NULL K/ZERO K
Ein spätes Meisterwerk
Wenn Technologie zur Religion, ja, wie es an einer Stelle dieses Romans heißt: zur Naturgewalt wird, dann wird die Kränkung, daß diese Gewalt uns nicht ultimativ schützen kann, nicht ultimativ in der Lage ist, die Weltenläufte zu beeinflussen, umso größer. Ebenso aber auch die Angst, diese Technologie nicht mehr beherrschen zu können, ihr gleichsam einem Orkan oder einem Tsunami ausgeliefert zu sein. Welches aber ist die Kränkung schlechthin, welches ist die Ungeheuerlichkeit, die das Individuum gegenwärtigen muß und der es dennoch – bisher – nichts entgegen zu setzen hat? Es wird wohl die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit sein. Ein Skandal, der den Narzissten in uns allen ununterbrochen umtreibt, bewusst oder unbewusst.
Es bedarf wahrscheinlich nicht nur eines postmodernen Autors wie Don DeLillo, dem es gegeben ist, nicht nur unterschiedliche, scheinbar nicht zueinander in Beziehung stehende Themen und Gedanken, sondern nahezu gegensätzliche Ideen in einen Text zu integrieren, sondern möglicherweise eines Autors, der selbst altersbedingt der Thematik nah genug steht, um die Tragweite des Sujets zu erfassen. Der mittlerweile 80jährige Don DeLillo dürfte also alle Voraussetzungen erfüllen, den Themen Unsterblichkeit, Religiosität, Fetischismus, Technologie und Technikgläubigkeit und im Gegensatz dazu Spiritualität, Symbolismus und Linguistik angemessen begegnen zu können.
Jeffrey Lockhart reist in eines jener Länder der ehemaligen Sowjetunion, die sich an den südlichen Bauch des einstmals riesigen Reiches schmiegten, dem Westler unbekanntes Terrain, Projektionsfläche für Mythen, Ängste und Ressentiments, all diese -stans. Sein Vater, Ross Lockhart, ein Multimilliardär, ist dort Miteigentümer und Geldgeber eines Unternehmens, dessen Ziel es ist, den Tod zu besiegen: Schwerkranke aber auch sogenannte „Null Ks“ – Lebende, die den Weg in die Unsterblichkeit auch ohne erkennbare Erkrankungen als eine Art „Pionier“ antreten – sollen eingefroren und solange in einem schlafähnlichen Zustand gehalten werden, bis entweder Heilmethoden für ihre Krankheit oder ein Mittel gegen die Sterblichkeit generell gefunden sind. Jeffrey – ein Neurotiker, dem die Welt zu einem Zeichensystem gerinnt, das es ununterbrochen zu entschlüsseln gilt, allem voran die Sprache, die in ihrem Bedeutungsüberschuß immerzu Ungenauigkeiten, Grauzonen, Doppelbedeutungen gebiert, die Jeffrey, um die Unsinnigkeit und Unmöglichkeit seines Unterfangens wissend, einzugrenzen, auszumerzen und scharf zu umreißen sucht – trifft nun seinen Vater und dessen sehr viel jüngere zweite Frau Artis, der er sich nah fühlt und wird mit beider Vorhaben konfrontiert: Artis, schwerkrank, will den Weg in die eingefrorene Unsterblichkeit antreten, Ross will ihr als „Null K“-Anwärter freiwillig folgen. NULL K steht hier für „Null Kelvin“ – der Punkt an dem ein lebender Körper angeblich in den Zustand eines vorübergehend toten Gegenstands übergeht. Doch Ross, von schweren Schuldgefühlen geplagt, zieht im letzten Moment zurück und reist nach Artis´ Einfrierung mit Jeffrey zurück nach New York. Dort zieht er sich zusehends zurück und verfällt einem plötzlich einsetzenden Alter. Bei aller Abgeklärtheit, scheint Ross schlußendlich das pure Vermissen einzuholen. Reine menschliche Regung. Jeffrey kehrt in sein Leben zurück, tut sich erneut mit einer Frau zusammen, die er zwar nicht liebt – oder: nicht zu lieben glaubt – bei der er sich aber sicher, in gewissem Sinne geborgen fühlt. Sie hat einen Sohn, ein Adoptivkind, einen Jungen, der aus der Ukraine stammt und schließlich verschwindet. Mit dieser Frau, in den Alltäglichkeiten der Beziehung, erlebt Jeffrey Normalität, die ihm aus dem Zusammenleben mit seiner mittlerweile toten Mutter, die von Ross verlassen worden war, bekannt ist. Als Ross beschließt, den Weg in die Unsterblichkeit doch anzutreten, begleitet Jeffrey ihn erneut in das unbekannte Land. Dort, in der Anlage der Firma, die die Technologien entwickelt hat, die Unsterblichkeit versprechen, in der ununterbrochen apokalyptische Szenen aus der Weltgeschichte auf Bildschirmen in Gängen und Zimmern abgespielt werden, stößt Jeffrey auf einen Clip, in dem er den verschwundenen Adoptivsohn seiner Freundin sieht, wie er auf einer Barrikade in der Ukraine im Kugelhagel stirbt. Nachdem sein Vater „gegangen“ ist, kehrt Jeffrey nach New York zurück und macht sich erneut daran, die Zeichen der Wirklichkeit zu entschlüsseln.
Es ist DeLillos Virtuosität zu verdanken, daß es ihm gelingt, diese scheinbar so fern voneinander liegenden Stränge – eher Gedanken- denn Handlungsstränge – nicht nur zu verknüpfen, sondern derart zueinander in Bezug zu setzen, daß die daraus entstehenden Überlegungen ebenso virulent wie beunruhigend werden. Wer den Autor kennt und schätzt, weiß, daß er keinen Roman erwarten darf, in dem uns Personen in psychologischer Raffinesse und emotionaler Tiefe bereitet werden. DeLillos Schreiben kreist um Ideen, um Thesen, um Gedankengänge und deren Verknüpfung, weniger um das menschliche Fühlen und Sehnen. Menschen, Personen, sind hier Faktoren in einer Wirklichkeit, die fragmentiert, sich zerlegt und immerzu, ununterbrochen, neu zusammensetzt und refiguriert. Dabei nimmt der Autor selten eine wertende, gar moralische Haltung ein. Es ist das Wirken des Menschen in einer Wirklichkeit, die sich ihm in ihrer Gänze verweigert, nicht zu erkennen gibt, was DeLillo interessiert, doch mehr noch interessiert ihn die Frage, inwiefern wir Herr der Verfahren sind, die wir einleiten.
In jener Anlage, wo die Unsterblichkeit vorbereitet wird, kulminiert unsere Gegenwart, entfächert sich zu einem Panorama aus Wünschen und Sehnsüchten, die sich vor der Blaupause menschlichen Daseins – permanent verfügbar und präsentiert auf Leinwänden, Bildschirmen, in Holographien und Bildern – umso tragischer ausnehmen. Jeffrey trifft in den Gängen des unterirdischen Labyrinths nicht nur auf Bilder der Apokalypse, sondern auch auf solche, die die Begründer des gesamten Programms zeigen und deren fast zynisch anmutendes Nachdenken über die Zukunft einer Menschheit ohne Tod. Daß es die geben wird, die einst den Tod zum Kult machen und ihn wieder herbeisehnen und daß dies jene seien, die es zu überwinden gilt, so ihre Aussage, deutet den Religionscharakter, den das ganze Programm hat, an. Daß die reelle Gegenwart der im Buch Handelnden als ein einziger apokalyptischer Untergang wahrgenommen wird – was ja in etwa der momentanen Nachrichtenlage aller Medien entspricht – unterstreicht den religiösen Charakter der Unternehmung ebenfalls. Jeffrey trifft einen mysteriösen Pater in den Gängen, einen Mann, der augenscheinlich krank ist, verfällt und dennoch nicht bereit zu sein scheint, seiner „alten“ Religion abzuschwören und der neuen des „ewigen Lebens“ anheim zu fallen. Er macht keinen Gebrauch von der neuen Technik, erklärt sich allerdings auch nicht. Da ist das Alte bereits auf einem demütigen Rückzug in ein vielleicht devotes, vielleicht resignierendes Schweigen.
Daß das, was Ross Lockhart (ein Name, den sich der Mann erst spät im Leben selbst zugedacht hat, der ein wenig erzählt über seine geistige Haltung: lock(ed) h(e)art), nur den Superreichen zugänglich ist, versteht sich im Setting des Romans von selbst. Die Armen, Unterdrückten, die Massen, die sich erheben, bleiben dem alten Tod verhaftet. Man kann sie auf den Leinwänden in der Anlage in diesem –stan beobachten, wie sie in Umweltkatastrophen, Kriegen und Unfällen vergehen, verdampfen, versinken. Daß sie dabei womöglich intensiver leben und daß das Leben sich möglicherweise erst als solches vor dem Hintergrund, daß es vergeht, zu erkennen gibt, dieser Gedanke drängt sich im Schicksal von Stak, jenem adoptierten Kind, auf, das schließlich abhaut, sich in die alte Heimat durchschlägt und dort beim Barrikadenkampf getötet wird. DeLillo lässt das so stehen, er urteilt nicht und gibt dem Leser wenig bis keine Handlungs- oder Denkanweisung mit auf den Weg. Nicht ganz verstecken kann er seine Befürchtung, daß ein Westen, der schließlich derart entspiritualisiert ist, der sich aller Transzendenz entledigt und vollkommen einem Hier und Jetzt überlassen hat, daß eine solche Gesellschaft früher oder später zwangsläufig der eigenen Dekadenz erliegt und die eigene Profanität zur Religion erheben muß. Ewiges Leben ersetzt hier mit einem Mal die Aussicht auf einen Platz zu Gottes Rechten. Es gilt nur lang genug abzuwarten. Die Gefahren dieses Wartens, eingesperrt in eine Kapsel, in einem an jene endlosen Schubladensysteme in dem Film MATRIX (1999) gemahnende Aufbewahrungsraum, können nur erahnt werden, denn niemand kann wissen, wie es sein wird, einst, in Einhundert, Eintausend oder in einer Million Jahren zu erwachen.
In einem nur wenige Seiten umfassenden Intermezzo zwischen den beiden das Buch strukturierenden Teilen, gibt DeLillo dem Leser zumindest einen Teileindruck dessen, was sich im Hirn eines Scheintoten abspielen könnte. Es geht dabei letztlich um die Frage, wie viel Identität uns bleibt, nach einer langen Zeit im Kältebad.
Don DeLillo, dessen Schreiben immer sperrig ist, sich der leichten Lektüre verwehrt, das immer zum Mitdenken und zum Widerspruch zugleich aufruft, ist hier ein spätes Meisterwerk gelungen, das sich durchaus mit seinen Großwerken wie MAO II (1991) oder UNDERWORLD (1997) messen kann. Dies ist keine Erzählung im herkömmlichen Sinne, man sollte also keinen Spannungsbogen oder gar dramaturgische Verdichtung erwarten, es ist eine Meditation über eine säkulare Gesellschaft, die ihre eigene Säkularisierung, die eigene Profanisierung schlecht bis kaum erträgt. Womit sich die Frage stellt, wie sehr wir auf Transzendenz, ein außerweltliches Signifikat angewiesen sind, nicht zuletzt, um uns selbst auszuhalten, wie wir an dem ewig seine Umwelt beobachtenden und einordnenden Jeffrey erkennen können.
Und mit jeder Zeile, jeder Seite, die man liest, wird die eigene Unsicherheit in Bezug auf angenommene Sicherheiten immer größer. Größer und größer. Ein beunruhigendes Buch. Bekanntlich sind das die besten.