DENEN MAN VERGIBT/THE FORGIVEN

Ein Wochenende der Schönen und Reichen in einem Dorf in Marokko - und wie die Wirklichkeit einbricht

Marokko – da denkt der geneigte Leser doch gleich an Geschichten von blühenden Oasen, Wüstenpalästen, in denen feine Brunnen plätschern und Kühlung in der Hitze bringen, an verschleierte Prinzessinnen und wilde Berber, die in den wüsten Bergen hausen und an den Ruf des Muezzins am Morgen. Der literarisch etwas Bewanderte erinnert sich an die Ausflüge der amerikanischen Beatniks, an Jack Kerouac, Neal Cassidy und vor allem William Burroughs, die hier gern ihren Kumpel Paul Bowles besuchten, der sein Lager langfristig in Tanger aufgeschlagen hatte und mit Romanen und etlichen Kurzgeschichten von einem Marokko erzählte, das ebenso faszinierend wie furchteinflößend wirkte. Es drängen sich aber auch Gedanken daran auf, daß dieses Marokko einen Spagat zwischen einem gemäßigten Islam, Offenheit gegenüber westlichen Touristen und deren Lebensstil und einem andauernden Krieg in seinen Grenzregionen versucht. Ein Marokko, das in einem kulturellen Spannungsverhältnis lebt. In dieses Marokko kommen gern Hollywood-Produktionen und nutzen die Kulisse, wenn sie eigentlich Somalia, den Irak oder gar Afghanistan darstellen wollen. Und manchmal einfach nur die Oberfläche fremder, unentdeckter Planeten.

In genau dieses Marokko versetzt Lawrence Osborne den Leser in seinem Roman DENEN MAN VERGIBT (THE FORGIVEN; Original erschienen 2012, Dt. 2017). In einer geschickt konstruierten, erbarmungslos kühl erzählten Geschichte, evoziert er die oben beschriebenen Bilder, spielt mit ihnen, spielt mit dem Leser und gibt kaum Auswege zu erkennen, wie der sich distanzieren kann von dem, was er da liest.

An einem langen Wochenende lädt ein schwules Pärchen – ein Engländer und ein Amerikaner – zu einer wilden Party mitten in der Wüste. Hier haben Richard und Dally einen Ksar gekauft, ein altes Berber-Dorf, das sie peu à peu nach ihren Vorstellungen – die durchweg von eben jenen fiktiven Ideen und Bildern gespeist sind, die man aus einschlägigen Büchern und Filmen kennt – haben instand setzen lassen. Internationaler Jet-Set reist an, Globetrotter, die Speerspitze der Globalisierung: Stars, Lords, Finanzberater und Analysten, Menschen, die ihr Arbeitsleben auf den Flughäfen und in den Hotels der Metropolen zwischen USA, London und Shanghai verbringen. Man gibt sich international, man gibt sich abgeklärt und zynisch, man genießt die Völlerei und die Orgien und die Drogen, während Einheimische als Dienerschaft fungieren und dafür Sorge tragen, daß der Schampus und der Kif nicht ausgehen, daß immer schon die Kanapees bereitstehen, ehe überhaupt jemand merkt, daß er Hunger hat.

Auf dem Weg in diese Oase des vermeintlichen Glücks sind auch David und Jo. Das britische Paar streitet erbittert auf der Fahrt durch die Wüste, offensichtlich steht es nicht zum Besten um diese Ehe. Und dann springt plötzliche jemand vor ihr Auto. Stunden später treffen sie in der Oase ein und haben einen Leichnam auf dem Rücksitz. Richard, der seine Party gefährdet sieht, müht sich, alle Widrigkeiten mit den Behörden schnell und unauffällig zu lösen. Der Tote soll möglichst schnell unter die Erde oder zumindest weggebracht werden – als Ausrede dient hier der Brauch, Verstorbene wenn möglich noch am Tag ihres Todes zu beerdigen – , der Fortgang des Wochenendes darf möglichst wenig gestört werden. Doch all die schönen Pläne werden durchkreuzt, als der Vater des Toten vor dem Ksar auftaucht und Genugtuung verlangt. Er will, daß David, den er als Alleinverantwortlichen betrachtet, ihn und seine Begleiter sowie den Leichnam in deren Heimatdorf begleitet und (mindestens) an der Trauerfeier teilnimmt. Widerwillig muß sich David auf das Arrangement einlassen und tritt eine Reise ins Ungewisse an, während Jo auf der Party verweilt. Ein wildes Wochenende für alle Beteiligten bricht an.

Osborne spielt gnadenlos mit den Klischees, den der gemeine Westler sich vom Orient (auch, wenn dies gar nicht der „Orient“ ist) so macht. Er führt mit Richard und Dally, den Gastgebern, zwei gebildete und zugleich ignorante Vertreter jener Entwicklungen ein, die sich seit den 80er Jahren unter „Postmoderne“ subsumieren lassen. Der Ort, den sie sich hier, mitten in der Wüste, in „feindlicher“ Umgebung, geschaffen haben, entspricht ihren Ideen und hat mit der Lebenswirklichkeit des Landes nichts zu tun. Der Ksar, den Richard gekauft hat, ist letztlich ebenso Kulisse, wie die Bauten, die George Lucas einst für seine STAR WARS-Filme in die marokkanischen Wüste stellen ließ. Ihr Verhältnis zu den Einheimischen ist das von Kolonialherren zu den Bevölkerungen der Länder, die sie besetzt halten. Weder interessiert sie deren Lebenswirklichkeit, noch die Kultur des Landes. Richard und Dally sind Ästhetizisten, ihre Hintergründe sind die Auktionshäuser und Kunstgalerien New Yorks und Londons, ihr Referenzrahmen ist ausschließlich jene Klasse der Superreichen, die es sich weiterhin leisten kann, ein Leben nach dem Vorbild der Aristokratie zu führen. Nur, daß das Entree in diese Kreise nicht qua Geburt gegeben ist (obwohl mit Lord Swann ein waschechter englischer Lord anwesend ist), sondern per Scheckbuch erkauft werden kann. Dekadenz als Lebensprinzip, wie es vielleicht in den späten 60er und den 70er Jahren die Rolling Stones und andere Rockbands vorgelebt haben.

Kontrastiert wird dies durch die Geschichte des Toten – Driss – und der gnadenlosen Haltung dessen Vaters Abdellah, der von David verlangt, die Wahrheit über die Unglücksnacht zu erzählen. Abdellah ist Patriarch in einem weitaus tristeren Wüstenkaff, als es Richards Phantasie-Ksar darstellt. Dessen Bewohner leben davon, in den Sedimentschichten des Maghreb nach Fossilien zu graben, die sie dann entweder am Straßenrand an Touristen oder aber – für etwas mehr Geld – an Zwischenhändler verkaufen, die ihrerseits hohe Gewinne bei Sammlern und Museen erzielen. Gewinne, von denen diejenigen, die im Staub nach den vorzeitlichen Exponaten suchen, nie etwas sehen. Die Jungen wollen hier nur weg, träumen davon, nach Europa zu gelangen und dort Jobs im Dienstleistungssektor zu ergattern, um am „guten Leben“ des Westens partizipieren zu dürfen. Auch Driss hat dies bereits versucht, wie er es seinem Kumpel Ismael in jener Nacht, die die letzte seines Lebens sein sollte, erzählt hat.

Für David, den Alkoholiker, der sich im heimatlichen London, wo er als Arzt arbeitet, mit allerhand beruflichen Problemen konfrontiert sieht, wird dieser Trip in die Wüste zu einem wahren Erweckungserlebnis. Und obwohl er nicht dumm ist, wie sein Schulfreund Richard über eine umfangreiche Bildung verfügt, durchaus auch wachen Sinnes für die ökonomischen Bedingungen der Menschen ist, die er beobachtet, kann er doch sein grundlegendes Verhalten, seine zynische Weltsicht, nicht ändern. Wenn je ein Autor Samuel P. Huntingtons Thesen zum Clash of Cultures ernst genommen und an ihr bitterstes Ende gedacht hat, dann Lawrence Osborne. Die Ungleichzeitigkeit fortgeschrittener westlicher Lebenswelten, die teilweise längst nur noch in Blasen existieren, Blasen die – wieder das Teufelswort „Postmoderne“ – sich gegen die Realität durchaus abzuschotten verstehen, und einer Welt, die prinzipiell noch lange nicht aus ihrer Geschichte als Kolonialland, also kolonialisiertes Land, herausgefunden hat (und somit den weitaus größeren Teil dieses Planeten stellt) wird von Osborne wie unter einem Brennglas offengelegt und seziert. Und folgt man Osborne bis an das bittere Ende seines Romans, wird es wohl auch keine Konvergenz mehr geben. Denn Menschen wie Richard, David oder Jo sprechen nicht nur wortwörtlich keine Sprache, in der sie sich tiefergehend mit den Einheimischen austauschen könnten, sondern auch nicht im übertragenen Sinne. Die kulturellen und sozialen Gräben zwischen diesen Lebenswelten können nicht mehr überwunden werden.

Osborne zeichnet glaubwürdige Figuren, deren Innenleben wir verstehen. Er driftet nicht in Klischees ab, er bietet kaum schwarz-weiße Zeichnungen dieser Menschen, sondern zeigt kühl auf, daß Reichtum, daß westliche Bildung, daß Intelligenz und Welterfahrung keineswegs dazu führen müssen, die Welt und ihre Bedingungen besser – oder überhaupt – zu verstehen. Mehr noch: Er zeigt, daß gerade Reichtum, Bildung und Intelligenz auch dazu führen können, sich abzuschotten, sich den moralischen – oder ethischen – Problemen und Implikationen des eigenen Handelns zu entziehen. Man kann ja sowieso nichts tun. Und dann kann man ja, wenn es das Konto erlaubt, ein Als-Ob-Leben führen, das so typisch ist für die Postmoderne. Es ist einfacher – und in mancherlei Hinsicht eben auch schöner – in der Phantasievorstellung eines Ksars zu leben, als in einer historisch akkurat hergestellten Nachbildung oder gar einer musealen Aufbereitung. In dieser Welt wird jeder zum Statisten im Leben der anderen. Für Richard sind sogar die Gäste seiner Partys, die natürlich internationale Aufmerksamkeit generieren, lediglich Statisten. Immer wieder werden wir intime Zeugen seiner teils verachtenden Betrachtungen dieser Gäste, die er im Großen und Ganzen nicht leiden kann.

Doch Osborne geht noch weiter und bietet mit dem Pärchen Jo und David eine Blaupause, anhand derer wir erleben müssen, wie die Verdrängung des Elends, die innere Abschottung letztlich auch ein Gift freisetzt, das sich nach und nach gegen die wendet, die meinen, sich abschotten zu können. Denn auch sie sind nicht davor gefeit, von der Wirklichkeit eingeholt zu werden. Das ist hier ganz wörtlich zu nehmen, wenn Jo recht unterkühlt zusieht, wie ihr Mann in die Wüste entschwindet, sich zwar sorgt, zugleich aber ihre plötzliche Freiheit genießt und zu sich selbst zu kommen scheint. Und dennoch kann auch sie ihrem Schicksal nicht entrinnen. Denn in der Wirklichkeit unter der gleißenden Sonne Marokkos gibt es Werte, die um nahezu jeden Preis aufrecht zu erhalten sind. Denn der Tod eines Menschen mag für Richard und die seinen die unliebsame Störung eines Wochenendes sein, für den Vater des Toten ist dieser Tod nicht nur ein gräßlicher Verlust, sondern auch ein ökonomischer Einschnitt, wird hier, am Berg, doch jeder Arbeiter gebraucht. Und so zeichnet Osborne auch von den Marokkanern kein umfänglich positives Bild, sondern lässt uns auch an Abdullahs Gedanken und Gefühlen teilhaben, die nicht frei sind von Zweifeln, von Verachtung, von Hass und Rachelust.

Osborne, der lange als Reportage-Journalist die Welt bereist hat, ist da ein kleines Meisterwerk gelungen. Ein kühler Blick auf westliche Arroganz und Dekadenz, auf ein historisches Verständnis, das sich trotz aller vermeintlicher Erkenntnisse des späten 20. Jahrhunderts kaum weit von dem des 19. Jahrhunderts entfernt hat. Und er lässt es mit einer Welt kollidieren, in der eine Härte vorherrscht, die wir Westler kaum zu verstehen in der Lage sind. Diese Menschen, so resümiert es David während seines Aufenthalts in Abdellahs Dorf, sind jahrhundertelang durch den Wüstenwind, die Hitze, die Sonne und den Staub geformt worden. Geformt durch eine Wirklichkeit, die ein Nordeuropäer, geprägt durch Kälte, Regen, durch Wiesen und Wälder, nicht nachvollziehen kann – und in die ein Europäer schlicht nicht passt. Osborne macht dies unmißverständlich klar. Und bietet wenig – nein, er bietet keinen – Ausblick auf Verständnis. Keine Hoffnung. Nirgends.

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