SING, WILDER VOGEL, SING/SING, WILD BIRD, SING
Die traurige Ballade von Honora, die sich in einer grausamen Welt als Subjekt behauptet
Irland war lange Zeit ein furchtbar armes Land, ein Land, dem in der Geschichte immer wieder übel mitgespielt wurde. Und die irische Literatur weiß ein Lied davon zu singen, zumeist ein trauriges. Das artet – leider – gelegentlich in schwer zu ertragendes Selbstmitleid aus, manchmal in blanken Zynismus.
Ersteres ist – leider – auch für Jacqueline O´Mahonys Roman SING, WILDER VOGEL, SING (SING, WILD BIRD, SING – Original erschienen 2023; Dt. 2024) zu konstatieren, zweiteres hingegen – zum Glück – nicht. Denn sonst wäre diese zutiefst bedrückende und düstere Geschichte womöglich nicht mehr zu ertragen. Zu ertragen ist sie nämlich so oder so schon schwer genug.
O´Mahony erzählt – durchaus mit feministischen Anklängen – die Geschichte von Honora, die 1849, während der großen Hungersnot, die das Land wie eine Plage heimgesucht hatte, Irland verlässt und nach Amerika geht. Dort angelangt, arbeitet sie zunächst in New York als Hausmädchen, später, nachdem sie mit ihrer Freundin Mary gen Westen gezogen ist, landet sie in einem Bordell, aus dem sie der Cowboy Preston, der von einer eigenen Farm träumt, befreit. Schließlich, nach einigen Jahren auf der Farm, die Preston aufgebaut hat, zieht Honora mit dem Eingeborenen Joseph weiter, der dem Stamm der Cayuse angehört, allerdings wie ein Verstoßener allein durchs Land zieht. Vielleicht ist das der Grund, weshalb Honora sich bei ihm wohl fühlt. Vielleicht kommt es darauf aber zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens auch gar nicht mehr an.
Dies ist das grobe Handlungsgerüst, doch liegt die eigentliche Kunst dieses Romans in der Art und Weise, wie die Autorin ihre Hauptfigur zu sich selbst kommen, sie gleichsam zu einem denkenden, reflektierenden Subjekt in einer – und damit in der – Geschichte werden lässt. Aber um das zu werden, braucht es Sprache. So ist dies auch und vor allem ein Buch über Sprache. Ein von pociao und Roberto de Hollanda übrigens gut übersetztes. In Irland kann die einfache Landbevölkerung, zu der Honora und die ihren zu zählen sind, kaum mit der englischen Besatzungs- und Verwaltungsmacht, die zugleich die Herrschaft stellt, kommunizieren, da die Engländer kein Irisch, die Iren kaum Englisch sprechen. Und die meisten Menschen in Honoras Umgebung sind des Lesens und Schreibens nicht mächtig. Das ist bei der Hauptfigur anders. Denn Honora, die unter einem schlechten Stern geboren wurde, da, während sie zur Welt kam, ein Rotkehlchen ins Haus flog – das wird in Irland, zumindest in jenem Teil Westirlands, in dem Honora zuhause ist, als piseog, als Fluch, betrachtet – ist ein ausgestoßenes Kind, das früh Lesen und Schreiben erlernt, da es nicht viel hat, womit es sich sonst beschäftigen kann. Sie verbringt allerdings viel Zeit allein im Wald, lernt das Leben in der Wildnis kennen und dabei auch, wie man in ihr über-lebt. Und sie fängt früh an, mit sich selbst zu sprechen. In diesen Selbstgesprächen, die oft zu Selbstbefragungen und Selbstbelehrungen ausarten, wird sich Honora ihrer selbst immer klarer, begreift sie immer deutlicher, wer sie ist, aber auch, in was für einer Welt sie lebt. Sie kommentiert ununterbrochen, was ihr widerfährt und lernt daraus, wenn auch auf drastische, oft tragische Art und Weise.
So gebiert sie während eines Marsches zum Landhaus der britischen Herrschaft in Irland ein Kind. Sie hat – aufgrund des ständigen Hungers, aufgrund der prekären Lebenssituation – von der Schwangerschaft nichts bemerkt. Als sie wieder bei Kräften ist, nach Tagen in einer Höhle, muss sie feststellen, dass praktisch jeder aus ihrem Dorf Hungers gestorben ist, auch ihr Mann. Dieser historisch verbürgte Marsch ist als „Tragödie von Doolough“ in die Annalen eingegangen. Er ist der Ausgangspunkt für O´Mahonys Schreiben, wie sie in einem Nachwort selbst erklärt. Honoras Geschichte ist also einerseits exemplarisch, war die große Hungersnot der späten 1840er Jahre doch maßgeblich mit verantwortlich dafür, dass viele, viele Iren sich auf den Weg nach Amerika machten, andererseits versteht es die Autorin, von einem höchst individuellen Schicksal zu erzählen.
Honora wird zu einer früh-feministischen Figur, die sich erst die Welt erklärt, dann sich selbst, schließlich ihre Mitmenschen und die zusehends begreift, dass ihr Ort in dieser Welt und unter, respektive zwischen diesen Menschen, maßgeblich von ihrem Frau-Sein geprägt und bestimmt wird. Ihr Leidensweg geht weiter. In New York muss sie erneut erfahren, was es bedeutet, unsichtbar zu sein in einer Welt, in der das Individuum lediglich in seiner Funktion – hier als Haus-Mädchen, also dezidiert erneut als Frau – wahrgenommen wird; später, schon im Westen, erlebt Honora, wie sie von einem Mann zu einem reinen Objekt degradiert wird, als er sie zwingt, in einem Bordell zu arbeiten. Nicht nur hier, in einem de facto rechtsfreien Raum (als den man sich den amerikanischen Westen in den 1850er Jahren unbedingt imaginieren sollte), erlebt sie mehrfach Situationen, die heutzutage als Vergewaltigung bezeichnet würden, zu ihrer Zeit als vollkommen normale Transaktionen, Handlungen zwischen Männern und Frauen betrachtet wurden. Von denen sie aber weiß, dass es keine „richtigen“ Handlungen sind, sondern Demonstrationen der Macht, Unterdrückungsgesten, die sie als Irin, die die britische Herrschaft erben musste, eindeutig zu identifizieren weiß.
Immer wieder schildert O´Mahony Szenen, die kaum zu ertragen sind, während man sie liest. Sei es die Geburt des toten Kindes; sei es die Krankheit, die Honora durchlebt; sei es ihr Zusammentreffen mit Alice, einer als Hexe betrachteten Frau in ihrem Heimatort; seien es die Eindrücke von der Überfahrt nach Amerika, die für eine junge Frau, die das Meer schon gesehen haben mag, nie aber auf ihm war, umgeben von reinen Wassermassen, die ihr auch nicht behagen, überwältigend gewesen seien müssen; seien es die Begegnungen in New York oder aber später im Bordell weit, weit im Westen – immer wieder führt uns O´Mahony vor Augen, wie fragil das Leben damals gewesen ist und wie bedrohlich eine Welt gewirkt haben muss, die vom County Mayo im äußersten Westen Irlands aus betrachtet riesig, schier überwältigend, nicht begreifbar gewesen sein wird.
All diese Szenen, diese Eindrücke sind eindringlich, gelegentlich brutal, oft auch mit großer Poesie, zugleich aber auch seltsam nüchtern, fast distanziert beschrieben. Eine Distanz, die durch Honoras ebenfalls distanzierten Blick auf sich selbst und das, was ihr geschieht, gedoppelt wird. Es ist schon ein feines literarisches Kunststück, wie hier von einer Selbstwahrnehmung ausgehend berichtet wird, die schließlich zu Selbstermächtigung führt und darüber hinaus zu einer im wahrsten Sinne des Wortes Ich-Werdung. Schließlich muss sich Honora ihrem Schicksal insofern stellen, als dass ihre Vergangenheit sie auch auf der Farm einholt. Jener Mann, der sie einst zur Prostitution zwang, ist ihr gefolgt und fordert Rache. Diese Begegnung, diese Konfrontation eskaliert in einem nahezu kathartischen Akt der Gewalt, an dem Honora ebenso beteiligt ist, wie Preston, ihr Mann, und Joseph, mit dem sie schließlich in die Weiten des Landes verschwinden wird. Dieses Verschwinden – into the great wide open – ist dann ein klarer Akt der Selbstbehauptung:
„Ich wollte immer jemanden, der zu mir sagt: Lass uns gehen, dachte sie. Tja, Honora, sagte sie sich, lass uns gehen! Und dann ging sie.“ (S.357)
Was hier natürlich ebenfalls miterzählt wird, ist eine Geschichte Amerikas, wie sie lange Zeit gern vergessen, oft regelrecht unterdrückt wurde. In Zeiten wie diesen, in denen die Vereinigten Staaten von Amerika in gewisser Weise noch einmal auf ihren Ur-Gehalt heruntergebrochen werden, wenn sie einen Hang zur kulturellen, ökonomischen und auch physischen Brutalität entfalten, der nach den Erfahrungen und den Exzessen des 20. Jahrhunderts kaum mehr für möglich gehalten wurde, ist es wahrscheinlich dringend nötig, genau aus dieser Perspektive zu erzählen. Denn unter einem Präsidenten Trump und jenen Männern (vornehmlich Männer, ein paar Damen sind auch dabei), die er um sich schart, soll offensichtlich erneut das Narrativ eines WASP[1]-Amerikas, eines christlich-protestantischen, weißen, männlich dominierten Landes etabliert werden. Diesem Narrativ ist unbedingt jenes entgegen zu halten, das von denen erzählt, die ihm immer schon zum Opfer fielen. Allen voran natürlich die indigenen Völker, die einmal mehr vergessen werden sollen, aber eben auch jedwede Minderheit, die in diesem Land unterjocht wurde: Schwarze (auch, wenn sie hier nicht vorkommen), Mexikaner (die ebenfalls nur am Rande Erwähnung finden), Katholiken etc. Und eben Frauen. Honora steht mit ihrer höchst eigenen Geschichte für all jene, die nicht in die gängigen Schemata passen, sie wird zu einem sehr eigenwilligen Beispiel für jene, die in diesem weiten Land irgendwie auch eine Zukunft gefunden haben, allerdings weit ab dessen, was gemeinhin als „amerikanischer Traum“ definiert wird.
Das Land, in dem dieser Roman größtenteils spielt und von dem er handelt, ist ein Land, das auf Gewalt, Rassismus, Unterdrückung und Sexismus aufgebaut wurde. Aus diesem Land, so könnte das Fazit hier lauten, konnte letztlich nie etwas wirklich Gutes erwachsen, sind doch schon seine Grundparadigmata falsch. All seine hehren Versprechen gründen auf falschen Annahmen, falschen Prämissen und von allem Anfang an auf Exklusion. Und eben – immer wieder und immer wieder – auf Gewalt. Gewalt gegen Schwächere, Gewalt gegen Flora und Fauna, Gewalt gegen das Land und letztlich – in der Figur des Preston wird dies sehr genau und wie nebenbei mit-erzählt – immer auch Gewalt gegen sich selbst.
Der Mythos vom Pionier, vom Siedler, der gegen sich und die seinen so hart war, wie gegen das Land und dessen Bewohner, der Mythos, der vor allem durch Hollywood jahrzehntelang aufgebaut und befeuert wurde, dieser Mythos ist genau das, weil er exakt das erledigt, was Mythen immer erledigen: Sie vertuschen, sie verbrämen, die verbiegen, was ehrlich erzählt immer auch eine Erzählung vom Schmerz wäre, der in all dem steckt. Ein Roman wie dieser, der vom Leiden in der alten Welt erzählt und davon, wie dieses Leid sich recht unverfälscht in der neuen Welt fortsetzte, trögt auf seine Weise dazu bei, den Mythos aufzuweichen und zu durchlöchern. Und bastelt gerade mit den letzten Bildern, die er in die Fantasie der Leser*innen pflanzt, doch schon auch an einem neuen Mythos: Dass dieses Land auch den Outlaws, den Verlorenen, den Loosers und Gamblers, wie Bruce Springsteen sie besingt, immer eine Chance geboten hat, zu entkommen. Und dass dieser Mythos geboren wird aus der Zusammenkunft einer verstoßenen Frau und eines sich seinem Stamm entfremdet habenden Indigenen. Auch darin steckt die Hoffnung auf eine Utopie. So ist dies letzten Endes auch das Eingeständnis, dass dieses Land immer wieder neue Träume und Hoffnungen gebiert.
Zu guter Letzt sollte darauf hingewiesen werden, dass SING, WILDER VOGEL, SING aber eben auch eine ebenso traurige wie schöne Ballade über eine Verliererin der „großen“ Geschichte ist, die sich gegen ein Schicksal stemmt, wie es einer Frau wie ihr in ihrer Zeit zugedacht war. Honora ist nicht einverstanden – und in ihrer nüchternen Art, mit ihrem distanzierten Blick auf die Welt, nutzt sie die reine Vernunft, um sich einen Platz zu erobern, nicht in der Gesellschaft, die lässt sie hinter sich, aber im Da-Sein, im Leben, in der Weite des Westens, der so unendlich viel Raum verspricht. Durch sich selbst und das bedeutet: Durch die Sprache.
[1] WASP – White Anglo-Saxon Protestant.