LINCOLN IM BARDO/LINCOLN IN THE BARDO
George Saunders lässt die Toten um einen Giganten der Geschichte tanzen
Wer je in Washington D.C. vor dem Lincoln Memorial an der National Mall stand und zu dieser fast sechs Meter hoch aufragenden, in Marmor gehauenen Gestalt aufgeblickt hat, wird gespürt haben, wie sich diese überlebensgroße Figur allem menschlichen Sein entfernt hat, um im Mythos aufzugehen. Selbst die populärkulturellen Versuche, den Menschen Abraham Lincoln zu zeigen – man denke an Filme wie John Fords YOUNG MR. LINCOLN (1939) oder Steven Spielbergs LINCOLN (2012) – trugen letztlich weiter zu dieser Mythisierung bei. Der Mann, der sozusagen im Alleingang den Zusammenhalt der Union sicherte, koste es was es wolle, bleibt allem Irdischen enthoben, er wird als politischer Herkules betrachtet, als eine Art Übermensch, der Übermenschliches leistete und schließlich mit seinem Leben dafür bezahlen musste, einen nahezu religiös zu betrachtenden Bruderkrieg um die Frage nach der Sklaverei ausgefochten zu haben. Daß die Aufhebung der Sklaverei letztlich ein strategisches Mittel war, daß Lincoln realpolitisch der Erhalt der Union das Wesentliche war, den er „mit oder ohne Sklaverei“ zu gewährleisten gedachte, wird in den Populärbetrachtungen des 16. Präsidenten des Vereinigten Staaten von Amerika allzu gern übersehen. Ebenfalls wird gern vergessen, daß Lincoln unter seinen Zeitgenossen keinesfalls den Status genoß, den ihm die Geschichte dann zuschrieb. Im Gegenteil – den gehobenen Kreisen galt er als ungehobelt, den Intellektuellen als bauernschlau, den Unionssoldaten als Kriegstreiber, vielen Müttern und Vätern als Mörder ihrer Söhne und den Idealisten, den Abolitionisten und Abstinenzlern als moralisch zu wenig gefestigt. Es gehört zu den großen Geheimnissen und Wundern der amerikanischen Geschichte, daß er mitten im Krieg, der mit jedem Jahr, das er andauerte, brutaler und kompromißloser geführt wurde, eine Wiederwahl gewann. Letztlich verdankte er dies den Erfolgen der Generäle Sherman und Grant im tiefen Süden, die das Land geradezu umpflügten und derart demütigten, daß – in Grants Worten – dort nie wieder die Pflanze der Rebellion erblühen würde.
Wie soll man sich dieser Figur nähern, wenn man sich literarisch oder auf sonstige Weise künstlerisch mit ihr auseinandersetzen will? Und warum sollte man das überhaupt wollen? George Saunders, in den USA für seine Kurzgeschichten gefeierter Autor, hat es in seinem Romandebut LINCOLN IN THE BARDO (Originaltitel; erschienen 2017) jedenfalls getan. Und wahrscheinlich wählt er die beste Möglichkeit, wie man sich überlebensgroßen Figuren der Weltgeschichte nähern sollte – indirekt und zudem an einem Punkt, der sie menschlich macht, zumindest menschlich aussehen lässt. Mitten im Krieg, 1862, verstarb Lincolns damals elfjähriger Sohn William „Willie“ Wallace an Typhus. Es ist überliefert, daß dies den Präsidenten in eine tiefe, fast einer Depression ähnelnde, Trauer versetzte. Saunders lässt den Leser an der Beerdigung des Jungen teilnehmen und berichtet dann davon, wie Abraham Lincoln spät in der Nacht allein auf den Friedhof zurückkehrt, dort in das Mausoleum, in welchem der einbalsamierte Leichnam seines Sohnes liegt, einbricht und den toten Jungen an sich nimmt, um sich von ihm zu verabschieden und sich seinem Schmerz allein und ungeschminkt hingeben zu können. Doch wählt Saunders eine wirklich außergewöhnliche Form der indirekten Annäherung. Er lässt dem Leser die Geschehnisse komplett durch die Berichte jener Toten, deren Geister sich noch dort, auf jenem Friedhof, befinden, zukommen. Dies ist der titelgebende Bardo.
Bardo beschreibt im Yoga – vereinfacht gesagt – einen Zwischenzustand, eine geistige Verfassung im Übergang vom Dies- ins Jenseits. Saunders macht sich diesen recht komplizierten Begriff zueigen, um dem Leser ein Panoptikum toter Seelen zu präsentieren, die entweder nicht begriffen haben, daß sie bereits gestorben sind, oder sich bewußt gegen einen Übergang in den endgültigen Zustand des Todes, ins Jenseits, entschieden haben. Hauptsächlich sind es drei Verstorbene – ein Reverend, der den Übergang fast geschafft hatte und dann begreifen musste, daß für ihn, aus ihm unerfindlichen Gründen, ein Platz in der Hölle reserviert ist, woraufhin er das Zwischenreich bevorzugte; ein Hagestolz, der erst spät im Leben das Liebesglück getroffen hat und dann im entscheidenden Moment durch ein Unglück zu Tode kam; ein Homosexueller, der sich aufgrund der Unmöglichkeit seiner Lebenssituation in seiner Zeit selber das Leben genommen hatte – die uns durch diese Nacht führen, uns die Verhältnisse auf dem Friedhof, den sie nicht als solchen erkennen, und in der dort versammelten Gemeinde der Verstorbenen, sowie die Besonderheiten ihres Zustandes erklären. Wir werden Zeugen einer Kakophonie von Stimmen Verstorbener, die – im Tode sind wir alle gleich – durch alle Schichten, selbst über Rassenschranken hinweg aus ihrem Leben berichten, dabei einen gewissen Querschnitt der amerikanischen Bevölkerung seit den Anfängen als britische Kolonien präsentierend. Wir dürfen an einer Prozession engelhafter Wesen teilnehmen, die in regelmäßigen Abständen das Zwischenreich aufsuchen, um Werbung für den endgültigen Übergang zu machen. Wir müssen lernen, daß diese körperlosen Wesen, die sich nicht entscheiden können, die teils hoffen, in das zurückkehren zu können, was sie Leben nannten, über erstaunliche gestaltwandlerische Fähigkeiten verfügen und zudem in der Lage sind, in die Lebenden einzutauchen, um deren Leben zu lesen.
Genau das widerfährt also auch Lincoln, der sowohl von seinem Sohn als auch den Massen an Toten besucht und gelesen wird. So kann Saunders uns also den Präsidenten durch zahllose Äußerungen der Toten als trauernden Mann zeigen. Als einen schwachen, in sich und an sich zweifelnden Mann. Und auch als einen Mann, der in der Trauer um sein Kind den Schmerz erkennen muß, den er anderen durch seine politischen Entscheidungen zufügt, der aber schließlich in der von ihm selbst kaum wahrgenommenen Konfrontation mit seinem verstorbenen Sohn erkennt, daß sich all die Anstrengung und all die Bürden, die er auf sich lädt, lohnen. Durch diese wahrlich kunstvolle Konstruktion kann Saunders einerseits eine historische Figur menschlich werden lassen, ohne diese zu ver-menschlichen, andererseits gelingen ihm eine ganze Reihe wirklich gelungener Betrachtungen und Gedanken zur Endlich- und Unendlichkeit, zur Zeit und dem Aufheben alles Zeitlichen, ihm gelingen manchmal humorige Anekdoten, die ein Amerika präsentieren, das – so ist sie halt, die Demokratie – wahrlich dem Plebs gehört und durch diesen beherrscht wird und zugleich eine tiefe Sehnsucht nach „Größe“ in sich trägt.
Doch stellt sich dem Leser immer wieder die Frage, was der Zweck all dessen sein soll? Denn schließlich fügt Saunders, der sein babylonisches Stimmengwirr gelegentlich durch ordnende Collagen gesellschaftlicher und persönlicher Beschreibungen von Zeitgenossen unterbricht und damit faktenbasierte, gleichsam „objektive“ Einblicke in Lincolns Zeit und die Betrachtung dieses Mannes durch seine Mitmenschen bietet, dem Bild, das der geneigte Leser von diesem Giganten hat, kaum Neues hinzu. Das Arrangement, das Saunders wählt, wirkt dann doch zu befremdlich, um beim Leser tiefere emotionale Beteiligung, gar Identifikation zu wecken. Hinzu kommt eine manchmal frivole, gelegentlich ins Ordinäre kippende Lust an sexuellen Details, die vielleicht dazu gedacht sind, einem philosophisch angehauchten Text die Spitzen zu nehmen, vielleicht auch einfach nur das Menschlich-Allzumenschliche in die Historie tragen und ausstellen soll.
Zurück bleibt der Leser mit einem, durch die Anordnung vieler, oft nur in ein, zwei Sätzen zu Wort kommender Stimmen und den Collagen aus Zitaten zeitgenössischer Werke fast wie ein modernes Theaterstück anmutenden Text, der ihn oft ratlos macht. Gelegentlich erklimmt Saunders sprachliche Höhen, die ihn schon als Lyriker ausweisen, manchmal konfrontiert er uns mit Fragen nach Leben und Tod, die wirklich stutzen lassen und zum Nachdenken anregen, momentweise staunt man über die mutige Anmaßung, die diesem Text durchaus innewohnt und ihn als sprachliches, auch als historisches und letztlich sogar philosophisches Experiment wirken lässt, ihm Größe verleiht. Aber oft gerinnt dies alles auch zu allzu banalen Ansichten, Anekdötchen und Plattitüden. In diesen Momenten weißt der Leser nicht, ob Saunders sich selbst im Wege stand oder seinen Text sich selbst bewusst unterlaufen lassen wollte. Doch um diese Metaebene textlicher Selbstreflektion zu erklimmen, fehlen dann doch ein paar – entscheidende – Meter. So sehr man diesen Text mögen, ihn durchdringen, ihm seine Anerkennung spenden will, so häufig steht man vor der Frage, ob der Autor selbst dies alles ernst nimmt. Obwohl sicherlich kein schlechter Text, kein schlechtes Buch, kann man die Lobeshymnen und Elogen, die auf ihn angestimmt wurden, nicht wirklich nachvollziehen.