DIE VERSCHWUNDENEN/OLINKA

Antonio Ortuño erzählt von einem zerrütteten Mexiko, einem Land mit wenig Hoffnung und viel Gewalt

Harter Stoff aus Mexiko, den Antonio Ortuño in DIE VERSCHWUNDENEN (OLINKA; erschienen 2019) dem Leser bietet. Im Stil eines hard-boiled Noir-Thrillers beginnt diese Geschichte um Verrat, Mord, Korruption und ein Mexiko, in dem der Stärkere – ob per Geld, Einfluß oder Waffen – gewinnt, die Schwachen hingegen nichts als Verschiebemasse sind, die man im Zweifelsfall aus dem Weg räumt. Mit allen Mitteln.

Nach fünfzehn Jahren Haft, die er für seinen Schwiegervater Carlos Flores unschuldig abgesessen hat, kehrt Aurelio Blanco nach Guadalajara zurück. Hier nahm alles seinen Anfang: Wie Blanco, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, als Protegé des mächtigen Bauunternehmers Flores dessen stiller Diener wurde, immer bereit, dem Mann zu Hilfe zu eilen, wenn dies nötig war. Er heiratete dessen Tochter, als diese nach einer Vergewaltigung schwanger wurde, er erledigte die Drecksarbeit und ist schließlich bereit, auch eine Gefängnisstrafe auf sich zu nehmen, damit die Flores weiter ihren Geschäften nachgehen können. Olinka – ein Neubaugebiet außerhalb der Stadt, auf dem eine ärmliche Siedlung steht – galt es zu erschließen und zu bebauen. Doch weil sich zwei der dort ansässigen Familien weigerten, konnte mit dem Bau nicht begonnen werden. Und als diese Familien schließlich verschwanden, war es besser, das Augenmerk der Behörden auf vermeintliche Geldwäsche für die Mafia zu lenken, als mit Mord und Totschlag in Verbindung gebracht zu werden. Für diese Vergehen, mit denen er nichts zu tun hatte, saß Blanco. Und nun nimmt alles sein Ende in Olinka: Er kehrt zur Familie zurück, um die ihm einst versprochene Belohnung für fünfzehn Jahre seines Lebens in Empfang zu nehmen. Und sofort setzen sich die Geschehnisse von einst, unter neuen Vorzeichen, fort. Und wieder wird Aurelio Blanco gezwungen sein, sich für oder gegen die Flores, die ihm, inklusive seiner Tochter, nichts als Verachtung entgegenbringen, zu entscheiden, als die Dinge außer Kontrolle geraten.

Ortuño erzählt seine Geschichte in einem direkten, harten Stil, geschult an den Thrillern der „schwarzen Serie“ , an den Romanen eines Dashiell Hammett und Raymond Chandler. Dieser Blanco, den sein Anwalt der Lächerlichkeit des mexikanischen Machismo preisgegeben hat, weil er Gott und der Welt erzählt, daß der Mann im Knast enthaltsam lebt, anstatt sich eine Hure kommen zu lassen, betrachtet die Welt zwar nicht als gebrochener Mann, doch durchaus resigniert, bar aller Hoffnung, ohne Pläne und Wünsche. Abkassieren und vielleicht irgendwo neu anfangen, den Rest der ihm verbleibenden Zeit halbwegs gut verleben, das ist seine Vorstellung des Daseins nach der Haft. Und doch erliegt er erneut der Anziehung der Flores, kann er sich der Aura seiner Exfrau – obwohl er direkt nach dem Knast mit der Anwaltsgehilfin Estrella eine ihm durchaus ergebene Dame findet, die ihm hilft, die Enthaltsamkeit aufzuheben – nicht widersetzen und erst recht nicht jener des großen Carlos, der ihn einst so beeindruckt hatte.

Erst im zweiten Teil dieses mit 253 Seiten recht schmalen Bandes, der in drei etwa gleichlange Kapitel und einen kurzen Epilog aufgeteilt ist, bricht Ortuño seinen gewollt harten Stil auf und wechselt zu einer eher sachlich-nüchternen Form, in welcher dem Leser die früheren geschäftlichen und politischen Verwicklungen ebenso näher gebracht werden, wie die persönlichen der wesentlichen Protagonisten. Es ist vielleicht der beste Abschnitt des Buches, da hier ein Gesellschaftsportrait entsteht, das es in sich hat. Vor allem die Korruption wird deutlich, die auf allen Ebenen herrscht, ob privat, geschäftlich oder innerhalb der Behörden. Ein sich hinter demokratischen Masken versteckendes  Feudalsystem tritt da hervor, in dem die Mächtigen schalten und walten können, wie sie wollen. Nichts scheint sich in diesem Mexiko seit den Tagen der Revolution, des Kolonialismus, verändert zu haben. Gerade Ortuños hier nüchterne Sprache, die sich aller Sentimentalität, jedweden Mitgefühls, aller Urteile und Beurteilungen enthält, sondern nur beschreibt, lässt den Leser erschauern, verdeutlicht den Skandal. Kaum zynischer könnte man mit den – ebenfalls nüchtern beschriebenen – Morden an zwei Familien umgehen, als diese durch ein anderes Verbrechen zu verschleiern, für das man dann einen Unschuldigen büßen lässt. Einen Unschuldigen, der sehenden Auges alles mitmacht, alles erträgt, alles mit-trägt. Und damit ebenso korrumpierbar geworden ist, wie die Gesellschaft, die ihn hervorgebracht hat.

Um seine Geschichte abzurunden und zu einem Ende zu bringen, wechselt Ortuño im letzten längeren Kapitel dann wieder in den Stil des „Noir“ und lässt die Flores erneut mit den unwahrscheinlichsten Verbrechen davonkommen. Lediglich seinem Aurelio Blanco lässt er ein wenig Gerechtigkeit widerfahren, die allerdings nur zu dem Preis zu haben ist, weiterhin das System zu stützen.

Es ist schade, daß der Autor, der heute zu den führenden spanischsprachigen Schriftstellern der Welt gezählt wird und dessen Werke in der lateinamerikanischen Literaturszene hohen Stellenwert genießen, am Ende ein Familiendrama erzählt, das sich doch weit von einer gesellschaftlichen Analyse, einer Allegorie, entfernt und eher die Merkmale eines Thrillers aufweist. Der allerdings ist rasant erzählt, mit einer gehörigen Portion Zynismus und durchaus schwarzem Humor. Doch so packend der Roman gerade in seiner Nüchternheit ist, so sehr man mit Blanco fiebert, ob er seine Tochter noch einmal sehen oder gar ihre Gunst wieder erlangen kann – schlußendlich bleibt dies alles auf der Ebene eines hart und manchmal auch derb erzählten Kriminalromans, der dem Leser im Grunde keine einzige sympathische Figur zu präsentieren weiß und damit das Bild einer letztlich verlorenen, weil zerrütteten, Gesellschaft zeichnet, die aus ihren selbstgebastelten Fängen und Fallen nicht mehr herausfinden wird. Eine Gesellschaft voller Gewalt, voller Verachtung für Schwache, eine Gesellschaft des brutalen Machismo, wie die Anekdote um Blancos Enthaltsamkeit beweist, die immer wieder aufgegriffen wird. So dysfunktional die Gesellschaft, so dysfunktional sind die Familien, so dysfunktional ist letztlich jeder einzelne dieser Charaktere. Alles bleibt düster, gar schwarz und ein bisschen Glück findet man vielleicht noch, wenn man dafür sorgt, sich den Machtvollen anzubiedern. Da fragt nach den Verschwundenen schon lange niemand mehr. Das größte Unrecht dieses Romans bleibt ungesühnt.

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