SATANSTANGO/SÁTÁNTANGÓ
Die, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren...
Es regnet. Ununterbrochen. Die Wege verschlammen, in den Räumen ist es feucht, die Siedlung scheint schier in den Wassermassen zu versinken. Und der Leser glaubt spätestens nach 20 Seiten, daß ihm die Fluten aus diesem Buch entgegenkommen. László Krasznahorkai begründete schon mit seinem Debutroman SATANSTANGO (SÁTÁNTANGÓ erschienen 1985; Dt. 1990) seinen Ruf als Apokalyptiker – und man kann nur sagen: zurecht. Selten hat es einen Roman gegeben, der Trostlosigkeit, Perspektivlosigkeit und gesellschaftliche Zersetzung so eindringlich, so intensiv und so schwer erträglich beschrieben hat. Diesen Roman zu lesen – und er hat gerade einmal 317 Seiten – ist Arbeit, harte Arbeit. Der Leser sollte sich auf einen Kampf einstellen, den er mit diesem Text wird ausfechten müssen. Und ob es sich lohnt? Das muß ein jeder für sich entscheiden.
In einem Dorf – einer, wie es im Text immer wieder heißt, Siedlung – , einer namenlosen Stadt vorgelagert, lebt eine Handvoll letzter Bürger, die sich um nichts mehr kümmern, die nichts erwarten und den allgegenwärtigen Zerfall um sich herum nur noch zu ertragen scheinen. Bis sich die Kunde verbreitet, daß Irimias zurückkehrt. Der wird hier als eine Art Erlöser gesehen und dementsprechend wird seine Wiederkunft mit hohen Erwartungen aufgeladen. Worin sich diese Erwartungen erfüllen sollen, wird dem Leser nie näher erläutert. Der allerdings weiß sich gegenüber den Siedlern in einem Vorteil: Er weiß, daß Irimias und sein Gefährte Petrina, bevor sie sich auf den Weg in die Siedlung machen, bei einer Behörde vorstellig wurden und offenbar als Spitzel angeheuert haben. Ob dies ausschließlich auf Druck hin geschieht, wie sich in ihrem Anwerbungsgespräch zumindest andeutet, oder ob sie es aus mehr oder weniger freien Stücken tun, bleibt vage. Doch sobald sie in der Siedlung angekommen sind, entfalten sie eine rege Tätigkeit, um die Siedler, die bereit sind ihnen zu folgen, in ein abgelegenes Gehöft zu führen, wo sie eine klassenlose Gesellschaft errichten wollen.
Immer wieder muß man sich während der Lektüre vor Augen halten, daß dies vor 1989 und den Umbrüchen in Osteuropa, in der früheren sowjetischen Einflußzone, geschrieben wurde. Denn man ist immer wieder versucht, dies als Parabel auf jene Gesellschaften zu lesen, die nach den Umbrüchen halt- und oft auch ratlos zurückblieben, in Armut und Korruption versanken und schließlich in vielen Fällen – Polen, Ungarn (sic!) – bereit waren, sich neuen Heilsversprechern in die Arme zu werfen. Diesmal allerdings nicht kommunistischen, sondern nationalistischen Heilsversprechern. So aber bietet Krasznahorkai das Bild der sozialistischen Gesellschaften im Niedergang, am Ende der Fahnenstange, ohne irgendwelche Visionen für eine wie auch immer geartete Zukunft. Alles hier scheint festzustecken, unbeweglich und starr. Die Menschen, die hier leben – die Schmidts, Kráners, die Halics, der Eigenbrötler Futaki, der Wirt und der Arzt und einige andere – scheinen jedwede Wertvorstellungen aufgegeben zu haben. Jeder ist sich selbst der nächste, niemand nimmt Anstoß an den Unglaublichkeiten der andern. Sei es die Prostitution, die hier ganz offen betrieben wird, sei es die Gewalt, die immer wieder ausbricht, sei es die Trunksucht, die um sich greift, sei es Verkommenheit der Häuser und des Siedlungsbildes, wo seltsame Spinnen ganze Häuser einweben und wo eine klare Abgrenzung zwischen innen und außen, zwischen Heim und Straße, kaum mehr zu existieren scheint. Nur die Ankunft von Irimias und seines Handlangers reißt diese Menschen noch aus ihrer Lethargie. Ihm zu folgen scheint letzte Gewißheit zu verschaffen. Und doch nutzt auch dieser die Menschen nur aus, reißt die letzte bestehende Gemeinschaft auseinander, verteilt die Leute, angeblich in höherem Auftrag – und macht sie so vor allem gefügig. Futaki merkt es, doch fehlt ihm mittlerweile die Kraft, aufzubegehren, auch er ergibt sich scheinbar widerstandslos in sein Schicksal. Umso ironischer, daß Irimias eine klassenlose Gesellschaft verspricht, denn sollte die herrschende sozialistische nicht schon eine solche sein?
Es ist die Hölle und es sind die Kreise der Hölle, die der Leser hier mit den Protagonisten abschreitet. In zwölf Kapiteln, auf zwei Teile mit jeweils sechs Einzelkapiteln unterteilt, die sich im zweiten Teil rückwärts abzählen, bis man im finalen Kapitel wieder am Ausgangspunkt des Geschehens angekommen ist und alle Hoffnung fahren lässt, berichtet Krasznahorkai in einer dräuenden, oft raunenden Sprache voller Andeutungen vom Los dieser Gemeinschaft. Niemand ist ihm heilig, nichts kann hier noch für Hoffnung oder Zukunft einstehen. Selbst die Kinder – exemplarisch an der als zurückgeblieben eingestuften Estike durchexerziert – sind voller Hass und Gewalt. Und sie sind bereit, sich zu richten, durch eigene Hand. Kapitel für Kapitel zieht der Autor den Leser tiefer in den Sog seiner suggestiven Beschreibungen, manchmal kühl und sachlich, dann wieder bereit, in Adjektivgewittern den Leser gleichsam zu ertränken, wie hier alles im Regen zu ertrinken scheint. Diese Menschen sind nicht sympathisch und nicht freundlich. Will man ihnen noch irgendetwas zugutehalten, dann am ehesten, daß sie Opfer eines Systems geworden sind, das sie wahrscheinlich nicht einmal verstehen.
Krasznahorkai variiert seine Sprache von Kapitel zu Kapitel, er baut kleine Verschiebungen ein, manchmal kaum merklich. Doch bleibt diese Sprache immer eins – hermetisch. Wir sind Zeugen, eher Zaungäste, des Geschehens und es ist die eigentliche Leistung des Romans, uns spüren zu lassen – eher, als daß er beschriebe – was die Wiederkehr des Immergleichen, was die ewigen Routinen bedeuten. Und es versetzt uns schließlich einen Schock, wenn wir auf den letzten Seiten feststellen müssen, daß wir diesem Kreislauf der Sprache nicht mehr entkommen können. Wir sind Gefangene einer Sprache, über die wir selbst nicht mehr bestimmen werden.
Einem Roman wie diesem zu begegnen fordert. Es erfordert genaues Lesen, es erfordert aber auch einen Balanceakt, sich emotional auf das, was da geboten wird, einzulassen und doch zugleich Abstand zu wahren, um nicht vollends in diesem Elend abzusaufen. Gelegentliche Momente eines manchmal feinen, ebenfalls ganz sich der Sprache widmenden, manchmal aber auch kruden Humors, am Rande des Zynismus, sorgen kaum für Aufhellung. Eher sind sie geeignet, das Elend, den Horror, noch zu beglaubigen und die Ausweglosigkeit zu unterstreichen. So beweist Krasznahorkai wie nebenbei noch einmal eine alte Wahrheit – Grauen und Lachen liegen oft sehr, sehr nah beieinander. Es sind hier diese unbestechliche Genauigkeit des Beobachters, die treffenden Bilder und Metaphern, es ist dieses untrügliche psychologische Gespür für das Funktionieren von Individuen in Gesellschaften, die das Individuelle schnell bestrafen und ausgrenzen. Es ist die genaue Kenntnis der Mechanismen, mit denen in solchen Gesellschaften – ob ideologisch begründet oder tradiert – Menschen auf Funktionen degradiert werden und wie man einzelne dafür gewinnen kann, wider jene zu arbeiten, unter denen man lebt, die vielleicht Freunde sein könnten. Nichts wird angesprochen und doch erklärt sich alles aus sich selbst heraus und lässt einen verstörten und geängstigten Leser zurück. Das gefällt nicht, will auch nicht gefallen. Aber es nimmt – in jedwedem Wort- wie übertragenem Sinn – gefangen. Die, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren….