DIE ELENDEN VON LODZ/DE FATTIGA I ŁÓDŻ
Ein literarisch durchaus überzeugender Roman, dessen Perspektive Fragen aufwirft
Wenn ein Buch, daß sich aus der Perspektive eines Nachgeborenen, der persönlich nicht vom Geschehen betroffen war, in die Köpfe von Opfern des fürchterlichsten Menschheitsverbechens hineinzudenken versucht und darin auch auf ebenso fürchterliche Gedanken trifft, wie sie in jedem Menschen wohl irgendwann irgendwie gären, Opfer also als Täter zeigt, wenn ein solches Buch allerseits Zsutimmung erfährt und Lob wegen des Mutes, den der Autor zeige, dann ist es vielleicht doch wichtig, noch andere Stimmen zu hören, zweifelnde Stimmen, Stimmen die Fragen stelen. Fragen wie: Geht das? Geht das von dem Standpunkt aus, aus dem Kontext, dem sich der Autor nicht entziehen kann?
Eine Inhaltsangabe des Buches zu geben fällt schwer. Mit vielen Stimmen erzählt Sem-Sandberg aus dem Getto von Lodz. Er konzentriert sich dabei vor allem auf den Präses, den Gettoältesten Mordechai Chaim Rumkowski. Seine Geschichte steht im Mittelpunkt und bildet für alle anderen, die „zu Wort kommen“, deren Gedanken und Gefühle geschildert werden – wobei der auktoriale Erzählstil nicht aufgegeben wird – den Fixpunkt. Die Geschichte des Gettos von Lodz ist bekannt und vor allem sehr gut dokumentiert, was Sem-Sandberg in seinem Nachwort auch hervorhebt. Dadurch wissen wir heute, daß Chaim Rumkowski wohl eine Art „Gettokönig“ war, der sehr willkürlich und herrschsüchtig über „seine“ Juden (Rumkowskis Ausdruck) verfügte. Durch die immer höheren Deportationsquoten der Deutschen in Bedrängnis geraten, kam Rumkowski in die fürchterliche Lage, mehr und mehr Menschen auswählen und in den sicheren Tod schicken zu müssen. Dies gipfelte in seiner Forderung an die Gettobewohner, ihm ihre Kinder zu überantworten. Die Chronik des Gettos gibt darüber ausführlich Auskunft, Raul Hilberg geht in seinem Jahrhundertwerk DIE VERNICHTUNG DER EUROPÄISCHEN JUDEN[1] sehr ausführlich auf diese Begebenheiten ein.
Mit Hannah Arendts EICHMANN IN JERUSALEM[2] begann die schwierige Diskussion, die es seit 1945 immer wieder um die Judenräte gegeben hat. Waren sie Kollaborateure, bereit, um sich und die ihrigen (vergeblich) zu retten, Massen ihnen „unterstellter“ Juden an die Deutschen „zu verkaufen“? Oder waren sie Getriebene, die von den Deutschen nahezu teuflischen „Pakten“ ausgesetzt waren und sich so oder so nicht adäquat verhalten konnten? Es ist wahrscheinlich müßig, diese Diskussion zu führen. Wer diesem Druck nicht ausgesetzt war, der kann in diesen Dingen wohl kaum seine Stimme erheben, gar urteilen, nein, er hat zu schweigen. Das ist natürlich eine sogenannte konservative, vielleicht radikale Haltung. Denn das bedeutete ja, daß man darüber nicht mehr sprechen (schreiben) könnte, wenn der letzte Augenzeuge gestorben wäre/ist. Richtig. Dies ist eine von mindestens 2 Haltungen, die die man zu respektieren hat. Es wird fiktionalisiert werden, Jonathan Littell, dessen DIE WOHLGESINNTEN[3] möglicherweise eines der besten und wichtigsten Bücher der letzten 10 Jahre zum Thema ist, hat das eindrucksvoll bewiesen. Es wird manchmal (meist?) nicht gelingen, wie man in der Geschichte vom JUNGEN IM GESTREIFTEN PYJAMA[4] nachlesen konnte, aber es wird von Mal zu Mal genauestens zu prüfen sein, was der Autor fiktionalisierend zusammenträgt.
Sem-Sandberg hat genau recherchiert, keine Frage. Fragwürdig erscheint, daß nicht immer deutlich wird, wo die Recherche endet und die Fiktion beginnt. Sicher, wenn die Figuren in ihren Gefühlen und Gedanken beschrieben werden, dann hat man es selbstredend mit Fiktionen zu tun. Doch gerade in den Dialogen (vor allem denen, die die Gettopolitik betreffen) kann man oft nicht zuordnen, ob es Überlieferungen sind oder nicht.
Doch ist dies nicht der Grund, daß an einem bestimmten Punkt der Lektüre Ärger einsetzt, bevor momentweise wirklicher Zorn auflodert. Es sind zum einen die Charakterisierungen, zum andern die Konstellationen, die Sem-Sandberg vorführt. Der Charakter des Präses Chaim Rumkowski ist eben nicht nur jenes Monster, daß „seine“ Juden auffordert, ihm ihre Kinder „zu geben“, die er den Deutschen quasi ausliefert, um somit andere, mehr Menschen zu retten, sondern er ist eben auch noch ein Pädophiler, er vergreift sich an Kindern und „vergiftet“ diese sozusagen. Und erklärt wird das mit seiner Außenseiterrolle als Kind, als er Opfer von Hänseleien wurde und einmal sogar das eines Tötungsversuchs anderer Kinder. Wie weit dies belegbar ist, sei dahingestellt, sicherlich reicht es nicht aus, einen gesamten Charakter darauf fußend zu beschreiben, wenn man damit sein Verhalten unter Extrembedingungen – schlecht zu imaginierenden Extrembedingungen – zu erklären versucht. Wohl ist dieser Zug seines Charakters überliefert, er „hielt“ sich angeblich Kinder, mißbrauchte und benutzte sie. Was wurde aus diesen Kindern? Und ist es angängig, jenes Kind, welches in den ELENDEN VON LODZ näher beschrieben vorkommt, das vom Präses wie ein Prinz behandelt und nach und nach verdorben wird, als kleines Nachwuchsmonster zu beschreiben? Es wirkt wie „angesteckt“, es wird als ein zwar vollkommen verlorenes Wesen geschildert, dessen Eltern tot sind, dessen Sehnen in eine furchtbare Finsternis führt, das aber zugleich unfähig ist, weiterhin Liebe zu empfinden, das sich der Hassliebe gegen seinen Peiniger vollkommen hingibt.
Der Roman eckt hier an, und zwar mit sich selbst. Das Thema Kindesmißbrauch an sich ist schon derart diffizil und schwierig, ob es dann geeignet ist, als ein Aspekt der Shoah beschrieben zu werden? Und wird man den Beteiligten gerecht, wenn man deren Gefühle zu DIESEM Thema anschneidet, indem man die Ehefrau des Gettoältesten in ihrer Eifersucht darstellt, Eifersucht auf das Kind, und diesem gegenüber ablehnend? Unter den herrschenden Gettobedingungen erscheint das ganze Konstrukt wie installiert, um zu rationalisieren, was sich wahrscheinlich kaum rationalisieren lässt. Daß die herrschenden Zustände jede Art verwerflichen menschlichen Verhaltens hervorgebracht haben, daß die, die überlebten (und Rumkowski hat nicht überlebt) dies oft nur deshalb taten, weil andere früher starben und dadurch Ressourcen – z.B. Essen – freigaben, das weiß, wer Primo Levi oder Alexandar Tîsma gelesen hat. Muß es anhand eines Pädophilen nun auch fiktional und imaginiert nun hervorgehoben und noch einmal erzählt werden? In einem so eindeutigen Zusammenhang wie Kindesmißbrauch, bei dem die moralische Verurteilung fast automatisch eintritt und bei diesem Thema auch kaum zu leugnen ist? Kindesmißbrauch ist ein Kontext, der gerade in aktuellen Diskussionen manchmal auch archaische Reaktionen zeitigt. Es ist fraglich, das Augenmerk auf einen solchen Aspekt zu richten, der im Gesamtzusammenhang solch ungeheuerlicher Dimensionen steht.
Sem-Sandberg hat hervorragend recherchiert und er findet ganz sicher einen hohen Ton, seinen Recherchen literarisch Ausdruck zu verleihen. Es ist auch angängig, dies so und nur so zu schreiben, wie er das tut. Auch die Konstruktion des Buches, die Distanz, die er einhält, kann man ihm nicht wirklich vorwerfen, wenn manchmal auch jedwede empathische Regung der Figuren vollkommen zu verblassen droht. Nichts kann man ihm vorwerfen. Und dennoch kann man all das auch ablehnen. Kann ablehnen, daß sich jemand, der sie nicht erlebt hat, einer solchen Situation meint imaginierend nähern zu können. Allerdings erschließt sich die in diversen Kritiken zum Buch angemerkte Enthaltsamkeit des Autors hinsichtlich einiger Figuren nicht. An Sem-Sandbergs Schilderung Chaim Rumkowskis als ein Monster kann kein Zweifel bestehen. Sich diesem Mann gegenüber beim Lesen „neutral“ zu positionieren, scheint nahezu unmöglich. Und so könnte man auch viele der auftretenden Figuren und der Art, wie sie eingeführt und beschrieben werden, als durchaus treffend charakterisiert bezeichnen; „treffend“ in dem Sinne, daß sie im Kontext des Romans sehr genau funktionieren.
Es drängt sich während der Lektüre irgendwann die Frage auf, wer hier eigentlich schreibt? Ist Sem-Sandberg selbst jüdischen Glaubens? Spielt das eine Rolle? Doch, tut es. In diesem Roman treten fast nur Juden auf, daneben gibt es an Deutschen nur den Gettoleiter Biebow und einige Handlanger, die jedoch selten vorkommen und noch seltener namentlich. Das bedeutet, daß hier auch fast ausschließlich Juden Juden Schreckliches antun. Das ganze perfide System der Organisation durch Selbstverwaltung, einschließlich der Gettopolizei, forcierte dies natürlich. Aber es zu beschreiben, ist eine ganz andere Frage, als es zu erforschen. Oder es erlebt zu haben. Oder es initiiert zu haben. Und es zu beschreiben, indem man das Grauen teils – einem entscheidenden Teil, wenn man seinen Text so anlegt, wie Sem-Sandberg es tut – imaginiert, entpuppt sich immer als sehr, sehr schwierig. Daß Juden Juden Schreckliches antaten, war ja nicht ihrer Schlechtigkeit oder Verdorbenheit geschuldet, sondern geschah auf Grund des Drucks, den die Deutschen ausübten. Sich als Nichtjude mit der Frage auseinanderzusetzen, inwiefern jenen, die sich der Gettopolizei anschlossen, die sich der Gestapo als Spitzel andienten, Schuld zuzusprechen sei, inwiefern sie sich moralisch in das Grauen verstrickt haben – und diese Fragen kommen zwangsläufig auf bei der Lektüre – ist ein riskantes Unterfangen. Man macht sich automatisch zum Richter, man maßt sich automatisch an, diese Fragen als allgemeingültige und moralische Grundsatzfragen betrachten zu können. Wenn man meint, diese Haltung einnehmen zu können, wird man sich die Frage gefallen lassen müssen, wo darin der tiefere Sinn liegt?
Wohl gemerkt: Es geht hier um die Möglichkeit der Darstellung des Schrecklichen, nicht darum, ob es so oder anders geschehen ist. Es ist die Frage der Darstellung selbst. Vielleicht ist es eine altmodische Position, wenn immer wieder Claude Lanzmanns Diktum anläßlich Spielbergs SCHINDLER`S LIST (1993) am geistigen Horizont erscheint, daß nämlich die Shoah nicht darstellbar sei. Und es ist ja auch interessant, daß die, die es erleben mussten und darüber schrieben, in den seltensten Fällen Geschichten/Storys/dramaturgisch Zugespitztes erzählten. Sie schilderten meist – oft genug so nüchtern, daß es schmerzte, es so lesen zu müssen – einfach sehr genau ihre Erlebnisse, damit diese bewahrt, überliefert und als Mahnung der Nachwelt erhalten blieben.
Sem-Sandberg wagt einiges mit seinem Buch und er verfügt sicherlich literarisch über das nötige Rüstzeug, sich dem Thema anzunähern. Er trifft den hohen Ton, er schafft es, sprachlich genau zu bleiben und damit Distanz zum Sujet zu halten und beim Leser zu erzeugen, was eine angemessen wissenschaftliche Perspektive verschafft. Und es sei an dieser Stelle auch nicht unterschlagen, daß Sem-Sandberg grandiose Momente und auch sehr, sehr bedrückende gelingen. Wäre dies eine Studie von Menschen unter Extrembedingungen, wäre Vieles sicher große Literatur, doch die Nutzung wahrer Personen unter Extrembedingungen, die bisher zumindest als einmalig und unvergleichbar galten, die Nutzung der Chroniken der wahren Begebenheiten als Grundlage und Gerüst eines letztlich eben doch fiktionalen Romans, der stark darauf setzt, seine Figuren zu psychologisieren, machen das Unternehmen fragwürdig.
Es geht nicht darum, den Roman literarisch anzugreifen, Sem-Sandberg Bewußtsein oder Ernsthaftigkeit abzusprechen. Keineswegs. Es geht schlicht um die – natürlich in der Kunst nie erlaubte – Frage „Darf man das?“. Oder, besser:“Geht das?“
Und es geht darum, bei der Lektüre, die jedem empfohlen sei, um sich einerseits selbst ein Bild zu machen, andererseits zu eigenen Recherchen angeregt zu werden und das Geschehen in Andenken zu halten, diese Frage im Kopf zu behalten.
[1] Hilberg, Raul: DIE VERNICHTUNG DER EUROPÄISCHEN JUDEN. DIE GESAMTGESCHICHTE DES HOLOCAUST. Frankfurt a.M., 2010.
[2] Arendt, Hannah: EICHMANN IN JERUSALEM. EIN BERICHT VON DER BANALITÄT DES BÖSEN. München, 1964/86.
[3] Littell: DIE WOHLGESINNTEN. Berlin, 2008.
[4] Boyne, John: DER JUNGE IM GESTREIFTEN PYJAMA. Frankfurt a.M., 2006.