DAS KIND/L`ENFANT

Ein Sozialdrama der düsteren Art der B,rRüder Dardenne

L’ENFANT (2005) erzählt ,davon, wie der junge Bruno (Jérémie Reneir) seinen neu geborenen Sohn Jimmy einige Tage, nachdem seine Freundin Sonia (Déborah Franςois) aus dem Krankenhaus zurück ist, verkauft. Als Sonia erfährt, was ihr Lebensgefährte getan hat, bricht sie zusammen. Bruno, der Kopf einer Bande von Minderjährigen ist, nutzt seine Beziehungen, um das Kind zurück zu bekommen. Doch die Kinderhändler rechnen ihm ihren Verlust vor und wollen von ihm die ausstehende Summe haben. Als er bei einer seiner Unternehmungen, Geld zu beschaffen, einen jüngeren Kumpel gefährdet, trifft er eine grundsätzliche Entscheidung und stellt sich. Sonia kommt Bruno im Gefängnis besuchen.

Gibt es ihn noch, den sozial bewußten, gar sozialkritischen europäischen Film? Filme, wie sie einst Vittorio De Sica (LADRI DI BICICLETTE; 1948), Francesco Rosi (LE MANI SULLA CITTÀ; 1963), Tony Richardson (THE LONELINESS OF THE LONG DISTANCE RUNNER; 1962), Bernhard Sinkel (LINA BRAAKE ODER DIE INTERESSEN DER BANK KÖNNEN NICHT DIE INTERESSEN SEIN, DIE LINA BRAAKE HAT; 1974) oder in jüngerer Zeit Ken Loach (LADYBIRD, LADYBIRD; 1994) oder Mike Leigh (NAKED; 1993) gedreht haben? Kaum mehr, wollte man meinen. Und doch: In Belgien produzieren die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne unverdrossen ihre Berichte aus dem beschädigten Leben.

Wie alle ihre Filme in dem Industriestädtchen Seraing mit relativ einfachen Mitteln (hier: ausschließlich Handkamera auf 16mm) gedreht und abgesehen von den Hauptrollen nur mit Laiendarstellern besetzt, besticht L’ENFANT (2005) mit der Genauigkeit, mit der diese „kleine“, so alltägliche Geschichte erzählt wird. Unter Verzicht jedweder Filmmusik, damit auch jeder Emotionalisierung, mit der Kamera immer nah, manchmal unangenehm nah am Geschehen (ohne daß dies in die zu befürchtenden Handkamerawackelorgien ausartet, die das Publikum in den letzten 20 Jahren zur Genüge präsentiert bekam), zeigt der Film das Geschehen undramatisch, vollkommen frei von Pathos oder Sentiment und damit äußerst realistisch. Doch bei aller Distanz, die der Film einnimmt, deskriptiv, wie er wirkt, rückt diese Geschichte und was sie zum Ausdruck bringt an mangelnder Empathie, Verantwortungslosigkeit und Kälte dem Zuschauer immer näher, setzt sich fest, ergreift und fordert, Partei zu ergreifen. Was der Film selbst nicht ein einziges Mal tut.

Mit einem unglaublichen Gespür für Gassen, für jene gesichtslosen Ausfallstraßen, die alle Großstädte kennen, für die Hinterhöfe, die schäbigen Mauern, die den Putz verlieren, für das durch den Asphalt brechende Unkraut an Tankstellenauffahrten, für den Rost an Leitplanken, stählernen Einfahrtstoren und alten Fahrrädern und für die Beiläufigkeit die dies alles hat in einem künstlerischen Kontext, schaffen die Dardenne-Brüder einen klaren Rahmen, einen exakten, weil exakt beobachteten Rahmen, einen genauen Ausschnitt einer spezifischen europäischen Wirklichkeit für die zu erzählende Geschichte.

So lernen wir die Bedingungen kennen und ein wenig verstehen, unter denen sich das vollkommen alltägliche Leben eines Taugenichts und Kleinganoven in einer durchschnittlichen mitteleuropäischen Großstadt abspielt. Doch wird Bruno nie zum Opfer stilisiert. Dies ist keine Sozialromantik des armen, an seiner Umwelt gescheiterten, aber im Herzen eigentlich guten Kerls – Bruno will es nicht anderes in seiner pubertär anmutenden Selbstwahrnehmung: Arbeiten sei für [Kraftausdruck], er brächte sie schon durch – sich, Sonia und das Baby. Dabei ist ihm alles recht und nichts heilig: Überfälle, Wohnungseinbrüche, Kleinhehlereien oder eben ein verkauftes Kind – was Geld bringt, wird gemacht, früher oder später. So verleugnet Bruno vor Sonia auch gar nicht, was geschehen ist, er hat das Kind verkauft, er hat das Geld, „machen wir ein neues“, bietet er ihr an und ist lange voller Unverständnis für die Reaktion seiner Freundin.

Hier wird nicht die Gesellschaft verantwortlich gemacht, hier wird ein menschliches Wesen gezeigt, das, möglicherweise entwicklungsgehemmt, doch auch darüber verbietet sich der Film zu spekulieren, nicht versteht, was es da anrichtet mit seinem Zugriff. Die Dardennes urteilen nicht, sie beschönigen dabei aber auch nicht. Bruno ist ein fast krankhafter Egozentriker, der für die Bedürfnisse anderer wenig bis kein Mitgefühl aufbringt, im Gegenteil bügelt er die Bedürfnisse andere eher ab und stellt die eigenen grundsätzlich in den Vordergrund. Ebenso konterkariert wie verstärkt wird dieses Verhalten durch die Art des Umgangs des Pärchens untereinander, solange alles in Ordnung scheint. Nur ein einziges Mal sehen wir echte erwachsene Leidenschaft zwischen Bruno und Sonia, wobei die Kamera auch da keinen Kuss zeigt, nur freudetrunkene Umarmungen und den verbal geäußerten Wunsch, miteinander schlafen zu wollen. Ansonsten werden uns die beiden in der Interaktion dabei gezeigt, wie sie sich necken, wobei die Neckerei durchaus in Balgerei ausarten kann. Zuneigung ausgedrückt durch „gespielte Aggression“ – so verhalten sich frühreife Teenager vor ihrer ersten Liebe. Die Tatsache, daß diese beiden ein Kind gemeinsam haben – wobei Bruno nicht müde wird, bei Bedarf zu behaupten, es sei nicht sein Kind, Sonia habe es ihm lediglich untergeschoben – steht für sich und läßt den Beobachter schaudern. Eine 18jährige und ein 20jähriger, die beide offensichtlich noch nicht über die emotionale und auch geistige Reife verfügen, den Wert dessen, was sie da in Händen halten, zu begreifen. Wir beobachten sie, wie sie das neugeborene Kind, kaum dessen Kopf haltend, an den Kanälen und am Fluß entlang in Verstecke schleppen, im Auto liegen lassen, wenn sie sich miteinander beschäftigen etc. Allerdings – und auch diese Entwicklung stellen die Regisseure dar, ohne sie zu beurteilend – machen beide eine Reifung durch, werden erwachsen(er). Sonias Reaktion, nachdem sie erfahren hat, was Bruno getan und wie er sich später verhalten hat, ist eine gesunde; Brunos Reifungsprozeß braucht erst die weitere Fast-Katastrophe eines ertrunkenen Freundes, um sich voll zu entfalten.

Wenn der Film den Betrachter in den letzten Augenblicken ebenso still wie betreten zuschauen läßt, wie beide, Bruno wie Sonia, im Besuchszimmer des Gefängnisses in haltlose Tränen ausbrechen, ist auch dies ohne jede Art von Sentiment, eine nüchterne Einstellung und dennoch birgt dies Bild eine Funken Hoffnung. Denn im Moment, da wir erkennen, wie ausweglos die Lage ist, in die wir uns gebracht haben, besteht eben auch die Möglichkeit des Erkennens und darüber hinaus die, sich zu bessern, zu lernen und es zukünftig anders zu machen. Ohne je didaktisch zu werden, geben uns die Brüder Dardenne in diesem Film genau diese Möglichkeit und Hoffnung mit auf den Weg. Das macht den Film erträglicher, aber es macht den Film auch realistischer. Dies ist kein Drama, erst recht kein Melo, es ist einfach nur eine Alltagsgeschichte, und meistens geht es im Alltag eben einfach weiter, nachdem wir die Tränen getrocknet haben.

Die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne bieten dieses sozial bewußte und in seiner Un-Dramatik auch kritische Kino, das den europäischen Film einst auch ausgezeichnet hat. Wir sollten dankbar sein, daß es irgendwer noch ernst meint mit der „äußeren Errettung der Wirklichkeit“.

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