VOR DER ZUNAHME DER ZEICHEN

Senthuran Varatharajah erzählt auf ungewöhnliche Weise vom Fremdsein und der Fremde

Da hat einer ganz genau hingeschaut und hat die Zeichen der Zeit studiert. Und als ihm nur noch Symbole blieben, gemeinhin Sprache, weil die Syntax der Wirklichkeit zeitlich wie räumlich unendlich weit entrückt war, hat er noch einmal ganz genau hingeschaut. Und hat damit begonnen, sich die Zeichen und Symbole zu eigen zu machen, sie zu nutzen. Senthuran Varatharajah, tamilischer Abstammung und mit seiner Familie in den 1980er Jahren aus Sri Lanka geflohen, legt mit VOR DER ZUNAHME DER ZEICHEN Zeugnis ab von dem Ereignis des genauen Studierens der Zeichen und Symbole und den daraus resultierenden Ergebnissen und Erkenntnissen – sowohl die der phänomenologischen Wirklichkeit, als auch jene auf den Seiten der Bücher, Magazine und Comics und die auf den Monitoren aller Art: TV, Rechner, Laptops, Smartphones. In einem Dialog zweier sich ihrer Kultur – das bedeutet: Sprache, vor allem dies: Sprache – versichernden jungen Menschen, gelingt es ihm – intellektuell verdichtet, hochkonzentriert und gedanklich ebenso wagemutig wie genau – eine entfremdete Wirklichkeit zwischen weit voneinander entfernten Welten zu erfassen und glaubwürdig zu vermitteln. Die Glaubwürdigkeit verdankt er dabei wahrscheinlich der Form des Dialogs, allerdings eines Chat-Dialogs, der online vom Rechner, bzw. unterwegs vom Handy aus geführt wird. So hat man es hier im weitesten Sinne mit einem Briefroman zu tun. Da es aber ein hochgradig modernisierter Briefroman ist, kann Varatharajah seine Protagonisten frei, wenig formal und durchaus auch alltagstauglich sprechen, bzw. schreiben lassen. Daß dabei manchmal ein etwas gestelztes Deutsch entsteht, hat durchaus seinen Sinn.

Der Tamile Senthil Vasuthevan und die Kosovo-Albanerin Valmira Surroi begegnen sich auf Facebook. Sie glauben sich zu erkennen, da sie beide sowohl in Marburg, als auch in Berlin studiert haben. Zwar stellen sie fest, daß sie sich trotz gemeinsamer Bekannte nie über den Weg gelaufen sind, doch erkennen sie Übereinstimmungen in ihren Lebenswegen. Beide stammen aus für deutsche Verhältnisse eher exotischen Kulturen, beide sind vergleichsweise früh im Leben nach Deutschland gekommen, beide haben weitere Auslandserfahrung, er in Amerika, sie in Asien, beide haben – zumindest für ihre Familie eher unüblich – studiert und eine bürgerlich gesicherte Zukunft vor sich. So hat man es hier keineswegs mit einem Lamento über die kalten Deutschen oder ein fremdes, abweisendes Land zu tun. Obwohl auch diese Momente im Text vorkommen, begreift man eher, wie neugierig der Fremde einem Land begegnen kann. So, wie wir selber es ja auch tun, wenn wir mit Rucksack und Wanderschuhen die Erforschung fremder Kulturen betreiben – allerdings freiwillig und mit Rückfahrschein, ein bedeutender Unterschied. Als Leser deutscher Abstammung ist man fast schon etwas enttäuscht, wie wenig dieses Land letztendlich eine Rolle spielt. Zumindest als Objekt. Nein, es ist die Sprache, auf die beide m Gespräch Beteiligten reflektieren. Das Staunen und Erkennen der Möglichkeiten, aber auch der Fallstricke und Tücken einer so anderen Sprache, wie es das Deutsche wohl Vielen ist. Die Doppeldeutigkeiten, wenn Begriffe in ihrer Bedeutungsbreite bis an entgegen gesetzte Enden des Spektrums reichen – entfernen bspw. – oder jene Bedeutungswandlungen und -verluste, die in jeder Übersetzung zwangsläufig auftreten; die Verdrängung des Eigenen, das Kultur genannt wird, sich in Sprache aber ausdrücken muß, durch die neu zu erlernende Sprache, die nicht nur umdeutet, was bisher galt, sondern entfernen kann, was bisher galt. Sie löscht aus. In Senthils Falle kommt hinzu, daß er und seine Familie in Deutschland schnell Anschluß bei den Zeugen Jehovas gefunden haben. So geprägt, stellt sich für Senthil die Sprache – am Anfang war das Wort – nicht nur als System neuer Symbole und Buchstaben dar, sondern sie ist zugleich Eintritt in ein Glaubenssystem. Seine Reflektion auf die Gesellschaft, in der er schließlich erwachsen wurde, wird schon auch durch diesen Bezug zum Monotheismus gefiltert. Doch zugleich lehrt die Lektüre auch jene emotionalen Zustände, wenn das Eigene verloren geht und verzweifelt festgehalten werden soll. Die Entfremdung gegenüber den Eltern und dem, wofür sie stehen – etwas Altes, vielleicht Überkommenes – findet hier dann ebenso Raum, wie die Überlegung, was man selber – lediglich schreibend, sich im Rahmen der 26 Buchstaben des phonetischen Alphabets und der Sonderzeichen bewegend und also auch nur in diesen Zeichen existierend – eigentlich ist? Auch nur ein Zeichen? Ein Signifikant oder Platzhalter gar für jene, die nicht da sind, die es nicht geschafft haben, die unterwegs geblieben sind oder bereits daheim aufgegeben haben. Spätesten an diesem Punkt – und es gibt da einige im Buch, nicht nur in Senthils Geschichte – begreift man, wie nah die scheinbar abstrakteste Überlegung (und einige der Gedanken erinnern an postmoderne Sprach- und Zeichentheorie) an einer gnadenlos konkret stattfindenden Realität sein kann.

Momentweise wirkt diese Sprache, gerade die, derer Senthil sich bedient, wie oben erwähnt, arg abgehoben und dadurch auch gestelzt. Man muß sich vor Augen führen, daß sich hier zwei Nichtmuttersprachler in Deutsch unterhalten und über ihre Erfahrungen in diesem Land und in ihrer Identität austauchen, in dieser Sprache mit ihren Möglichkeiten, dann mag die leicht blasierte Syntax, die Varatharajah Senthil (einem Alter Ego?) angedeihen lässt, verständlich sein. Eine sprachliche Markierung, die wahrscheinlich bitter nötig ist, um gerade den deutschen Leser daran zu erinnern. Allerdings hält der Autor des Buches dies nicht durch, wodurch noch auffälliger wird, was, wenn gewollt, eigentlich nur ein stilistischer Hinweis sein sollte. Ebenso fällt auf, daß sich nur selten ein wirklicher Dialog zwischen Valmira und Senthil entspinnt. Mehr und mehr gewinnt der Leser den Eindruck, daß sich hier zwei ihrer selbst versichern, den andern eher als Resonanzraum, weniger als gleichberechtigten Gesprächspartner benötigen. In diesen Momenten springt die Konstruktion als modernisierter Briefroman gesondert ins Auge und entpuppt sich als gewagt, fallen doch die Anliegen des Autors so noch stärker auf, als sie es bspw. in einem reinen Thesenroman täten. Doch scheint Varatharajah durchaus auch damit etwas zu beabsichtigen. Denn in diesem verhinderten Dialog kommt doch viel über die Sprachlosigkeit nicht nur zwischen Fremden, denen somit ebenfalls als „Signifikant“ ihre einmalige, menschlich individuelle Bedeutung zugestanden wird und die nicht zu einem „Einheitsausländer“ vermischt werden, sondern auch eine gewisse Sprachlosigkeit zwischen den Geschlechtern gerade bei Abstammung aus sehr traditionellen, eher konservativen Gesellschaften zum Ausdruck. Definitiv lauert in diesem Text eine Bedeutungsebene hinter der andern.

Das ist alles manchmal angestrengt, manchmal schwer nachzuvollziehen. Der Text erfordert ein enorm genaues Lesen, doch sind diese Gedanken und vor allem die sprachliche Umsetzung es wert, daß man ihnen diese Aufmerksamkeit und Genauigkeit zu teil werden lässt. Vieles kann man lernen, nicht nur über das Fremdsein, sondern auch darüber, wie aus der Fremde kommend dieses Land wahrgenommen wird. Selbst immer stärker entfremdet, vollzieht man bei der Lektüre die Bewegung dieser beiden Studenten und ihres Weges in diese Gesellschaft hinein mit. Das ist nicht nur hochinteressant, intellektuell stimulierend, sondern auch ganz einfach sehr, sehr spannend.

 

 

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