MÜNZGESTEUERTE GESCHICHTE

Schaut mal - VT können wir auch!

Reptiloiden im Kanzleramt? Chemtrails über Brandenburg? Unterirdische Gänge mit geheimen Labors, in denen Kindern das Blut abgezapft wird – wo? Im Harz möglicherweise? Sogenannte Verschwörungstheorien – mittlerweile setzt sich der Terminus Verschwörungsnarrative durch, was nur zu begrüßen ist – wirken, wie man weiß, doch nur in einem entsprechenden Setting überzeugend. Die momentan gängigen Favoriten segeln auch deshalb immer am Rande des Lächerlichen, weil man sich sowas im meist doch biederen Deutschland aber so gar nicht vorstellen kann – was dem Verschwörungstheoretiker natürlich Beweis dafür ist, weshalb es gerade hier passiert. Angela Merkel beim Tee mit den heimlichen Herrschern, Reptilienwesen vom Alpha Centauri möglicherweise…nein, eine ordentliche Verschwörungserzählung braucht ein entsprechendes Umfeld. Und das ist nun mal Amerika. Denn da finden die wirklich interessanten Verschwörungen statt. Es würde ja auch keinem Außerirdischen, der auf sich hält, einfallen, an der Mecklenburgischen Seenplatte niederzugehen, sondern selbstredend irgendwo in der Wüste von Nevada. Area 51…Sie wissen schon, Sie wissen schon…

Interessant sind all diese Erzählungen – und vielleicht sollten sie einfach strickt unter literaturwissenschaftlichen Aspekten betrachtet werden, wo sie schon schlecht genug abschneiden würden – doch erst dann, wenn man ihre Meta-Ebenen betrachtet. Wenn man zu begreifen versucht, was sie uns über die Wirklichkeit und die Zeichensysteme der Wirklichkeit zu erzählen haben. Was verbirgt sich unter der uns bekannten Oberfläche, welche Unterströmungen, welche Ängste, welche Neurosen schlummern da in unserem kollektiven Unterbewussten? Der Paranoia-Thriller, der immer auch die Verschwörungstheorie bemüht, lebt gleichsam von ihr, von der Annahme, daß die Welt niemals so ist, wie sie erscheint, daß jedwede Wahrnehmung zugleich schon Interpretation ist und daher grundlegend falsch. Deshalb wird der Verschwörungs-Thriller auch zum Sujet für jene, die Zeichen-Systeme untersuchen, Strukturen und Muster und darin neue Muster und Zusammenhänge entdecken – für Linguisten und Literaturwissenschaftler, für Psychologen und Neurologen, für Philosophen und Historiker, vor allem aber für Künstler, für Schriftsteller und Filmemacher[1].

Die interessantesten Versuche und Variationen lieferten dann auch meist jene, die sich auf genau diesen Meta-Ebenen zu bewegen wussten, entweder völlig überdreht, bewusst comichaft – Robert Anton Wilson und Robert Shea lieferten mit ILLUMINATUS! (1975) das Paradebeispiel dieser Variante – , oder hintersinnig, faktenreich und zumeist theoretisch bewandert, wie es Autoren vom Schlage eines Don DeLillo, William Gaddis und natürlich Thomas Pynchon immer wieder aufs Neue bewiesen haben. Irgendwo dazwischen ließe sich Francis Neniks MÜNZGESTEUERTE GESCHICHTE (Erstveröffentlichung 2016) einordnen. Offensichtlich in verschiedenen Spielarten des Genres bewandert und geübt, zudem mit einer für eine Paranoia-Geschichte niemals zu unterschätzenden Fabulierlust ausgestattet, dazu mutig genug, offene Enden zuzulassen und sich damit alle Möglichkeiten offen zu halten, serviert uns dieser deutsche Autor eine Verschwörungsgeschichte allererster Kajüte.

Amanda Susan Marie Hollis ist seit nunmehr sieben Jahren Archivarin in einer der Bibliotheken Harvards. Nun erhält sie den Auftrag, das Leben von William Croswell – einer der ersten Archivare der Universität, von ihren Gründungstagen an dabei – aus 526 Einzelteilen, also verschiedenen Akten und Ordnern, die dem Archiv zur Verfügung gestellt wurden, so aufzubereiten, daß ihr Vorgesetzter, ein Mann mit dem vielsagenden Namen Heath Cover Evil, anschließend einen brauchbaren Essay daraus generieren kann. Amanda ist gleichsam im Archiv des Archivs angelangt, wo sie – im Untergrund, da dort die Arbeitsräume sind, in denen die Archivare ihrer Tätigkeit nachgehen – sich der Geschichte des Archivs selbst widmet. Problematisch ist daran nur, daß das Leben von William Croswell nahezu nichts hergibt, im Gegenteil, der Mann scheint ein wahrer Bartleby gewesen zu sein und dazu auch noch faul. Scheinbar hat er nahezu keine Spuren hinterlassen. Amanda weiß also nichts mit ihrer Zeit anzufangen, verspürt aber eine leise Furcht, wenn sie daran denkt, wie sie vor ihren Chef treten und dem klar machen soll, daß ihr Vor-vor-vor-usw.-Gänger einfach kein Material für einen wie auch immer gearteten Vortrag, ob mündlich oder in schriftlicher Form, hergibt. Und dann beginnt ein durch den Kellerraum verlaufendes Rohr mit Amanda zu sprechen. Und weist sie darauf hin, daß Amerika durch mongolische Würmer bedroht sei. Was Amanda weitaus spannender findet, als das Leben von William Croswell. Bis sie erste Parallelen zwischen der endlos sich hinziehenden und mit immer mehr Details gespickten Geschichte aus dem Rohr und – gleichsam ex negativo – zu ihrem fruchtlosen Ringen mit der Nicht-Biographie des Archivars zu erkennen glaubt.

Der Leser wohnt also Amandas Sitzungen mit dem Rohr – oder besser der Stimme aus dem Rohr – bei und wundert sich mit der Heldin, was das alles zu bedeuten hat. Das Rohr entführt sie zu wilden Wikingern, ins Europa des Mittelalters und kreuz und quer über den europäischen Kontinent, immer auf den Spuren der ominösen Vinland-Karte, die angeblich die älteste Darstellung der nordamerikanischen Nordostküste darstellt und somit Beleg sei dafür, daß die Wikinger die eigentlichen Entdecker Amerikas sind. Das ist alles in einem sehr ruhigen Ton erzählt, wozu beiträgt, daß bei aller hysterischen Dramatik, die der Geschichte innewohnt, sowohl Amanda als auch die Erzählstimme aus dem Rohr vergleichsweise ruhig bleiben. Da Nenik es darüber hinaus aber versteht, uns diese überaus sympathische Amanda Hollis menschlich nah zu bringen, eröffnen sich neben der reinen Kolportage auch ganz andere Möglichkeiten, was da eigentlich erzählt wird. Denn Amanda spürt, daß ihr das Leben zu entgleiten droht. Sie vertändelt die Jahre, hat keine Perspektiven, aber auch nie die Liebe gefunden, die sie sich leise erträumt. Wobei sie nicht leidet in ihrem oder unter ihrem Leben. Nur fällt ihr ein Mangel auf.

So stellt sich dann irgendwann auch Amanda selbst die Frage, ob irgendetwas mit ihr nicht stimmen könnte? Hört sie Stimmen, so wie das gern gesagt wird, wenn einer „irre“ zu werden droht? Hört sie vielleicht eben einfach nur Stimmen aus einem Rohr? Allerdings beginnt bald auch die Remington-Schreibmaschine mit Amanda zu sprechen, die ihr ein Hausmeister geschenkt hatte und die man mit 10-Cent-Stücke füttern muß, um ein paar Minuten zu bekommen, seine Nachrichten in die Tasten zu dreschen. Und die setzt die Geschichte des Rohrs nicht nur nahtlos fort, sondern weist auch tieferes Verständnis für die Hintergründe auf. Womit einmal mehr die Überlegenheit der Schrift über das gesprochene Wort bewiesen wäre, zumindest wenn man an das Archiv als Idee glaubt. Andererseits muß Amanda auch feststellen, daß es da immer irgendwie einen schwarzen Rücken zu der ganzen offiziellen Geschichte gibt, eine unerzählte Geschichte, eine nicht geschriebene Geschichte. Die bricht sich dann eben irgendwann Bahn, irgendwo in einem Kellerraum gibt es ein Leck und das Verdrängte schäumt auf, verlässt die ihm zugewiesenen Bahnen. Dann ist man – als Individuum ebenso, wie als Gesellschaft mit einem Davor und Danach – darauf angewiesen, damit umgehen zu können.

Das ist das Schöne an Neniks Geschichte – um Amanda muß man sich letztlich keine Sorgen machen, sie schafft das schon. Hauptsache sie hat einen Stapel Katalogkarten und einen funktionierenden Stift zur Hand.

 

[1] Vgl. Boltanski, Luc: RÄTSEL UND KOMPLOTTE. KRIMINALLITERATUR, PARANOIA, MODERNE GESELLSCHAFT. Berlin, 2013.

8 thoughts on “MÜNZGESTEUERTE GESCHICHTE

  1. Meinhard sagt:

    Ein super Rezension, die Lust aufs Buch macht. Hab von Nenik bereits seine „Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert“ gelesen und seinen Roman „E. oder Die Insel“, beides großartige Bücher, die ihm letztes Jahr den Anna Seghers eingebracht haben und auch zwischen Fakt und Fiktion oszillieren. Das Buch hier kannte ich noch nicht. Hab aber gleich mal nachgeschaut, der Roman ist 2017 als „Die Untergründung Amerikas“ als Taschenbuch erschienen. Bin sehr gespannt auf die Lektüre.

  2. Gavin sagt:

    Hallo und vielen Dank fürs Lob! Ich habe ebenfalls E. ODER DIE INSEL hier liegen und muß zugeben, daß das eigentlich das Buch war, durch welches ich auf Nenik aufmerksam wurde. Nun muß ich es aber auch lesen. Als Bettlektüre arbeite ich mich momentan durch sein TAGEBUCH EINES HILFLOSEN, welches er während der Trump-Regierungszeit geschrieben hat. Da weiß ich noch nicht so ganz, was ich davon halten soll.

    Auf jeden Fall wünsche ich viel Spaß mit der MÜNZGESTEUERTEN GESCHICHTE (der andere Titel würde auch passen ;-)) !

    MfG
    Gavin Armour

  3. Meinhard sagt:

    Das „Tagebuch eines Hilflosen“ kenne ich noch als Online-Projekt. Ich fand die Einträge sehr disparat, manche brillant, andere fast banal, aber das passte dann auch wieder zu Trump 🙂
    Auf jeden Fall ein Projekt, bei dem Durchhaltevermögen gefragt war, auch wenn ich es nicht bis zum Schluss verfolgt habe.

    LG,
    Meinhard

    1. Gavin Armour sagt:

      Ja, Durchhaltevermögen ist schon das richtige Wort dafür 😉 Wie gesagt, es ist eine Bettlektüre, in Happen zu genießen und der Horror dahinter ist ja – zumindest vorübergehend – auch vorbei. Da lässt es einen wohlig schauern, weiß man ja, wie die Dinge sich entwickelt haben.
      Aber ja, einiges ist wirklich banal, bisher (weit bin ich noch nicht) sind am ehesten jene Einträge interessant, in denen Nenik sein eigenes Schreiben referiert.

      Grüße
      Gavin Armour

      1. Meinhard sagt:

        Ich habe das Projekt bis Anfang 2020 verfolgt. Die Einträge im Tagebuch wurden immer länger, oft waren es mehrere Seiten am Tag (keine Ahnung, wie man sowas schafft). Ich habe gerade bei diesen längeren Beiträgen viel gelernt über Trump, die USA und ihre Geschichte, die Tagebucheinträge waren dafür weniger prosaisch, mehr journalistisch. Über sein Schreiben hat er meiner Erinnerung nach da nicht mehr so sehr reflektiert, aber das war mir auch ganz lieb (ist immer Geschmacksache solche „Metaebenen“ :))

  4. Gavin Armour sagt:

    Ich erinnere mich, daß ich irgendwo über das Projekt gelesen hatte, es aber nicht weiter verfolgt habe. Auch – kleiner Arroganzanfall meinerseits – weil ich der Meinung war, da eh inchts Neues lernen zu können, beschäftige ich mich doch seit Ewigkeiten mit den USA in all ihren Facetten. Aber solche Hybris wird ja meist bestraft und amn wird eines Besseren belehrt 😉
    Daß es Nenik war, der das initiiert und durchgezogen hat, wurde mir aber erst jetzt bewußt. Ich hab hier und da mal in spätere Einträge reingeschaut und auch festgestellt, daß er da weitaus tiefgreifender über die Thematik selbst schreibt, als zu Beginn der Aufzeichnungen. Darauf bin ich also sehr gespannt.
    Die „Metaebene“ der reinen Reflektion auf das Schreiben finde ich auch nur solange interessant, wie der Autor wirklich etwas zu sagen hat – in Neniks Fall ist das leider nur gelegentlich so. Aber ich schreite voran und harre der Dinge, die da kommen…;-)

    1. Meinhard sagt:

      Sehr schön, ich bin gespannt auf die Rezension (falls es da eine geben wird). Auf jeden Fall nochmal Daumen hoch für den gesamten Blog und die Besprechungen und Texte hier! Sind sehr gut geschrieben und angenehm analytisch ohne trocken zu sein.

      1. Gavin Armour sagt:

        Ja, vielen Dank auf jeden Fall! Freue mich, wenn gefällt, was hier geschrieben steht 😉
        Und immer über Diskussionsbeiträge!

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