SPOOK STREET – EIN FALL FÜR JACKSON LAMB/SPOOK STREET
Der vierte Band der Reihe um die "Slow Horses" vertieft die Geschichten und die Charaktere
Jackson Lamb und seine „Slow Horses” sind zurück! Im vierten Teil seiner Serie kapriziert sich Autor Mick Herron auf einen einzigen Tag, an dem sich die Ereignisse im und um den MI5, den britischen Inlandsgeheimdienst, einmal mehr überschlagen. Nach einem fürchterlichen Anschlag auf einen Flashmob, bei dem Dutzende junge Menschen starben, sind sämtliche Dienste im Ausnahmezustand. Selbstredend werden den Versagern im Slough House, die hier mit niederen Arbeiten gequält werden, nachdem sie alle an irgendeinem Punkt ihrer Karrieren kaum entschuldbare Fehler gemacht haben, auch diesmal nur Aufgaben zugeteilt, deren Ergebnisse im Grunde niemanden interessieren. Und wie wir es mittlerweile gewohnt sind, werden sie – eher durch Zufall, denn durch ambitionierte Arbeit – einmal mehr in die Geschehnisse hineingezogen und müssen schließlich über sich hinauswachsen, um den Aufgaben, die sich stellen, gerecht zu werden. Derweil versucht River Cartwright, ein „Slow Horse“ der ersten Stunde, den Geheimnissen seines Großvaters auf die Spur zu kommen, was ihn nach Frankreich führt, wo er schließlich nicht nur mit einem fürchterlichen Programm des MI5 konfrontiert wird, sondern auch mit seiner eigenen Geschichte.
Herron bietet wieder urkomische Dialoge, erneut werden wir Zeugen der dunklen Machenschaften nahezu aller Beteiligten im Dienst, einmal mehr wird dem Leser vor Augen geführt, daß nichts so gefährlich für die „nationale Sicherheit“ ist, wie der eigene Geheimdienst. Doch diesmal nimmt der Autor die internen Intrigen etwas zurück. Der Innenminister, der im dritten Teil – kaum verhüllt als eine Karikatur von Boris Johnson zu identifizieren – noch eine Art Staatstreich plante, und die Leiterin des Dienstes, Dame Ingrid Tearney, haben ihren Hut genommen und sich ins Privatleben zurückgezogen, die stellvertretende Direktorin Diana Taverner, übergangen bei der Neu-Besetzung des Chef-Postens, spinnt weiterhin ihre gewohnten Netze, stellt Fallen und intrigiert gegen nahezu alles und jeden. Nichts Neues also. Im Slough House selbst sind neue Mitarbeiter eingetroffen und auch diesmal wird es einen von den alten Recken erwischen, wenn die gammelige Bude, in der Lamb und seine Lämmchen untergebracht sind, von einem Profikiller angegriffen wird. Und zum Glück gelingt es Lamb auf seine unnachahmliche Art, auch seine Sekretärin Catherine Standish, die zum Ende des Vorgängerbandes gekündigt hatte, zurückzuholen. Wie immer wird auch hier wieder viel gefurzt und gerülpst, Lamb beleidigt jeden um sich herum und verdeutlicht wie immer, wer hier Koch, wer Kellner ist.
Und doch ist einiges anders in diesem Band. Denn Herron greift mit dem Selbstmordattentat zu Beginn des Buchs auf ein Szenario zurück, welches Europa, auch Großbritannien, in den vergangenen Jahren als wahre Bedrohung kennen gelernt hat. Er trägt der Tragik Rechnung, auch wenn er einmal mehr zeigt, wie nahezu jedes Ereignis, egal wie viel Elend und Leid es mit sich bringt, von Zynikern und Machtmenschen zum eigenen Vorteil genutzt wird. Doch gibt es Szenen – und die sind auch auf anderer Ebene sehr interessant – in denen bspw. Lamb einem Gegenüber deutlich zu verstehen gibt, daß der Spaß auch für ihn an diesem Punkt vorbei ist. Keine abfälligen Sprüche über die Opfer, kein Zynismus seinerseits. Dadurch gewinnt diese Figur noch deutlicher an Kontur, wird differenzierter, vielschichtiger. Dieser Typ, ein waschechter Veteran des Kalten Krieges, der offenbar mehr Geheimnisse mit sich herumträgt, als die ganze Chefetage des Dienstes zusammen, ist in all seiner barocken Widerwärtigkeit eben auch ein tragischer Charakter. Er ist ein Fossil, ein Dinosaurier. Er entstammt einer Zeit, in der das Spiel der Dienste ein wirklich geheimes, verborgenes war, als Agenten noch „im Feld“ standen und dort durchaus ihr Leben ließen, irgendwo verscharrt und vergessen wurden. Nun ist die moderne Zeit der Analysten angebrochen, der Schreibtischhocker, welche Material und Informationen an Rechnern verarbeiten und kaum mehr wissen, was es bedeutet, Material und Informationen vor Ort zu beschaffen. Analog.
Auch den Themenkomplex um Cartwrights Großvater, einst graue Eminenz des Dienstes, nie selbst Chef, aber immer derjenige, bei dem die Fäden zusammenliefen, jetzt ein zusehends durch eine Altersdemenz verwirrter alter Mann, nimmt Herron ernst und gibt die Figur nicht der Lächerlichkeit preis. Daß düstere Geheimnisse ans Tageslicht kommen, weil der Geheimnisträger langsam wirr wird, dürfte sich Herron von Martin Suter abgeschaut haben, der dieses Szenario nahezu genial in seinem Roman SMALL WORLD (1997) durchspielte. Hier hat es natürlich eine andere Dimension, denn der „Old Bastard“, wie River seinen Großvater liebevoll nennt, trägt wirkliche Staatsgeheimnisse in sich – was River und auch Lamb auf die nicht abwegige Theorie bringt, daß es der MI5 selbst sein könnte, der dem ehemaligen Mitglied der Führungsebene nach dem Leben trachtet. Dies nämlich ist der Ausgangspunkt der Geschehnisse dieses Bandes: Im Haus von David Cartwright wird die Leiche eines Mannes gefunden, der River Cartwright zum Verblüffen ähnelt und von Lamb auch als River Cartwright identifiziert wird. Natürlich ahnt der alte Fuchs zu diesem Zeitpunkt bereits, daß hier etwas im Argen liegt.
Herron beweist im vierten Teil seiner Agentensaga einmal mehr – und deutlicher als in den Vorgängerbänden – , daß es ihm gelingt, das Komische mit dem Tragischen zusammenzuspannen und sprachlich das schwierige Manöver zu bewerkstelligen, das eine nie gegen das andere auszuspielen, sondern eins im andern aufscheinen zu lassen. Daß das auch auf Deutsch funktioniert, ist einmal mehr den Übersetzungskünsten Stefanie Schäfers geschuldet, die auch diesen Band kongenial ins Deutsche übertragen hat. So bleibt es immer unterhaltsam, Tempo und Spannung stimmen und, wie immer, gibt es hier nicht ein Wort zu viel, ist die Konstruktion des Ganzen auf den Punkt getimt. Großartige Unterhaltungsliteratur!