – dass dieser Richter McKelva, Laurels bewunderter Vater, doch mehr Schwächen hatte, als er sich je eingestand, als ihm je zugestanden wurden? Ängste gar – weil er nicht in der Lage gewesen ist, seiner Frau Hoffnung zu geben, mehr noch: Heilung, als diese sie so dringend brauchte? Und welcher Zug seines Charakters verbirgt sich hinter der erneuten Heirat, der Ehe mit einer weitaus jüngeren Frau, die Welty – wie auch ihre Familie in den kurzen Kapiteln, in denen sie sie auftreten lässt – als ordinär, zynisch, egozentrisch und ohne Manieren zeichnet? Ist es tatsächlich so, wie eine Nachbarin und alte Freundin es andeutet: Dass der Richter nach dem Verlust seiner geliebten Gattin und dem Fortgang seiner Tochter irgendwen brauchte, um den er sich sorgen, um den er sich kümmern konnte? War er das – ein Kümmerer?

Die Disruption, die Laurel bei Fays Auftritt im Krankenhaus erlebt, wo die der Tochter so Fremde auf den darniederliegenden Richter einschlägt, auf einen Mann, der sich nicht mehr äußert, sich von Laurel vorlesen lässt, wie er und seine Frau sich jahrelang gegenseitig Dickens-Romane vorgelesen haben, aber kaum mehr reagiert, als warte er wortwörtlich die Zeit ab, durchdringe sie und er-fahre sie, während seine junge Frau von ihm verlangt, der zu sein, den sie geheiratet habe, diese Disruption wühlt diesen Text auf, durchpflügt ihn, wälzt ihn um und verstört nicht nur Laurel, sondern mindestens ebenso die Leser*innen. Denn auch, wenn Weltys Sympathie Laurel gehört – oder, will man nicht zwingend von Sympathie sprechen, ist dieser Text doch distanziert gegenüber allen Figuren, die er präsentiert, so zumindest von der Aufmerksamkeit, die er ihr widmet – führt die Autorin mit Fay und deren Familie ein Element in die Geschichte (oder Nicht-Geschichte) ein, die hier erzählt wird, das verstörend ist und sein soll. Denn so widerwärtig man vor allem Fays Verhalten gegenüber dem Richter, dessen Tochter und deren Gästen auch finden mag – man versteht diese Frau auch.

Man versteht die Wut einer jungen Frau, die auf den ersten zehn Seiten, auf denen sie auftritt, weder von Laurel, noch von den Freunden und Freundinnen des Hauses McKelva überhaupt auch nur beachtet wird, geschweige denn, dass man auf ihre Äußerungen oder Fragen einginge. Fay wird nicht ernst genommen und rächt sich auf die einzige ihr zur Verfügung stehende Art und Weise: Sie schlägt verbal um sich, beleidigt alles und jeden, vulgär und ordinär und ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer. Sie offenbart dabei ein Ausmaß an mangelndem Takt- oder Feingefühl, das es in sich hat, aber in diesem Mangel lässt Welty eben auch etwas anderes aufscheinen: Lebenslust. Und wenn dann Fays texanische Familie auftaucht und sich nicht sehr viel besser zu benehmen weiß, als die verlorene Tochter, die da in den alten Süden mit seinen vornehmen Manieren und seinem Bewusstsein einer alten Tradition, die einer alten Welt und einer alten Familie entspringt, entschwunden ist, dann spürt man in diesen Menschen aber zumindest eins: Amerika. Den Aufbruchsgeist dieses Landes und seiner demokratisch gesinnten Bevölkerung, wo sich der „kleine Mann“ dem „Adel“ ebenbürtig versteht. Fays Familie strotzt nur so vor Leben, Vitalität und auch Witz, während Laurel und die ihren eher anämisch, langsam, fast vergehend wirken. Und dies, obwohl Laurel in Chicago als Zeichnerin für Mode arbeitet, also einen durchaus modernen Beruf ausübt und sich somit selbst schon der Welt, der sie entstammt, entfremdet hat.

An dieser Ambiguität, diesem Zwiespalt, dieser Grauzone der Gefühle, der Erinnerungen und Zugewandtheit richtet sich dieser Text aus und nimmt seine Leser*innen mit ohne je vorzuschreiben, wie die Lesenden mit dem Gelesenen umzugehen hätten. Hier gibt es kein Urteil – auch wenn die texanische Familie oberflächlich verabscheuenswürdig wirken mag – und erst recht keine Verurteilung. Es gibt Fragen, viele, viele Fragen, wie sie weiter oben formuliert wurden und wie der Text sie ununterbrochen den in ihm und von ihm beschriebenen Protagonisten geradezu aufdrängt. Und so lässt dieser Text die Lesenden auch zurück: Mit offenen Fragen. Aber auch mit einem ganz leichten, zarten Gefühl für Zwischenstimmungen, für das Leise, das Ruhige, das Stille, das in einem Menschen und zwischen den Menschen geschieht, ununterbrochen.

Vielleicht gibt es irgendwo eine Liste der vergessenen Meisterwerke. DIE TOCHTER DES OPTIMISTEN dürfte einen der vorderen Ränge auf dieser Liste belegen. Ein wunderbares Erlebnis, einmal mehr die Offenbarung, was Literatur so magisch und so einzigartig macht.

 

 

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