GENIE ODER MONSTER. VON DER SCHWIERIGKEIT, KÜNSTLER UND WERK ZU TRENNEN

Kann man Polanskis Filme noch genießen? Und Miles Davis unvoreingenommen hören? Und weshalb ist Nabokov eben nicht das Monster, das er literarisch erschuf?

Wie umgehen damit, dass man zwar REPULSION (1965), THE FEARLESS VAMPIRE KILLERS (1967), ROSEMARY´S BABY (1968), CHINATOWN (1974) oder DER PIANIST (2002) liebt und bewundert, zugleich aber weiß, dass der Regisseur dieser Meisterwerke – Roman Polanski – eine damals 14jährige missbraucht, womöglich vergewaltigt hat? Wie damit umgehen, dass Woody Allen uns zwar ANNIE HALL (1977) und einige weitere Filme für die Ewigkeit geschenkt hat, leider aber auch eine Liaison mit der Adoptivtochter seiner damaligen Frau Mia Farrow, Soon-Yi, einging? Und wie gehen wir damit um, dass wir eine Menge Kunstwerke verehren, bei deren Produzenten wir manchmal ahnen, oft aber wissen, dass sie sich im realen Leben wie die letzten Schweine gegenüber Frauen, oft auch Kindern, und sonstigen ihrer Mitmenschen benommen haben?

Genau diese Fragen stellt sich Claire Dederer in ihrem Langessay GENIE ODER MONSTER. VON DER SCHWIERIGKEIT, KÜNSTLER UND WERK ZU TRENNEN (MONSTERS, Original 2023, Dt. 2023). Besser: Dies sind die Ausgangsfragen, die sie schließlich zu einer langen, immer ausgesprochen interessanten, oft schmerzhaften, manchmal redundanten, aber nie langweiligen Selbstbefragung zu ihrer Rolle als Schriftstellerin, Journalistin, Kritikerin einerseits, als Frau und ganz besonders als Mutter andererseits verleiten. Ist es so einfach, Werk und Künstler zu trennen? Ist es so einfach, ein Monster zu erkennen und zu benennen?

Dederer kennt all die im Kern anti-hermeneutischen Theorien vor allem französischer Provenienz, die uns erklären, dass es den Autor in der Art und Weise, wie wir uns das vorstellen so oder so nicht gibt. Dass ein – vor allem literarisches – Werk mindestens zur Hälfte im Kopf des Rezipienten entsteht und der Text damit sowieso frei flottiert und jeder Leser ihn also neu erschafft. Alles Interpretation. Erdacht haben sich diese Theorien, an denen sicherlich einiges dran ist, allerdings meist Männer[1]. Vielleicht gelingt es Männern ja generell leichter, Werk und Autor zu trennen? Mag sein. Dennoch sollten gerade Männer Dederers Überlegungen lesen. Denn sie sind sehr, sehr aufschlussreich nicht nur was das Verhältnis von Kunst und Künstler betrifft, sondern auch das Verhältnis von Frauen zu Männern generell. Sicher, es mag eine Menge Männer geben, die das nicht näher interessiert, aber vielleicht sind das auch Männer, die sich für Kunst in dem Sinne, wie dieses Buch sie versteht, nicht sonderlich interessieren. Sei´s drum.

Dederer beginnt also bei Polanski und Allen, wobei ihre Präferenz ersterem gehört, auch wenn sie im Folgenden die wohl schönste Eloge flicht, die je auf ANNIE HALL geflochten wurde – und uns danach erklärt, weshalb MANHATTAN (1979) eben nicht funktioniert. Wichtiger in diesem Zusammenhang allerdings ist, wie Männer, Kritikerkollegen, ihr zu erklären versuchen, weshalb ihre Sicht auf MANHATTAN falsch sei. Was Dederer wiederum zu der Frage bringt, wie wir beurteilen, wenn wir beurteilen: Drücken wir unsere ehrliche Reaktion auf ein Kunstwerk aus? Oder drücken wir aus, was wir glauben in Anbetracht eines bestimmten Kunstwerks fühlen und meinen zu müssen? Und wann urteilen wir rein emotional, wann sachlich und nüchtern? Immer wieder sind es Fragen wie diese, die ihre Überlegungen so wesentlich aber auch gefährlich machen. Gefährlich in Hinblick auf das eigene Kunstverständnis und die Frage, wie wir – gleich ob Mann oder Frau – zu Kunst stehen, sie beurteilen, ja, wie wir sie überhaupt wahrnehmen.

In insgesamt dreizehn Kapiteln stellt sich Dederer also diesen und ähnlichen Fragen und kommt schließlich zu der – wahrscheinlich noch viel mehr für Frauen, für Mütter – schmerzhaften Frage jener Monster, die Mütter sind, bzw. sein können. Dabei sind Doris Lessing und Joni Mitchell ihre Referenzen. Zwei Frauen, die ihre Kinder verlassen (Lessing) oder aber zur Adoption freigegeben haben (Mitchell) und in beiden Fällen im Namen der Kunst, also des eigenen Schaffens. Mit anderen Worten (männlichen Worten): Rabenmütter, Mütter-Monster. Dederer erklärt uns den „Kinderwagen in der Diele“, den jede schreibende Mutter mitdenkt, wenn sie sich zurückzieht, um eben ihrer Profession, ihrer Passion, vielleicht Obsession, nachzugehen. Was natürlich auch für sie, Dederer, selbst gilt. Ebenso gilt für sie, was für Raymond Carver, den scheinbar jede*r amerikanische Autor*in, der/die im Nordwesten der Staaten lebt, liebt, galt: Sie ist eine Trinkerin, was sie natürlich zu einer ganz besonderen Art von (Mutter)Monster macht. Doch gerade anhand von Carvers Geschichte kann sie eben auch erklären, wie Literatur – gerade Literatur – uns helfen kann, uns selbst zu erkennen und mit unseren Dämonen zurecht zu kommen, wenn wir sie schon nicht endgültig besiegen können. Und dazu gehört gerade in diesem Fall – Carvers Fall – auch dezidiert die Beschäftigung mit dem Autor, dessen Schreiben sich Dederers Meinung zufolge verändert habe, nachdem er das Trinken aufgab.

Das wunderbare an Dederers Buch ist, dass es aber auch abseits der von ihm vordergründig behandelten Fragen hervorragend funktioniert. Es ist eben auch eine Wiederbegegnung mit vielen Künstlern und Werken, die auch im eigenen Leben einmal eine Rolle gespielt haben oder immer noch spielen. Es enthält eine Menge Informationen, die gewichtig sind und uns in unserem Verständnis des jeweiligen Werks und seines Autors helfen und dieses Verständnis erweitern, manchmal verändern. Es hilft uns, einiges besser zu verstehen, das uns bisher vielleicht eher verschlossen war. Es öffnet Horizonte und Räume, wie es eben sonst Literatur und Kunst, Film und Musik tun. Und es stellt Querbezüge und Querverweise her, die einige Kunstwerke in einem anderen, manchmal ganz neuen Licht erscheinen lassen.

So ist GENIE ODER MONSTER ein Essay, der weit über seine eigentliche Zielsetzung, weit über seine Fragestellung hinausweist. Und damit vor allem auch eines schafft: Dass man sich viele der hier besprochenen Werke, gleich ob Film, Literatur oder Musik, endlich mal wieder zu Gemüte führt. Selbst – wie im Falle von Nabokovs Jahrhundert-Roman LOLITA – jene, die erneut zu lesen man sich niemals getraut hätte. Claire Dederer ist da selbst ein kleiner Geniestreich gelungen. Ein Streich, der viele Leser verdient.

 

[1] Paradoxerweise ist es so, dass in etwa zu jener Zeit, als diese Theorien nicht nur in akademischen, sondern auch in weiter gezogenen intellektuell interessierten Kreisen Anklang fanden – wir sprechen von den späten 60er und den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts – Filmemacher für sich die sogenannte Auteur-Theorie in Anspruch nahmen. Sie wollten nicht mehr einfache Handwerker sein, wie Hollywood den Beruf nach wie vor betrachtete, sondern als Künstler anerkannt werden. Auch diese Theorie entstand zunächst in Europa, im Italien des Neo-Realismus und im Umkreis der Pariser Filmzeitschrift Cahiers Du Cinéma, bevor sie nach Amerika schwappte und dort von den Regisseuren des ‚New Hollywood Cinema‘ aufgegriffen wurden – zu denen man Woody Allen ebenso zählen muss, wie Polanski zumindest mit CHINATOWN einen wesentlichen Beitrag lieferte.

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