J/J: A NOVEL

Howard Jacobson denkt das Freund-Feind-Schema neu und gibt ihm bestürzende Aktualität

In einer nicht näher bestimmten Zukunft existiert in einem Land, das einmal Großbritannien gewesen sein mag, eine Gesellschaft, in der – der Text verweist mehrmals explizit darauf – zwar wenig staatliche Repression, dafür aber ein hohes Maß an sozialer Kontrolle herrscht. Und die bestimmt, daß und auf welche Weise es harmonisch zuzugehen habe im Lande. Man entschuldigt sich, gefälligst auch für allerhand, was man nie getan hat. Dräuend über dieser Gesellschaft hängt das Bewußtsein, daß in einer fernen Vergangenheit etwas geschehen ist, das man weder erinnern noch benennen darf oder will, zu schrecklich und damit zu gefährlich für die Gemeinschaft sei die Erinnerung an begangenes Unrecht. Erinnern kann gefährlich sein, weshalb es zwingend notwendig ist, daß diese Gesellschaft die Erinnerung ausspart. Geschichtsvergessen sowohl was die gesellschaftliche wie die private Erinnerung betrifft, stellen staatliche Organe jedoch fest, daß zunehmend Disharmonie herrscht, daß die Menschen von einer schwer greifbaren Gereiztheit ergriffen sind und als es sogar zu Morden – unvorstellbare Vergehen in einer Gemeinschaft der Harmonie – kommt, soll gehandelt werden. In dieser Gemengelage lernen Kavern Cohen und die junge Ailinn einander kennen und lieben. Doch bald häufen sich im privaten Umfeld der beiden die Anzeichen, daß weder ihre Begegnung noch die daraus entwachsene Liebe reiner Zufall gewesen sind, sondern daß dahinter offenbar so etwas wie ein Programm steht…

Der Westen sieht sich einer neuen alten Bedrohung ausgesetzt – dem Glauben als Referenzsystem der Wirklichkeit und dem Schrecken, der daraus hervorgeht: Religionskriege – und europäische Intellektuelle entdecken das Thema ‚Glaube‘ neu, setzen sich erneut damit auseinander und beweisen auch, daß die Postmoderne möglicherweise schon zu weit fortgeschritten ist, um sie nun noch einzuholen, auszumerzen und umzudrehen. Während Martin Mosebach seit Jahren einen gegenteiligen Kampf führt, wenn er aus der Sicherheit eines gefestigten Katholizismus heraus eine Rückbesinnung auf das klassische Christentum verlangt, bestätigt Dietmar Dath die These in seinem neuesten Werk LEIDER BIN ICH TOT, indem er den Zeichen selbst göttliches Wesen attestiert; zumindest, solange „göttlich“ auch bedeutet, daß etwas sich unserer Kenntnis entzieht und die Begriffe ‚Gott‘ oder ‚göttlich‘ Umschreibungen für das nicht Fassbare bleiben. Howard Jacobson, Autor des vorliegenden Werkes J,  geht einen anderen Weg, wenn er schneidenden Sarkasmus nutzt, dabei manchmal die Grenze des Zynismus streifend, um seinen Lesern nicht nur eine Dystopie der perfekten Harmonie vor Augen zu führen, sondern den Glauben auch als Möglichkeit der Abgrenzung zu definieren. Eine Abgrenzung, die der Mensch bitter nötig habe, nicht zuletzt, um sich seiner eigenen Identität zu versichern. Selbststärkung und Eigenerkenntnis durch die Erfahrung der Ablehnung, ja des Hasses des Anderen. Jacobson mutet seinen Lesern einiges zu, so manches Mal bleibt man während der Lektüre zwischen diesen manchmal so leichtfüßig daherkommenden Zeilen hängen und muß doch schlucken, wenn man sich verdeutlicht, worauf der Gedankengang des Textes hinausläuft.

 

Howard Jacobson breitet in seinem zwischen Utopie und Dystopie changierenden Werk mit einer manchmal fast boshaften Gelassenheit tiefgreifende philosophische Gedanken aus, die den Leser, der bereit ist, dieser nicht immer ganz einfach zu lesenden Lektüre zu folgen, mit wahrlich bestürzenden Ideen konfrontiert. Es geht dabei nicht so sehr um Fragen des (richtigen) Glaubens, als vielmehr um die Frage, wie sich eine Gesellschaft konstituiert, wie nicht nur der Einzelne, das Individuum, sondern wie ein Kollektiv seine Identität definiert und daß dafür möglicherweise dringend das Andere als Projektionsfläche der eigenen Ängste, Verwünschungen und auch des eigenen Hasses benötigt wird. Eingeschoben in den erzählenden Fließtext, werden uns Tagebuch- und Reportaufzeichnungen geboten, die das „Programm“ immer stärker verdeutlichen, welches von nie näher bestimmten offiziellen Stellen initiiert wurde, um letzte Überlebende dessen zu finden, das einst geschehen ist und offensichtlich ein Genozid am jüdischen Teil der Bevölkerung bedeutete. Diese Exzesse werden dem Leser allerdings nicht näher erläutert. In einer „Aktion ISHMAEL“ (eine Anspielung auf den ersten Satz aus Melvilles MOBY DICK – „Nennt mich Ishmael“), die unmittelbar nach dem, was einst geschah, durchgeführt wurde, bekam jeder Bürger einen neuen Namen, den er sich erwählen durfte. Offenbar sollte es lediglich ein jüdischer Name sein (Cohen u.a.). Als hätte man auf den Ruinen eines ausgerotteten Gegners dessen Identität angeeignet, sich mit den Stämmen Israels gleichsetzend, um damit die Schuld, die die Gemeinschaft auf sich genommen hat, zu benennen und in der Nennung auszumerzen. Fast ein heidnisch-religiöses Ritual. Doch scheint die namentliche Aneignung des „Feindes“ nicht zur Befriedung der Gesellschaft beigetragen zu haben, denn ganz offensichtlich sind sowohl Ailinn als auch Kavern späte Nachkommen derer, die damals realiter vernichtet wurden. Nun wird ein Kind gewünscht aus dieser Verbindung, denn offenbar braucht die Gesellschaft einen inhärenten Gegner, und warum sollten dies nicht ganz einfach jene sein, die es schon immer waren? Die Juden. Was der Text so allerdings nie ausformuliert, lediglich als bitterböse Schlußfolgerung nahelegt.

 

Howard Jacobson, selbst Sohn jüdischer Eltern, der Geschichte des Judentums verbunden, jedoch nicht praktizierend, bietet hier einen höchst provokanten Text, der Glaubenssysteme zunächst als etwas Nutzbares, Nützliches behandelt. Wenn Ailinn schließlich Kaverns Kind austrägt, der Vater jedoch diesen Weg – aus Verzagtheit ebenso, wie aus Verweigerung – nicht mitgehen will und das Ungeborene also bei zwei Frauen aufwachsen wird (Ailinn und deren Freundin Ez, die eine herausgehobene Rolle bei der Entwicklung der Ereignisse spielt), dann ist die Volte perfekt, indem der Autor nicht nur eine Wiederholung der Christusgeschichte andeutet und somit Glaubenssystemen vor allem eine sozialtherapeutische und -hygienische Rolle zuweist, sondern zugleich das zeugende Geschlecht schlichtweg als obsolet darstellt und somit all jenen konservativen Kräften, die das herkömmliche Familienbild erneut präferieren wollen, eine Absage erteilt. Nicht zuletzt genau den konservativen Kräften, die den Glauben wieder auf den Schild gesellschaftlicher Relevanz zu heben hoffen. Der jüdische Glaube wird traditionell über die Mutter vererbt, was ihn jedoch nicht davor bewahrt hat, ebenfalls ein patriarchales System hervorzubringen. Ein monotheistisch geprägtes Patriarchat, welches, wie alle monotheistischen Glaubenssysteme möglicherweise, den Gegner, den Ausschluß des andern als selbststärkendes Bindemittel, unbedingt benötigt.

 

Jacobsons Text ist somit nicht nur ein bitterböses Spiel mit Erkenntnissen über das Ich und das Andere der (post)modernen Philosophien, ein Spiel mit Fragen der Identität und mit psychologischen Merkmalen gesellschaftlicher wie individueller Konsens- und Identitätsstiftung, ein Parforceritt auf dem schmalen Grat zwischen zum Zynismus neigender Satire und wütendem Anrennen gegen herkömmliche antisemitische Klischees, die der Text zuhauf einführt und in ihrer ganzen dümmlichen Pracht ausstellt, sondern der Autor liefert auch die Analyse einer Gesellschaft, die der Dekadenz anheimfällt, die sich in sich selbst nicht mehr wiederfindet und darob anfängt, an sich selbst zu erkranken. Jacobson beschreibt eine Gesellschaft, die an ihrem Verdrängten erstickt und beginnt, sich selbst zu zerfleischen, im Glauben, sich so Luft zu verschaffen. Was, so die implizite Frage des Textes, was, wenn wir OHNE Hass, ohne Feind, ohne Widerpart, also auch ohne Projektionsfläche unserer Ängste, Projektionsfläche dessen, was uns an uns selbst stört, gar nicht existieren können? Weder als Einzelner, noch als sozialer Verbund?

 

Zu geschickt, als daß wir uns der Frage entziehen könnten – manchmal fast schon hinterhältig, mit ebensolcher Lust an der Verführung des Lesers wie an seiner Irreführung – , baut Jacobson seinen Versuch auf. Erst spät im Text begreifen wir die wirklichen Zusammenhänge. Zunächst wird uns die Liebesgeschichte zweier Außenseiter erzählt. Zweier Menschen, die ahnen, sie gehören nicht zur Gemeinschaft, sie sind kein Teil eines (eingebildeten?) Ganzen. Das vorsichtige Tasten, die ersten Erkenntnisse über den andern, das allmähliche Verfestigen eines vielleicht nur flüchtigen Gefühls – für all das noch frische Worte, eine neue Sprache zu finden, ist nicht einfach. Jacobson erzählt aber doch mit leichter Hand, manchmal flirrend, vom zarten Pflänzchen „Anfang“ und den sich dann ergebenden Verflechtungen. Es gelingt ihm, das sprachlich so fein zu vermitteln, daß man kaum merkt, wo sich der Zauber des Beginns in die Zwänge der Erwartung, die Mühen der Ebene wandelt. Doch mit fortschreitender Lektüre beginnt man auch zu warten, denn eine weitere Liebesgeschichte, den Klassiker der Außenseiter, die sich finden und gemeinsam die Welt erobern, muß es nicht unbedingt noch einmal sein. Dafür mutet die Geschichte von Kavern und Ailinn doch zu bekannt an, auch zu formelhaft. Hier stößt der Roman an eine Grenze, die auch seine Gesamtkonzeption betrifft. Denn es ist eine Konstruktion, eine Anordnung, ein Versuch. So und nur so geht auf, was uns Jacobson erzählen will und nur so macht es als Irritation – und damit auch Provokation – Sinn.

 

Anders als bspw. Dave Eggers in THE CIRCLE, deutet Jacobson die Welt, in der seine Geschichte sich zuträgt, nur an, skizziert sie mit einigen wenigen, feinen Strichen und blassen, zarten Tönen. So widersteht er der Versuchung, sich zu sehr auf ein ausuferndes Gedankenexperiment zu Fragen eines konkreten Gesellschaftsgebildes einzulassen und kann sich stattdessen auf das gedankliche Experiment der Metafragen seiner sozialpsychologischen Anordnung einlassen. Doch bleibt die gesellschaftliche Realität, die sich eben immer wieder andeutet, ebenfalls formelhaft. So bleibt das Ganze dann eben auch ein Experiment. Läßt man sich darauf ein, beschleicht einen nach und nach ein ausgesprochen unangenehmes Gefühl subtiler Bedrohung. Je weiter wir den Text verfolgen, desto bitterer stoßen uns, den Lesern, die Erkenntnisse auf. Sind wir Herren unserer Gefühle? Sind wir den Gefühlen ausgeliefert? Oder haben wir gar keine „eigenen“ Gefühle? Ist sowieso alles „gemacht“? Gibt es einen Plan? Ist alles Bestimmung, wie uns die Glaubenssysteme vermitteln wollen? Sind wir fremdgesteuerte Wesen, die sich in Glaubenssysteme flüchten, um im Angesicht der Unfreiheit nicht dem Wahn zu verfallen? Und welche Position nimmt in solch einer Anordnung dann der Autor selbst ein? Wer eigentlich ist das „göttliche Wesen“, dem nicht zuletzt der Leser sich aussetzen muß, jedes Mal, wenn er ein Buch aufschlägt und zu lesen beginnt?

 

Allerdings kann man sich dem Ganzen auch genauso gut entziehen, indem man die Prämissen, die Jacobson wählt, in Frage stellt. Warum macht er aus dem, was geschehen ist, ein Geheimnis, wenn er dann doch – und durchaus zurecht – erkennbar die Shoah nutzt als singuläres und genau deshalb allgemein gültiges Zeichen, den Holocaust als Emblem eines Menschheitsverbrechen postulierend? Das Formelhafte ist immer das Problem von Utopien wie Dystopien. Man merkt zu genau, daß der Autor es genau so braucht, um sein Anliegen vorzubringen. Man kann sich von diesen Formeln zu leicht distanzieren. Ebenso verhuscht, wie die angedeutete Gesellschaft mit dem „was vielleicht geschehen ist“ umgeht, geht der Text mit dem real ungeheuerlichen Vorbild um. Das ist wohl gewollt. Doch stellt sich immer wieder, wenn die Andeutungen überdeutlich werden, die Frage, wieso dann nicht genannt wird, was gemeint ist. Die Beschäftigung mit solcherlei Fragen allerdings entfernt von der Lektüre – nicht nur die Situationen, sondern zusehends auch die Personen werden dem Konstrukt unterworfen, was das Ganze manchmal starr wirken läßt. Das, was oben als bedrohlich sich durch den Text schlängelnd benannt wurde, kann so eben auch schnell wieder in erträgliche Ferne gerückt werden.

 

Dennoch: Howard Jacobson gelingt ein manchmal einfach amüsant zu lesender, zusehends sich bedrohlich entwickelnder Text, der Fragen stellt, die durchaus an den Grundfesten unserer als selbstverständlich angenommenen gesellschaftlichen Axiome, Kategorien und Wertvorstellungen rütteln. Ein Text, dem es fast spielerisch gelingt, aktuelle Fragen wie jene nach dem freien Willen, gesellschaftlicher wie individueller Identität, Liberalität, Toleranz und den Grenzen aufgeklärter Gesellschaften oder aber geschichtlicher Deutungshoheit, bzw. Geschichtsvergessenheit, mit grundsätzlich philosophischem Nachdenken zu verweben und dabei beunruhigende Thesen aufzustellen. Diese Thesen allerdings formuliert der Text dann derart, daß sie sich wirklich nur wie angedeutete Möglichkeiten darstellen, niemals als dogmatisch erscheinende Wirklichkeitsdeutungen oder -erklärungen daherkommen. Witz und sprachliche Finesse sind Jacobsons Mittel. Und die symbolisch hochgezogenen Augenbrauen, die man manchmal zu sehen meint, wenn der Autor sich hin und wieder zu fragen scheint, was ihm denn da nun aus der Feder geflossen ist?

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