HEX
Thomas Olde Heuvelt leistet einen beachtlichen Beitrag zum Genre des Übernatürlichen, Beängstigenden und Grausigen
Sie möchten einen intelligenten, originellen, unterhaltsamen und spannenden Genreroman lesen? Wenn möglich aus dem Bereich des Schrecklichen, des Abseitigen, Grausigen, kurz: dem Horror-Metier? Dann ist – ohne Einschränkung –Thomas Olde Heuvelts Roman HEX (2017; Original erschienen 2013) zu empfehlen. Ein Werk, daß seinen Gegenstand ernst nimmt, ein Werk, das begriffen hat, daß es einen Subtext braucht, um relevant zu sein, ein Werk, das sich an die Konventionen des Genres hält und diese zugleich ausweitet, wenn nicht gar sprengt.
Der Titel bedeutet dem geneigten Leser ja unmittelbar, worum es geht. Nach all den Zombies, Werwölfen und Vampiren, die in den vergangenen 15 bis 20 Jahren die Regale der Büchereien und die Serienkanäle bevölkert haben, wird nun eine ganz andere Figur aus dem Mythen-Topf des Übernatürlichen bemüht, die Hexe. Doch Heuvelt versteht es, diese Figur so ganz anders zu inszenieren und dem Leser schließlich glaubhaft zu vermitteln, als man es gewohnt ist.
Dazu bedient er sich einiger Vorbilder – und wie sollte man im Bereich des Horrors auch ohne diese auskommen? – , derer er sich nicht schämt. Von eher abseitigen Werken der cineastischen Branche, wie THE CABIN IN THE WOODS (2013), von dem er sich die Grundprämisse seines Romans entliehen hat, über Stephen Kings PET SEMATARY (Original erschienen 1983) und darüber direkt zu W.W. Jacobs THE MONKEY`S PAW (Erstveröffentlichung 1902) bis in die Gefilde der Märchen und Legenden der alten Tage reichen die Referenzen. Heuvelt nutzt sie gekonnt, er beherrscht sein Material souverän und fügt ihm etwas sehr Eigenes hinzu.
In dem kleinen Dorf Black Spring, das Upstate New York am Hudson River liegt, steht die Bevölkerung seit nahezu 350 Jahren unter dem Bann – manche sagen: dem Fluch – einer Hexe. Katherine van Wyler wurde einst gefoltert und dazu gezwungen, eines ihrer Kinder zugunsten des anderen zu töten, da man auf diese perfide Weise glaubte, ihre Hexenkünste vorführen zu können. Man nähte der Frau Augen und Mund zu und schlug sie in Ketten. In dieser Gestalt zieht sie nun seit Generationen ihren Weg durch die Stadt. Mal taucht sie hier auf, mal dort, steht tagelang im Wohnzimmer oder der Küche, manchmal auch im Schlafzimmer verschiedener Bewohner des Dorfes herum, sie geht über die Straße und erscheint zu allen möglichen passenden wie unpassenden Gelegenheiten auf Plätzen, bei Paraden oder Veranstaltungen. Einst wurde extra eine Behörde ins Leben gerufen, genannt HEX, die sich um die alte Frau kümmert und dafür sorgt, daß Außenstehende sie nicht entdecken oder begreifen, was oder wer sie ist. Die Oberaufsicht über das Verhalten sowohl der Hexe als auch der Dorfbevölkerung liegt bei der nahe gelegenen Akademie West Point. Für die Bevölkerung von Black Spring aber hat die Anwesenheit der Hexe einschneidende Nachteile: Wer hier geboren wurde oder, trotz aller Bemühungen von HEX, dies zu verhindern, nach Black Spring gezogen ist, darf die Kleinstadt nicht mehr verlassen. Denn wer dies versucht, wird recht schnell von einer solchen existenziellen Trübsal eingeholt, daß er oder sie sich unweigerlich das Leben nimmt.
Eine solche Vorgabe ist natürlich für die jungen Menschen einer Ansiedlung von größter Bedeutung. Aufzuwachsen in dem Bewußtsein, die Stadtgrenzen niemals länger als für ein paar Stunden verlassen zu dürfen, niemals über den engen Horizont eines Provinzkaffs hinauszugelangen, niemals mit der Außenwelt die Kenntnis über die Vorgänge in der Stadt teilen zu dürfen, ist schon eine maximal bedrückende Lebensperspektive. Und nicht alle können damit umgehen. So sind es die Vorgänge um Taylor Grant und seine Freunde, die die Ereignisse in Gang setzen, die der Roman beschreibt und die in eine unausweichliche Katastrophe münden.
Heuvelt schreibt durchaus witzig, womit er eine der Grundanforderungen eines Werkes des Schauerlichen erfüllt: Schrecken und (hysterisches) Lachen liegen meist sehr nah beieinander. Diese Katherine van Wyler, diese Hexe, von der niemand weiß, ob sie nun unsterblich oder doch ein Geist ist, beherrscht den Roman wie ein rosa Elefant. Sie ist immer da und doch ausnahmslos – bis auf die allerletzten Seiten des Romans – abwesend. Seit ihr im Jahr 1967 ein paar Wissenschaftler die Fäden am Mund zu ziehen versuchten, was ebenfalls eine Tragödie zeitigte, bei der eine ganze Reihe der Älteren im Dorf umkamen, flüstert sie zwar ununterbrochen vor sich hin, doch verstehen kann sie niemand. Definitiv, das wissen die Angestellten von HEX aber, ist sie mächtiger geworden. So steht sie da als ein reines Zeichen. Sie ist die Repräsentanz, das Symbol einer nicht näher definierten Macht, die weder die Dorfbewohner, noch der Leser je begreifen. Die Dorfbewohner haben gelernt, sie zu fürchten, aber auch als Teil ihres Alltags zu akzeptieren. So nutzen sie sie als Wäscheständer und Accessoire, geben sie als Halloweenscherz aus, wenn allzu viele Besucher in der Stadt sind und HEX in Gestalt seines Leiters Richard Grim versteht es immer wieder, schnell und sachkundig zu reagieren, bevor Entdeckung droht. Gerade dieser auf den ersten Einhundert Seiten geschilderte Alltag ist überaus humorvoll beschrieben.
Und doch ist da immer auch eine unterschwellige Bedrohlichkeit, ist es gerade die seltsame vermeintliche Apathie dieses Wesens, ihre Teilnahmslosigkeit, das scheinbare Desinteresse an den Vorgängen um sie herum und ihr dennoch immer wieder auch Schrecken hervorrufendes Auftauchen, das beim Leser ein mulmiges Gefühl hervorruft. Heuvelt gibt sich viel Mühe bei der Schilderung einzelner Figuren des Dorfes und wie diese mit der Hexe umgehen. Die einen fraternisieren, andere quälen sie wenn möglich, alle aber akzeptieren ihre Macht. Der Ratsvorsitzende Colton Mathers – nicht nur namentlich ein später Verwandter jenes Mannes, der einst bei den Hexenprozessen von Salem federführend beteiligt gewesen ist – herrscht mit vorgestrigen, grausamen Ansichten hinsichtlich des Wesens und der Macht der Hexe über die Stadt. Jugendliche, die gegen die Regeln verstoßen, werden öffentlich ausgepeitscht, in einem Verlies unter der Kirche wird ein Mann ohne Aussicht auf Freilassung gefangen gehalten, der wiederholt gegen die Gebote in der Stadt verstoßen hat, außerhalb des Dorfes gibt es eine Lehranstalt, in der Jugendliche, die nicht hören wollen, auf den rechten Pfad geführt werden. All diese Charaktere, vor allem die Familie Grant, die im Zentrum der Ereignisse steht, sind liebevoll ausgemalt und sehr genau geschildert.
Teil des Schreckens, den Heuvelt erzeugen kann, beruht auf Auslassungen. So wird uns diese Strafanstalt für jugendliche Delinquenten nie näher beschrieben, sie wird lediglich immer wieder erwähnt und anhand eines Exempels, das statuiert wurde, sehen wir, wie gebrochen diejenigen sind, die auch nur drei Wochen dort verbracht haben. Ebenso enthält sich der Autor jeglicher Erklärung, was es mit der Macht, die die Hexe ausstrahlt, wirklich auf sich hat. Teil des Schreckens dieses Romans ist es aber eben auch, daß – anders als bspw. bei Stephen King, wo das Unnatürliche immer in eine detailreich geschilderte Alltagswelt einbricht – das Grauenerregende hier von allem Anfang an da war. Vielleicht länger als die Stadt selbst, vielleicht länger, als hier überhaupt je menschliche Wesen gesiedelt haben. Vielleicht war schon die ursprüngliche Katherine van Wyler Opfer einer Macht, die weder sie noch ein anderes menschliches Wesen versteht oder je verstanden hat. Und ebenso ist es Teil des Schreckens, daß diese Menschen ihr Schicksal unter einem autoritären Regime mit drakonischen Regeln und ebenso drakonischen Maßnahmen, diese durchzusetzen, längst akzeptiert zu haben scheinen. In diesem Punkt wird HEX schnell zu einer Parabel auf totalitäre Gesellschaften und die Methoden, mit denen sie kontrolliert werden. Meist lautet dieses Rezept ‚Angst‘.
Angst ist es, die sich in den Handlungen all derer, denen der Roman genauer folgt, spiegelt. Wenn die eine versucht, Freundschaft mit dem fremdartigen Wesen zu schließen oder der Hexe gar Opfergaben darzubringen, dann ist dies genauso ein Ausdruck von Angst, wie die Bereitschaft der Stadtoberen, des Rats, Fünfzehnjährige öffentlich auspeitschen zu lassen. Wobei diese Maßnahmen einerseits der Angst der Ratsmitglieder Ausdruck verleihen, zugleich aber selbst bereits wieder eine Methode der Angsterzeugung sind, um die Angst der Bevölkerung zu schüren und diese damit unter Kontrolle zu halten. Wenn die Hexe dann schließlich aus ihrem Dasein als reines Symbol heraustritt und ein Subjekt wird, entfesseln die Dorfbewohner – wiederum basierend auf Angst – ein Inferno unfassbaren Ausmaßes.
Heuvelt stellt sich und uns geschickt die Frage, wer hier eigentlich wen benutzt? Und deutet dennoch an, daß es da wirklich eine unnatürliche, übernatürliche, außerweltliche Macht gibt, derer sich die Bewohner nicht zu entziehen vermögen. Doch wird in HEX sehr deutlich, wie wir immer Opfer unserer Ängste und übersteigerten Vorstellungen sind, wie die menschliche Psyche selbst die größten Monstren gebiert, schrecklicher als alle mythischen Wesen, die wir uns je ausgedacht haben. Und es wird deutlich, wie die Provinz ihre ganz eigenen Ungeheuer geniert in Form von sozialer Kontrolle, Gerüchten und Tratsch, wie Menschen des Menschen Wolf werden, wenn man sie nur weit genug in die Enge getrieben und indoktriniert hat. Die Macht, die Mather und der Rat über diese Gemeinschaft haben, ist auch die Macht, die sich nur in der Provinz, in kleinen, geschlossenen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens manifestieren kann. So entsteht der eigentliche Schrecken dieses Romans aus der Erkenntnis, wie verführbar und vor allem wie leichtgläubig der Mensch ist. So leichtgläubig, daß er nicht einmal dann sieht, was sich wirklich zuträgt, wenn es sich vor seinen Augen abspielt. Augen, die nicht allzu lange werden sehen können.
HEX wurde ursprünglich 2013 in den Niederlanden veröffentlicht. In einem ausführlichen und sehr lesenswerten Nachwort erklärt Heuvelt, wie es dazu kam, daß er den Roman noch einmal komplett neu geschrieben hat. Für die internationalen Rechte wurde die Handlung nicht nur in das Neuengland von heute verlegt, sondern auch das Ende des Romans entspricht nicht mehr dem Original. Die deutsche Fassung ihrerseits folgt der amerikanischen Ausgabe. Das macht sie um einiges düsterer und bedrückender. Thomas Olde Heuvelt ist sicher einer der besten Romane im Bereich des Horrors der letzten Jahrzehnte geglückt. Ein Roman, der das Genre beleben wird und ihm neue Wege weist.