GOING ZERO

Anthony McCarten warnt vor dem digitalen Overkill - und berichtet dabei letztlich nichts Neues

DAS MILLIONENSPIEL (1970), RUNNING MAN (Roman erschienen 1982; Film veröffentlicht 1987), am Beginn all dieser Aufzählungen THE MOST DANGEROUS GAME (1924) – es sind Werke wie diese, die dem Leser in den Sinn kommen, noch bevor er die erste Seite von Anthony McCartens letztem Roman GOING ZERO (2023; Dt. 2023) gelesen hat. Ein Mensch wird gehetzt – für Geld. Oder, nimmt man Richard Connells Kurzgeschichte von 1924, in der die Betroffenen nicht freiwillig am „Spiel“ teilnehmen, ums nackte Überleben. In den späteren Werken – dem von Wolfgang Menge geschriebenen und von Tom Toelle inszenierten MILLIONENSPIEL lag ebenfalls eine Kurzgeschichte, Robert Sheckleys THE PRIZE OF PERIL von 1958 zugrunde – sind es immer Menschenjagden, bei denen die Kandidaten hohe Gewinne erwarten, wenn es ihnen gelingt, einem Killerkommando o.ä. für eine gewisse Zeit zu entkommen. McCarten nimmt die Grundordnung und übersetzt sie in ein hypermodernes Szenario.

Hier sind es zehn Kandidaten, die vier Wochen lang den Häschern eines IT-Konzerns entkommen müssen, um drei Millionen Dollar zu gewinnen. Doch ist dies kein Medienspektakel, wie bspw. in Stephen Kings/Richard Bachmans THE RUNNING MAN, sondern vielmehr ein großangelegter, sogenannter Beta-Test, bei dem ein neuartiges Überwachungssystem getestet werden soll, welches von Cy Baxter, einem irgendwo zwischen Elon Musk und Bill Gates angelegten Mastermind, erdacht wurde. Er und seine Geliebte Erika, die vor allem für die Vermarktung von Baxters Multi-Unternehmen zuständig ist, haben eine Kooperation mit der CIA eingefädelt, der sie das System verkaufen und mit dem Test beweisen wollen, wozu es fähig ist. Fusion haben sie ihr Projekt genannt. Es wurden zehn als Zero bezeichnete Kandidaten ausgewählt, die die Chance erhalten, das System zu überlisten. Eine davon ist Kaytlin Day, eine junge Frau aus Boston, die als Bibliothekarin arbeitet und Detektiv-Romane liebt. Das ist scheinbar ihr ganzes Rüstzeug, um gegen das von Fusion initiierte Programm anzutreten, weshalb sie in der Zentrale, wo Baxter wie der Kapitän eines Raumschiffs auf seiner Brücke über unzählige Mitarbeiter gebietet, als eine der früh zu stellenden Teilnehmer gilt. Umso verwirrender, dass es ausgerechnet ihr immer wieder gelingt, ihren Häschern zu entkommen und schließlich gänzlich von deren Radaren zu verschwinden. Doch je länger sie sich dem Zugriff entzieht, je wütender Cy Baxter darauf reagiert und je hitziger die Versuche werden, sie zu ergreifen, desto deutlicher wird, dass man es bei Kaytlin Day nicht einfach mit der zu tun hat, die sie zu sein vorgibt, sondern dass hinter ihrer Bewerbung und ihrer Flucht sehr viel mehr steckt, als angenommen.

Einem Konstrukt wie diesem folgend, kann McCarten natürlich auch dem Leser nur bruchstückhaft mitteilen, mit wem oder was wir es bei Kaytlin Day zu tun haben, da hier ein gutes Stück der Spannung liegt, die den Roman ausmacht. Dass sie nicht die ist, die sie zu sein scheint, kommt dem Leser nicht schnell, doch bald in den Sinn, wie tief sie durch familiäre Bande selbst mit den geheimen Diensten ihres Landes verbunden ist, lässt ihre Motivation schließlich fragwürdig erscheinen. Denn einmal mehr steht nicht das System an sich in Frage, sondern lediglich seine teils fragwürdigen Methoden werden angegriffen. Um diesen Vorwurf abzuschwächen, baut McCarten sich einen CIA-Agenten in die Handlung, der seinerseits wie eine Art U-Boot im Geheimdienst funktioniert und tatsächlich ein hehrer Freiheitskämpfer ist, der die Öffentlichkeit aufklären will, zu welchen Missetaten Fusion fähig ist. Eine Art Julian Assange im Gewande eines CIA-Analysten. Und natürlich muss sich schlussendlich auch Kaytlin Day höheren Zielen verpflichten und ihre Erkenntnisse preisgeben, damit der ganze Roman nicht zu einer schnöden und banalen Rachegeschichte à la JASON BOURNE verkümmert.

Man wird hinsichtlich des ganzen IT-Schnickschnacks des Romans an Dave Eggers THE CIRCLE (2013) erinnert, jenen Roman, der uns vor einigen Jahren ebenso spannungsgeladen wie sarkastisch, wenn nicht gar zynisch, vor den Gefahren der zunehmenden Total-Digitalisierung gewarnt hatte. Hier, bei McCarten, sind die Protagonisten bereits einen Schritt weiter – man verbirgt seine Absichten nicht hinter Heile-Welt-Versprechungen, sondern – die Allianz mit der CIA deutet ja bereits deutlich darauf hin – gibt offen zu, dass man Freiheitsrechte zugunsten von Sicherheit beschränken will. Privatheit, so Cy Baxter in einer der langen und wirklich gut geschriebenen Dialog-Passagen des Romans, ist auch beim Verbraucher gar nicht mehr erwünscht. Und in Anbetracht der Art und Weise, wie Menschen mittlerweile ihre Social-Media-Accounts auf etlichen Geräten bedienen, kommt dem Leser durchaus in den Sinn, dass der Mann damit recht haben könnte. So verhandelt McCarten ein durchaus aktuelles Thema – neben der Frage der Totalüberwachung im Zeitalter der Digitalisierung nämlich jenes Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit, welches in westlichen Gesellschaften spätestens seit dem 11. September 2001 immer wieder neu abgesteckt und beackert wird.

Anthony McCarten schlägt sich auf die Seite derjenigen, die ein Cy Baxter – und ganz sicher auch ein Elon Musk und manch anderer Internetmogul, Bill Gates sicher noch am wenigsten – wahrscheinlich als Romantiker bezeichnen würde. Also auf die Seite derer, die am liebsten den Stecker zögen. Die Maschinen abstellten, zurück zur Natur und natürlichen Bekanntschaften gingen, auf die Seite der Hippies, der Freaks, der Aussteiger und Rebellen, derer es in diesem Roman denn auch einige gibt. Gemeint sind natürlich die klassischen Rebellen, nicht jene, für die sich ein Steve Jobs oder eben Elon Musk halten, die das Prinzip wahrscheinlich rein theoretisch verstanden, allerdings nie im Herzen gespürt haben. Verwunderlich allerdings, dass der Autor die CIA dabei noch vergleichsweise gut wegkommen lässt. Die hier auftretenden CIA-Mitarbeiter sind durchweg skeptisch gegenüber Fusion und wirken zum Teil wie die Hüter der amerikanischen Verfassung, auch, wenn sie davon träumen, als Auslandsgeheimdienst Zugriff auf die Daten des gemeinen Alltagsamerikaners zu erhalten. Allen voran ist natürlich jener verkappte Freiheitskämpfer zu nennen, der bald zwanzig Jahre im System des Geheimdienstes funktioniert und nun heimlich Kaytlin Day zuarbeitet, was man natürlich für etwas übertrieben halten kann. Wie so manches in diesem Roman.

Denn was sich nach und nach als Rachegeschichte entpuppt, weist doch manche Unwahrscheinlichkeit auf. Zum einen sind nahezu alle hier, wie bereits erwähnt, irgendwie mit den Diensten verbunden. Dann tauchen immer im richtigen Moment irgendwelche Helferlein auf, die angeblich schon die ganze Zeit im Hintergrund für unsere Heldin arbeiteten. Und zu guter Letzt – oder auch als allererster Anhaltspunkt – staunt nicht nur Cy Baxter über Kaytlin Days Fähigkeiten, sich unsichtbar zu machen, sondern auch der Leser. Diese Frau, angeblich Bibliothekarin und damit vor allem Besitzerin höchst theoretischen Wissens, versteckt sich in der freien Wildbahn, hat etliche Schritte ihrer Gegner lange vorausberechnet und dementsprechend jede Menge Vorbereitungen getroffen, die ihr nun helfen, ihren Verfolgern Mal ums Mal eine lange Nase zu drehen. Da versteht es sich fast von selbst, dass das Ganze nach den Prinzipien von Verfolgungsthrillern wie ENEMY OF THE STATE (1998) aufgebaut ist und auch wie diese funktioniert. Spannungsmomente und Action wechseln sich ab, unterbrochen von ruhigen Momenten, in denen die Heldin oder ihre Antagonisten zu sich kommen und räsonieren können, was vor sich geht und wie man nun weitermacht.

Das ist rein literarisch gut komponiert, entspricht der Erwartungshaltung an Spannungsliteratur, bemüht sich dennoch um einen gewissen Tiefgang, darum, seinem Sujet gerecht zu werden und den Leser mit genügend Stoff zu versorgen, um sich ein Bild von der drohenden Gefahr zu machen, die da auf uns alle zukommt, wenn wir die Musks, Bezos und wie sie alle heißen, einfach weiter machen lassen. Und doch bleibt am Ende irgendwie ein schaler Geschmack. Vielleicht liegt es daran, dass man die Story – womit wir wieder am Anfang wären – in ihrem reinen Handlungsgehalt eben schon viel zu oft gesehen und gelesen hat. Und auf der reinen Handlungsebene weiß McCarten dem dann eben auch nicht allzu viel Originelles hinzuzufügen. Nahezu alle Figuren hier verhalten sich erwartungsgemäß und damit rücken sie zumindest gefährlich in die Nähe des Klischees. Und am Ende, eine Drehung, die man fast schon ärgerlich finden kann, obsiegt das „Gute“, oder was man dafür hält. Denn auf wirkliche Ambivalenz. Auf echte Ambiguität, die den Leser möglicherweise in moralische Konflikte mit sich selbst brächte – immerhin sind wir alle diejenigen, die den Technik-Impresarios ihre unendliche Macht ebenso ermöglichen, wie ihren unendlichen Reichtum – lässt Anthony McCarten es nicht ankommen und damit geht seinem Roman etwas ganz Entscheidendes ab. Leider.

 

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