FREIHEIT UND FINSTERNIS. WIE DIE „DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG“ ZUM JAHRHUNDERTBUCH WURDE
Eine manchmal launige Beschreibung der Entstehung eines der wirkmächtigsten Bücher der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts
Bücher über Bücher, bzw. über Lese- und Rezeptionsverhalten hinsichtlich einer bestimmten Literatur, haben seit einiger Zeit Konjunktur. Ulrich Raulff (WIEDERSEHEN MIT DEN SIEBZIGERN. DIE WILDEN JAHRE DES LESENS/2014), Philip Felsch (DER LANGE SOMMER DER THEORIE. GESCHICHTE EINER REVOLTE 1960-1990/2015), in jüngerer Zeit Helmut Böttiger (DIE JAHRE DER WAHREN EMPFINDUNG. DIE 70ER – EINE WILDE BLÜTEZEIT DER DEUTSCHEN LITERATUR/2021) sind da nur herausstechende Beispiele.
In einem erweiterten Sinne kann auch Martin Mittermeiers FREIHEIT UND FINSTERNIS. WIE DIE „DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG“ ZUM JAHRHUNDERTBUCH WURDE (2021) in diese Reihe gestellt werden. Anders als bei den Vorläufern, widmet sich der Autor hier allerdings nicht einer Gattung oder einer Ära der Literatur, weniger der Rezeption und der eigenen Lektüreerfahrung, sondern der Entstehung eines der prägendsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Seine Leseerfahrung fließt hier allerdings sehr kundig mit ein, sonst wäre es Mittelmeier nicht möglich gewesen, sich dem philosophischen Hauptwerk der Herren Horkheimer und Adorno und dessen Entstehung derart sachkundig und pointiert zuzuwenden.
Vielleicht gehört es zu einer ehrlichen Besprechung, direkt vorauszuschicken, daß – wie meist in all diesen Fällen – die Lektüre dieses durchaus stimmigen Buchs niemals die des eigentlichen Werks, des Gegenstands der Betrachtung, ersetzen kann, bestenfalls ergänzen. Denn natürlich kann man nicht auf deutlich unter 300 Seiten ein Werk verständig erläutern, welches in etwa dieselbe Seitenzahl braucht, um seine Thesen zu formulieren – zumal diese Thesen ausgesprochen komplex und dementsprechend kompliziert, manche sagen: unlesbar, sind. Mittelmeier hat sie gelesen, offenbar nicht nur verstanden, sondern durchdrungen und ist dementsprechend in der Lage, Kapitel für Kapitel Herleitungen zu bilden, in denen er manchmal theoretische Ansätze, die auf die Entwicklung des Werkes Einfluß genommen haben, manchmal aber auch persönliche Begegnungen, gelegentlich eher Klatsch entsprechende Zusammenhänge in Bezug zu einzelnen Abschnitten der DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG (die im Übrigen 1944 erstmals erschien) setzt.
Mittelmeier bietet natürlich die gängigen Hintergrundinformationen – Bedeutung des Instituts für Sozialforschung; die organisatorischen Schwierigkeiten, das Institut aus Nazi-Deutschland in die USA zu transferieren, die nicht unbedingt auf ein durch marxistische Theorie gründendes Forschungsprojekt in New York gewartet hatten; der Umzug an die Westküste, wo man mit Hilfe von Thomas Mann und anderen Emigranten Fuß fassen konnte – und erklärt auch die Spannungen, die es innerhalb der Gruppe gab, verweist auf die enge Zusammenarbeit gerade von Horkheimer und Adorno, wie die beiden aufeinander reagierten, weist nach, weshalb gerade sie so hervorragend zusammenarbeiteten und einander fast blind verstanden.
Es gelingt Mittelmeier auch, zumindest im Falle Adornos, in gewisser Weise ein Charakterportrait des Philosophen zu erstellen. Im Falle Horkheimers ist dies anders, er bleibt schwerer zu fassen, unnahbar, was vielleicht auch seinem Charakter entsprochen haben mag. Daß Horkheimer in gewisser Weise der eigentliche Spiritus Rector des Instituts, das dann unter der Bezeichnung „Frankfurter Schule“ zu Weltruhm gelangen sollte, gewesen ist, wusste, wer sich mit dessen Geschichte beschäftigt hat; daß Adorno in vielerlei Hinsicht der Kopf hinter der DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG war, wusste man ebenfalls. Mittelmeier kann hier aber auf manchmal schon komische Weise herleiten, daß Horkheimer eben auch den schlichten Verwaltungsaufgaben, allerbanalsten Alltagsverpflichtungen, gerecht werden musste. Solche Passagen zeugen von Komik und machen aus einem der mythischen Köpfe der Philosophie des 20. Jahrhunderts einen ganz normalen Menschen, der einem geregelten Job nachging und dementsprechend kaum Zeit fand, seiner eigentlichen Berufung in dem Maße nachzugehen, das es in seinen Augen wahrscheinlich gebraucht hätte.
Durch die Aufteilung in viele einzelne, vergleichsweise kurze Kapitel, vollzieht Mittelmeier die Entstehung des Werks in episodischer Form nach. Dabei hält er die Balance zwischen durchaus zum Schmunzeln einladenden Anekdoten, dem tiefgreifenden künstlerischen Anspruch, den vor allem der musisch wahrscheinlich hochbegabte Adorno hegte (wobei u.a. auch die Einflüsse nachgezeichnet werden, die z.B. der Kontakt zu Thomas Mann und seinem Ringen mit den tonalen Aspekten seines Großwerks DOKTOR FAUSTUS, 1947 erschienen, auf die Entwicklung der DIALEKTIK hatten) und letztlich dem wachsenden Entsetzen über die zunehmenden Nachrichten aus Europa, von den Kriegsschauplätzen und schließlich auch von den Lagern und dem monumentalen Tötungswerk, welches die Nazis in Gang gesetzt hatten. Auch wird immer wieder veranschaulicht, daß möglicherweise die unmittelbare Nähe zu Hollywood und der amerikanischen Unterhaltungsindustrie jene Kapitel der DIALEKTIK prägten, die sich ganz spezifisch damit auseinandersetzten, was diese Unterhaltungsindustrie, was Massenmedien generell bedeuteten, symbolisierten und für die Zukunft verhießen, in der sie die Hochkultur wahrscheinlich abgelöst, ersetzt haben würden. Prophetische Worte der Autoren.
Doch trotz all dieser Vorzüge bleibt bei der Lektüre des Buchs von Martin Mittelmeier ein gewisses, etwas schales Gefühl zurück. Seltsam unzusammenhängend wirkt das, manchmal auch thematisch willkürlich im Fokus einzelner Kapitel. So hat man nie den Eindruck, die Entstehungsgeschichte der DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG in kohärenter, aufeinander aufbauender Weise erklärt zu bekommen, andererseits lautet der Untertitel des Werks Philosophische Fragmente, man kann also auch behaupten, diese Herangehensweise entspricht exakt jener der Entstehung dieses „Jahrhundertbuchs“.
So oder so betrachtet, muß man konstatieren, daß hier eher das Umfeld und dessen Einfluß auf die Autoren beschrieben wird, als daß das Buch selbst Gegenstand der Analyse wäre. Was aber vielleicht auch nie gewollt war. Den Wert, den die Lektüre für am Werk selbst Interessierte wirklich hat, muß wahrscheinlich ein jeder für sich bemessen.