KNOCKEMSTIFF
Vielleicht kannst du aus dieser Stadt fliehen, aber die Stadt flieht nicht aus dir....
Nachdem Donald Ray Pollocks zweiter Roman THE DEVIL ALL THE TIME auch in Deutschland bekannter wurde, hatte der Liebeskind-Verlag nachgelegt und den Erstling dieses neuen Sterns am Himmel des Hard-boiled-Romans veröffentlicht. Anders als der zwar episodenhaft erzählte, doch letztendlich einer stringenten Geschichte folgende Nachfolger, hat man es hier eher mit einer Sammlung an Kurzprosa zu tun, die sich erst im Lesefluß kaleidoskopartig nach und nach zu einem runden Gesamtbild zusammenfügt.
KNOCKEMSTIFF ist ein Kaff in Ohio, dem der Autor entstammt. In einer Senke gelegen, umgeben von drei Flüssen und einer Bergkette, ist es vom Rest der Welt recht abgeschieden gelegen. Diesem Kaff ist Pollock in realitas entkommen, literarisch musste er wohl noch einmal dorthin zurückkehren, um sich frei zu machen von all dem Schmutz, dem Dreck und dem Hass, der die Menschen, die dort leben, zu vergiften drohen. Es ist müßig, eine Zusammenfassung des Inhalts zu geben, man hat es mit einer Sammlung von Stories zu tun, die mal aus der Ichperspektive eines Protagonisten, manchmal auktorial erzählt, manchmal in den 50er und 60er Jahren, manchmal später angesiedelt sind. Je weiter das Buch mit gerade mal 250 Seiten voranschreitet, desto zeitnaher spielen die Geschichten, was allerdings zur Depression, die das Lesen dieser Berichte aus dem Fegefeuer auslösen kann, nur beiträgt. Denn offenbar hat sich da wenig geändert zwischen 1956 und 2008.
Immer wieder wird hier von der Gewalt erzählt, dem Sadismus und dem alltäglichen Rassismus dieser Menschen am unteren Rande der Gesellschaft und von der Vergeblichkeit, diesem Leben entkommen zu wollen. Sei es der Alkoholismus, der diese Männer – denn es sind überwiegend Männer, deren Taten hier geschildert werden – befeuert und zu manchmal unberechenbaren Monstern macht, sei es ein nahezu natürlicher Hang, die Unwägbarkeiten und Illusionen des eigenen Lebens auf andere zu projezieren und diese dann die Enttäuschungen spüren zu lassen anhand gnadenloser Gewalt und Verhöhnung – nie gibt es hier einen Lichtblick, nie hat der Leser das Gefühl, es gäbe einen Ausweg aus dieser Hölle. Selbst jene, die der Stadt entkommen sind, tragen sie so tief in sich, daß sie das Gift aus der Senke in die Umwelt tragen.
Du kannst aus dieser Stadt fliehen, aber die Stadt flieht nicht aus dir.
Es gibt eine andere, in der amerikanischen Literatur sehr bekannte Stadt, die ebenfalls in Ohio liegt: Winesburg. Sherwood Anderson hat sie 1919 der amerikanischen Moderne geschenkt. Ein wahrhaft bahnbrechendes Buch, das mit Erzähltraditionen ebenso brach, wie mit den Tabus dessen, was erzählt werden konnte/durfte. WINESBURG, OHIO war erfunden, sein Autor hatte es der Kleinstadt Clyde nachempfunden, in der er selbst aufgewachsen war. In seinem Klassiker verbinden sich die einzelnen Episoden durch eine einzige Figur, die immer wieder direkt oder indirekt auftaucht oder genannt wird, einen jungen Mann, der als Zeitungsredakteur des örtlichen Lokalblatts sozusagen den Überblick über die Geschehnisse in der Stadt hat. George Willard will hinaus in die Welt und dort reüssieren. In seinem jugendlichen Drang (obwohl er, wie wir im Laufe der Handlung lernen, kaum Erfahrungen im Leben gemacht hat bisher, auch nicht mit der Liebe) wird er für viele Einwohner der Stadt zu einer Projektionsfläche – im Guten (erotisch Guten zumal) wie im Schlechten.
KNOCKEMSTIFF, das allein schon durch seinen Aufbau und seine Anlage ganz klar auf Andersons Meisterwerk rekurriert, löst diese Möglichkeiten, die die Welt bieten, auf. Hier gibt es nicht nur keinen George Willard, es gibt nicht mal den Ansatz eines inneren Zusammenhalts zwischen den Einzelepisoden. Diese „schweben“ sozusagen im Raum, frei aller Halterungen. Es will hier auch niemand „raus“ – jeder in dieser Stadt scheint entweder zufrieden mit seinem Leben (in dem Sinne, daß es immer noch schlimmer geht) oder aber hat längst resigniert. Wo Anderson von einem Willen zum Aufbruch erzählt – inhaltlich, aber eben auch formal – und damit wahrscheinlich sehr gut den Geist der amerikanischen Moderne einfängt und wiedergibt, ist bei Pollock alles Resignation. Diese Menschen haben zu oft verloren, sind zu oft betrogen worden und haben zu oft gesehen, daß Freude immer nur zu Schmerz führt, als daß sie auch nur noch einem einzigen Versprechen, einer einzigen Verheißung Glauben schenken würden.
Daß Pollock im Gegensatz zu Anderson den Klarnamen der Stadt, die er meint, nutzt, ist schon ein Bekenntnis. Obgleich nie festgestellt wurde, warum Anderson nicht den Namen Clyde nutzte, versteht man, daß Winesburg eine Art Modell sein kann für die typische amerikanische Kleinstadt des Mittelwestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Keine Utopie und auch keine Dystopie, sondern einfach eine Art Fabelstadt die einen guten Durchschnitt der damaligen amerikanischen Gesellschaft (re)präsentierte. Knockemstiff ist – zumindest in Pollocks Augen – scheinbar ebenfalls eine typische Kleinstadt des heutigen Amerika, eine Post-Gesellschaft: Postmodern, postdemokratisch, postkommerziell. Und postemotional. Pollock führt seine zerstörten Kleinstadtbewohner gnadenlos vor, ohne Sympathie und ohne Hoffnung. Vielleicht seine Art der Therapie, diese Stadt doch irgendwie aus sich heraus zu bekommen. Es gibt hier keinen Querschnitt mehr, diese Menschen sind alle sogenannter „White Trash“, sie sind sozusagen alle Bewohner des Trailerparks. Das erinnert alles ein wenig an jene Gesellschaft, die Debra Granik 2010 in dem Independent-Drama WINTER´S BONE (2010) ausstellte – basierend auf dem Roman von Daniel Woodrell, der ebenfalls aus eigener Ansicht schrieb. Auch dort war die amerikanische Gesellschaft nur noch ein loser Haufen von Halbkriminellen, die immerzu schnelle Geschäfte und Deals abzuziehen bereit waren. Auch jene Welt war eine ohne Mitleid und bar aller Hoffnungen.
Die Hoffnungslosigkeit gilt vor allem für alles Erotische/Sexuelle. In beiden Werken erstaunt, wie stark Erotisches im Vordergrund steht. Doch was Anderson zur Metapher des Lebens, zur Allegorie jugendlichen Drangs und jugendlicher Aufbruchstimmung wird, ist bei Pollock nichts weiter als Krieg: Krieg der Geschlechter, Krieg der Generationen, Krieg gegen das Leben selbst. So gut wie nie werden wir hier Zeuge von Zärtlichkeit oder Liebenswürdigkeit. Diese Menschen kennen nur noch den permanenten Kriegszustand aller gegen alle. Was sicherlich damit zu tun hat, daß wir hier auch nahezu niemandem begegnen, der nicht alkohol- oder drogenabhängig ist. Crystal Meth, Marihuana (sowieso), Heroin und Speed (überhaupt Upper aller Art) sind die bevorzugten Drogen und jeder in diesem Tal nutzt sie. Um sich zu befreien von Ängsten, von den Härten des Alltags, aber auch von Träumen, die zu nichts führen als Enttäuschung – die dann auch wieder mit Drogen zu bekämpfen wäre. Wer in Knockemstiff aufwächst und lebt, der hat im Grunde das Leben hinter sich und vor ihm liegt das Pugatorium…
Gibt es etwas zu kritisieren? Vielleicht, daß der Aufbau dieser Stories ohne echten Zusammenhalt (was Pollock ganz geschickt nutzt, denn so sind diese beschriebenen Leben: ohne Halt, schon gleich ohne Zusammen-Halt) nie, an keiner Stelle, auch nur ansatzweise einen Schimmer Hoffnung bereit hält. Dabei spricht ja Pollocks eigene Geschichte eine andere Sprache, denn er hat den Absprung ja geschafft, er selbst wäre ja das positive Gegenbeispiel zu all dem Elend dieser Stories. Doch auch wenn es nur 250 Seiten sind: Ununterbrochen diesem Elend zu folgen, das sich dann eben auch recht eindimensional anhand von Drogen und schlechtem Sex darstellt, ist auf Dauer ermüdend und ein wenig trist und – ja – auch langweilig. So wichtig Pollocks Beobachtungen sind im Kontext der amerikanischen Wirklichkeit, es bleibt Prosa, es ist kein Sozialbericht, und insofern auch einer Dramaturgie verhaftet, die es hier einfach nicht gibt. Was schade ist, was aber zugleich eben auch der eine wirkliche Schwachpunkt des Buches ist.
Was aber nichts daran ändert, daß wir es hier mit einer wesentlichen Stimme in einem Amerika zu tun haben, daß sich zusehends wandelt und uns fremder und fremder wird.