EIN ZIMMER IM HAUS DES KRIEGES

Christoph Peters stellt die entscheidende Frage nach dem "Warum?" und liefert dabei einen astreinen Polit-Thriller

Gehört man zur Kohorte jener zwischen 1965 und 1975 Geborener, dürften es wohl zwei bewußt erlebte Ereignisse gewesen sein, die im Leben dieser Menschen historisch genannt werden dürfen. Nimmt man die Mondlandung einmal aus, wären dies der Fall der Berliner Mauer und die damit einhergehenden Veränderungen in der politischen Großwetterlage, der Zusammenbruch des Ostblocks, des Warschauer Pakts, und die Neuordnung Europas am Ende der 80er, zu Beginn der 90er Jahre. Das vielleicht noch einschneidendere Erlebnis dürfte aber jener in der Chiffre 9/11 zusammengefasster Komplex sein, der durch den Angriff auf das World Trade Center in New York ausgelöst wurde und die Weltordnung so nachhaltig veränderte, daß diese Änderungen auch heute, im Jahr 2021, nicht nur spürbar sind, sondern immer noch spürbare geopolitische Auswirkungen haben.  Aber und vor allem auch die gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Folgen kann man heute noch erleben.

Jener Tag im September, als 19 vollkommen der islamistischen Ideologie verschriebene Männer muslimischen Glaubens vier Flugzeuge kaperten und zwei davon in New York in die Türme krachen, ein weiteres in Washington, D.C. auf das Pentagon stürzen ließen, während das letzte auf ein offenes Feld stürzte, nachdem sich an Bord tumultartige Szenen abgespielt haben müssen, als ein Teil der Passagier gegen die Entführer aufbegehrte und die Maschine zum Absturz brachte, wird die weltpolitische Lage und die geopolitische Strategie wahrscheinlich noch weit ins 21. Jahrhundert hinein definieren – auch wenn in diesen Tagen neue Konflikte, wie der zwischen den USA und China, die weltpolitische Agenda zu bestimmen scheinen. Der Schrecken, den die Tat auslöste, die Unsicherheit, die sie heraufbeschwor, als man erkannte, daß selbst die modernste Abwehrmaschinerie der Welt, die modernsten Technologien und hochgerüstetes Militär nicht in der Lage sind, nicht ausreichen, uns vor Menschen (Männern) zu schützen, die zu allem entschlossen sind, hinterließ einen bleibenden Eindruck in der westlichen Welt. Danach begannen viele im Westen sich zu fragen, wer diese Menschen (Männer) eigentlich sind? Was hat sie zu den scheinbar religiös Verbrämten werden lassen, die den eigenen Tod, nein, besser: das eigene Leben, einsetzen, um gegen den vermeintlichen westlichen (Kultur)Imperialismus und seine übermächtige Militärmacht vorzugehen und den Islam in einer Form zu verbreiten, die uns westlich Aufgeklärten so unendlich fremd ist?

Es wurden Studien in Auftrag gegeben und Essays geschrieben, Soziologen und Psychologen, Kulturwissenschaftler, Historiker und Politologen gaben mal mehr, mal weniger kluge Kommentare ab. Im Jahr 2006 veröffentlichte bspw. Hans Magnus Enzensberger einen schmalen Band, in dem er über SCHRECKENSMÄNNER – VERSUCH ÜBER DEN RADIKALEN VERLIERER nachdachte und dabei nach Gemeinsamkeiten zwischen den einsamen Wölfen in westlichen Großstädten, die zu Amokläufern werden, und den Fanatikern des radikalen Islam suchte. Ob sein Versuch geglückt ist, darüber lässt sich streiten, er zeigt aber vor allem, wie groß die Ratlosigkeit im Angesicht eines (weitestgehend) neuen Phänomens war.

Im gleichen Jahr veröffentlichte Christoph Peters seinen Roman EIN ZIMMER IM HAUS DES KRIEGES (2006). Auch Peters stellt sich der Frage, was Einzelne derart verbittern lässt, was sie sich Ideologien (oder auch Religionen) anschließen lässt, die ihnen von Haus aus fremd sind und dennoch Schutz, Sinn und Halt zu bieten scheinen. Wobei Peters nicht den Fehler macht, sich in einen ihm auch kulturell Fremden einzudenken – also die Geschichte eines Arabers, Saudis oder Afghanen zu erzählen, der sich für den bewaffneten Kampf entscheidet  – sondern sich eines Deutschen annimmt, der in Ägypten als einer von wenigen eine Aktion des Militärs überlebt, in welcher ein islamistisches Kommando aufgerieben wird, das die Touristenattraktionen in der Tempelstadt Luxor angreifen und möglichst viele Menschen töten sollte.

Jochen Sawatzky heißt der immer noch junge Mann, der aus Frankfurt a.M. stammt, in der dortigen Drogenszene zu Hause gewesen ist, dort auch gelegentlich als V-Mann für die Polizei, genauer die Drogenfahndung, gearbeitet, sich dann in eine junge Frau muslimischen Glaubens verliebt hat und eher durch Zufall in den Dunstkreis einer jener Moscheen gerät, in denen auch der radikale, fanatische Islam gelehrt wird. Nun sitzt dieser Jochen Sawatzky in einem Hochsicherheitsgefängnis in Kairo und wartet auf seinen Prozeß und das mit hoher Wahrscheinlichkeit anstehende Todesurteil. Dem deutschen Botschafter Claus Cismar fällt die undankbare Aufgabe zu, sich um den fanatisierten jungen Mann zu kümmern, ihm den Beistand der Botschaft zukommen zu lassen und für eine ordentliche Rechtsvertretung zu sorgen. Cismar will aber mehr: Er will den Mann verstehen. Und mit der Dauer seiner Besuche im Gefängnis, erfährt der Leser nicht nur von den Schwierigkeiten, die eine solche Betreuung in einem fremden Land mit ganz eigenen politischen und vor allem wirtschaftlichen Interessen und Motiven mit sich bringt, sondern begreift auch Cismars tieferliegendes Interesse an der Entwicklung des Mannes. Denn der aus adligem norddeutschem Hause stammende Diplomat, in einer wenig inspirierenden Ehe gefangen, in der Mitte seines Lebens sich seiner selbst und dem eigenen Werdegang nicht mehr sicher, von Zweifeln und einem Magengeschwür geplagt, sieht in Sawatzky nicht nur den verblendeten Fanatiker, sondern auch einen Menschen, der sich um jeden Preis treu bleiben will, einen Menschen der unbedingten Überzeugung, jemanden, der für seine Überzeugungen bis in den Tod einzustehen bereit ist. Einen Entschlossenen.

Diese Geschichte siedelt Peters allerdings keineswegs in den Jahren nach 9/11 an, sondern im Jahr 1993. Das historische Großereignis der „Wende“ liegt noch nicht lange zurück, im ehemaligen Jugoslawien bricht der Bürgerkrieg aus und die USA haben, nachdem sie Kuweit erfolgreich gegen den Aggressor Irak „verteidigt“ haben, den Nahen Osten derart neu geordnet, daß ihnen genügend Erdölreserven zur Verfügung stehen, um ihren energiereichen Lebensstil aufrecht zu erhalten. Es ist also eine Welt des Umbruchs am Ende des 20. Jahrhunderts, in die Peters eintaucht. Das gibt ihm die Möglichkeit, all jene Entwicklungen nach diesen Jahren gedanklich in seinen Roman einzuschreiben, was er unter anderem dadurch zeigt, daß er Sawatzky in einer seiner Tirade auf die Entschlossenheit hinweisen lässt, mit der immer mehr junge Männer des Islam sich dem bewaffneten Kampf anschließen und bereit sein werden, den eigenen Körper zur Kampfzone zu erklären, das eigene Leben für einen asymmetrischen Krieg einzusetzen. So verweist der Roman geschickt auf die Zeit nach 9/11, also die Zeit seiner Veröffentlichung, denn im Jahr 2006 waren die Ereignisse jenes Septembertages noch allgegenwärtig und bestimmten sowohl die Tagespolitik, als auch die Nachrichten. Und sogar jenes Konstrukt, das die westlichen Zeitungen schließlich den Islamischen Staat (IS) nannten, kann Peters so schon seine Schatten vorauswerfen lassen. Denn Sawaztky spricht genau von einem solchen Versuch, einen pan-islamischen Staat zu gründen.

Nach einem vergleichsweise kurzen Ersten Teil, der aus Sicht Sawatzkys den Einsatz des Kommandos und das Gefecht mit den ägyptischen Sicherheitskräften schildert, nimmt der Roman jedoch die Sicht Cismars ein. Dieser, ein Alt-68er, der seinen Adelstitel und das „von“ abgelegt hat, ein Liberaler, den die Karriere und das Älterwerden ins Zweifeln gebracht haben, sieht in dem jungen Mann eben nicht nur den Fanatiker, dessen Motive man nicht versteht, sondern auch einen Nachklang der eigenen Jugend. Immer wieder stellt er gegenüber Sawatzky Bezüge zu seiner Generation her, die die Gewaltfrage ebenfalls klären musste, als die RAF sich aufmachte, der bundesdeutschen Gesellschaft die Maske herunterzureißen und deren vermutete faschistische Fratze zu entblößen. Cismar gehörte zu denen, die sich spätestens an dieser Stelle aus dem studentischen Diskurs verabschiedeten, in gewissem Sinne ist er ein Seichter, dem die eigene Karriere dann doch wichtiger war, als die Ideale. Allerdings verkauft Cismar diese Entscheidung sich selbst gegenüber als den berühmten „Marsch durch die Institutionen“, den diese Generation dann ja bekanntlich angetreten hat, um die Gesellschaft von innen heraus zu verändern.

Peters gelingt es geschickt, dieses Spannungsfeld zwischen den beiden Männern, dem jungen und dem älter werdenden, ein Spannungsfeld, das sich letztlich im gesellschaftspolitischen Raum auftut und auch einen Generationenbruch markiert, dadurch anzureichern, daß er mit Cismar eine Figur erschafft, die glaubwürdig auch in ihren privaten Verwerfungen und Unsicherheiten ist. Denn dieser Claus Cismar ist keineswegs nur eine eindimensionale Gestalt. Er unterhält ein platonisches Verhältnis zu einer Kollegin an der französischen Botschaft, Francoise, die die einzige zu sein scheint, die ihn und seine Abgründe versteht. Ein Übertreten der roten Linie, also die Intimität zwischen beiden, liegt immer in der Luft wenn sie sich treffen, wenn sie miteinander telefonieren und sprechen. Zugleich hat Cismar wenig Verständnis für seine Frau Ines, die nicht zurechtkommt mit den Bedingungen in einem muslimischen Land, die sich unsicher fühlt und am liebsten sofort wieder in die deutsche Heimat zurückkehren möchte. Geschickt greifen diese Ebenen ineinander, wird an ihnen innere Entfremdung und die Distanz vermessen, die wir im Laufe des Lebens zu uns selbst einnehmen, zu unseren Idealen, Träumen und Plänen. Cismar ist eben auch die Studie eines erfolgreichen Mannes in der Midlife-Krise, der sich überprüft und dabei schlecht wegkommt. Er erlebt sich selbst als seicht, während Sawatzky wie ein Menetekel des eigenen Versagens vor ihm sitzt.

Der Klappentext auf der Taschenbuchausgabe verrät uns, daß die Redaktion des ZDF-Kulturmagazins aspekte Peters Roman in die Tradition der Thriller eines John le Carré einordnet. Und ein Politthriller ist EIN ZIMMER IM HAUSE DES KRIEGES gewiß auf seine Weise. Eingeschobene Botschaftsberichte an das deutsche Innenministerium rufen die offizielle, bilaterale, letztlich also politische Ebene des Romans immer wieder in Erinnerung. Und wie ein guter Politthriller von John le Carré – oder, als Vergleich vielleicht sogar geeigneter, Eric Ambler – versteht Peters, wie wichtig die zweite Ebene ist, wie wesentlich die persönliche Verstrickung – oder Verstricktheit – des oder der Hauptprotagonisten in die scheinbar übergeordneten Vorgänge ist. Die Vorgänge, die Fremde, die komplett andere Kultur, auch die politische Kultur, wird zu einem Spiegel der eigenen Entfremdung Cismars, auf den Peters` Roman den Fokus richtet. Und dennoch behält der Autor die immens politische Ebene immer im Auge.

So gelingt es fast wie nebenher, die Verbindung zwischen persönlicher Krise – die Sawatzky in die Hände radikaler Kräfte getrieben hat – mit weltpolitischen Ereignissen und Strukturen und deren Auflösung zu verbinden. Auch dazu dienen die eingeschobenen Berichte, die in ihrem formellen, unpersönlichen Ton aufzeigen, wie der Einzelne, das Individuum, in die Mühlräder der Weltgeschichte geraten und darin zerrieben werden kann. Bei der Beschreibung eines  Botschaftsempfangs bietet Peters seitenlang scheinbare Floskeln, die ohne Zuordnung  zu einzelnen Personen das Stimmengewirr auf einer Stehparty wiedergeben – und dennoch kommt gerade hier zum Ausdruck, wie groß die Diskrepanz ist zwischen dem individuellen menschlichen Schicksal eines Jochen Sawatzky und der diplomatischen Dimension, in der er nur ein Beispiel, ein Fall, „der Deutsche“ und letztlich ein Spielball all jener unpersönlichen, bilateralen Interessen ist, die oben bereits beschrieben wurden. Ein guter Politthriller versteht genau diese Verbindungen und Spiegelungen herzustellen. Demzufolge ist EIN ZIMMER IM HAUS DES KRIEGES ein wirklich gelungener Politthriller.

Dazu trägt natürlich auch bei, daß Peters sich auf keine Schilderungen und Beschreibungen von Charakteren einlässt, denen er nicht gerecht werden kann. Deshalb ist sein Antagonist, zu dem Sawatzky im Laufe des Romans wird, ein Deutscher, dessen nur angedeutete Geschichte Peters nachvollziehbar machen kann. Wie wollte sich ein im äußersten Westen der alten Bundesrepublik in behüteten Verhältnissen Aufgewachsener auch in die Psyche oder Seele eines afghanischen Dschihad-Kämpfers einfühlen wollen? Doch es fällt auf, daß Sawatzkys Argumente recht schematisch vorgetragen wirken. Das wurde in der Kritik am Roman auch gelegentlich hervorgehoben: Schablonenhaftes Denken (so Florian Kessler in der Frankfurter Rundschau vom 6.12.2006). Aber vielleicht versteht man Peters Roman ja komplett falsch, wenn man ihn jenen Versuchen zuordnen will, wie ein Enzensberger sie angestellt hat? Vielleicht ist Sawatzkys Rolle im Roman gar nicht, dem Leser die Beweggründe näher zu bringen, die einen haltlosen jungen Mann aus der westlichen Kultur – eine, wie er findet, sinnentleerte und vollends dem Konsum verfallene Un-Kultur; ein Argument, das an sich auch nicht mehr ganz taufrisch ist – in eine fremde Religion und darin zu äußerster Radikalität treibt, sondern vielmehr, einen Menschen wie Claus Cismar mit einer Unbedingtheit zu konfrontieren, die ihm fremd geworden ist, wenn er sie denn je gehabt haben sollte in seinen bewegten Studententagen.

Untersucht man die Figur des Jochen Sawatzky genauer, merkt man schnell, daß dies eine Stereotype ist. Werdegang, Hintergrund, seine vorgebrachten Proklamationen, Argumente und Anwürfe hinsichtlich der Dekadenz westlichen Lebens – all das hat man in etlichen Reportagen, Studien, Versuchen, Analysen und auch Romanen bereits erfahren. Sawatzky wird in seiner Radikalität nicht in Frage gestellt, was dem Roman ebenfalls viel Kritik eintrug. Peters erlaubt sich schlichtweg kein moralisches Urteil über dessen Tun, Handeln und die dahinterliegenden Motive. Sawatzky wird so zu einem Zeichen. Er ist ein Zeichen für radikale Abkehr und eben jene Unbedingtheit, die Fanatismus immer braucht, um gedeihen zu können. Als solches Zeichen ist er einfach, was er ist. Claus Cismar ist der eigentliche Protagonist dieses Romans, seine Entwicklung ist wesentlich und recht differenziert dargestellt. Obwohl man auch ihm und seinem dem Leser bekannten Werdegang durchaus stereotype oder gar klischeehafte Züge unterstellen kann.

Peters geht mit seinem Roman ein Wagnis ein, vor allem zu einer Zeit, in der die im Buch vordergründig behandelten Fragen noch sehr aktuell waren, die Diskussionen aufgeheizt, die Empörungsbereitschaft hinsichtlich des Themas in vielerlei Hinsicht groß. Anschläge quer durch Europa boten wenig Anlaß, sich ernsthaft mit der Psyche der Täter auseinanderzusetzen, zu geschockt war man von den Bomben, den zweckentfremdeten LKW und Bussen, von den Messer- und Machetenattacken auf Unbeteiligte in Spanien, Frankreich, Großbritannien und schließlich auch Deutschland. So nimmt Peters ein hoch aktuelles Thema und macht daraus die Selbstbefragung eines zunehmend Zweifelnden. Verpackt ist dies eben als Politthriller und es gelingt Peters – und dies hat er mit den weiter oben genannten Vorbildern gemein – eine Atmosphäre zu erzeugen und ein Setting zu erschaffen, die glaubwürdig sind, die der Leser ihm abnimmt. Dabei ist es zunächst gleich, ob sie der Realität diplomatischen Arbeitens oder jener eines Glaubenskriegers entspricht. Im Buch ist diese Realität kohärent und überzeugend. Und in ihr sind die Probleme der Figuren nachvollziehbar. Und genau das sollte Literatur leisten. Nicht mehr, nicht weniger.

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