TRAUMLAND. DER WESTEN, DER OSTEN UND ICH

Adam Soboczynski entführt den Leser recht launig in die 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts und wirft ein Schlaglicht auf eine erst westdeutsche, dann gesamtdeutsche Kindheit und Jugend

Spannend ist immer der Blick aufs Eigene von außen. Nun kann man Adam Soboczynski nicht wirklich nachsagen, noch von außen auf ein Land zu schauen, in das er bereits in frühen Lebensjahren gekommen ist; doch immerhin brachte der polnische Autor und Journalist, als er im Alter von sechs Jahren nach Deutschland kam und mit seiner Familie im Raum Koblenz – also in der allertiefsten westdeutschen Provinz – landete, doch die Erfahrung des äußersten Ostens, der tiefsten polnischen Provinz mit – und somit einen maximalen Gegenentwurf, ein absolutes Bild des Widerspruchs zu dem, was er in den 80er Jahren im Lande Helmut Kohls vorfand. Aus einer Welt kommend, in der von Eseln gezogene Karren auf den Straßen entlang zockelten, wo es im Winter brutal kalt und in den wenigen Sommermonaten auch mal brutal heiß werden konnte, wo man nachts durch den Garten schlich, um die Außentoilette zu nutzen und wo die Alten ununterbrochen die Öfen, einzige Wärmequellen in langen Wintern, befeuerten und mythenbeladene Geschichten erzählten, musste ihm, musste seiner Familie dieses Land im Westen, das Land des Überflusses, der Etagenheizung und des warmen Wassers, welches aus Hähnen kommt, wie das titelgebende TRAUMLAND (2023) erscheinen.

Unterschrieben mit der Zeile „Der Westen, der Osten und ich“ wird also schon auf der Titelseite deutlich, dass man es hier mit einer sehr subjektiven Betrachtung der Gegenwart durch das Prisma dieser spezifischen Vergangenheit zu tun hat. Und zugleich bekommt man eine äußerst launige Aufbereitung jener Jahre, in denen man – obwohl um einiges älter als der Autor – selbst noch jung war und einige seiner wesentlichen Erfahrungen machte. Denn auch das bietet Soboczynski ebenso launig wie auch – manchmal – ein ganz klein wenig melancholisch, nie sentimental und immer mit einer gehörigen Portion Witz: Einen wilden Ritt durch die 80er Jahre und einen ebenso aufschlussreichen wie gelegentlich ernüchternden Besuch in den 90ern, dieser Dekade der Ironie und Uneigentlichkeit, in der die postmodernen Saaten, die in den 70er und vor allem den 80er Jahren (man bedenke, die britische New-Wave-Band Scritti Politti hatten tatsächlich einen kleinen Hit mit dem Titel Jacques Derrida, der zumindest teilweise einem der führenden philosophischen Köpfe jener Jahre huldigte) gelegt worden waren, aufgingen und zu voller Blüte kamen – mit allen Vor- wie Nachteilen.

Manches ist fast vergessen, bei Vielem fühlt sich der Leser im richtigen Alter ertappt, auch dabei, wie lächerlich manches anmutete, wie ernsthaft anderes, das heute erst in voller Bedeutung in unser Bewusstsein dringt – bspw. die Krise der Umwelt und wie wir damit umgehen sollten. Man muss schon mal herzlich lachen, wenn Soboczynski die unterschiedlichen Lehrertypen definiert – die Kumpel und die Strengen – und daran einen empfundenen Kulturkampf jener fernen Zeit – wir reden von der Mitte der 80er – festmacht, von dem man später nur feststellen konnte: Sie wollten letztlich schlicht dasselbe, diese unterschiedlichen Typen. Sie wollten gefestigte, kritische, selbstdenkende Wesen, die sich kein X für ein U vormachen ließen und damit kleine demokratische Bollwerke für das „Nie wieder!“ wurden. Denn das Erschrecken über die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ganz so junge deutsche Vergangenheit und seine Spätfolgen – zu bestaunen in den diversen „Ausländer raus“-Graffiti an innerdeutschen Hauswänden – war echt. Und auch ein Junge wie Adam, der ja aus einem Land kam, das fürchterlich unter dieser Vergangenheit gelitten hatte, konnte dieses Erschrecken teilen, konnte diese neue Heimat insofern zu seiner eigenen machen, dass es ihm möglich war, sich nicht nur die kulturellen Errungenschaften anzueignen, die ihm gefielen, sondern eben auch diese Vergangenheit und ihre Verpflichtungen.

Und so klar und in den Formulierungen scheinbar freundlich und zugewandt Soboczynski meist formuliert, sollte der Leser doch nicht glauben, da steckte nicht auch Scharfes drin. Dann kommen Sentenzen wie diese zustande und das Lachen bleibt einem im Halse stecken:

Ich war nicht nur in einem reichen und soliden, sondern auch sehr versachlichten Land angekommen, in einem Land, in dem die Menschen sich jedenfalls nicht ständig drücken und küssen, sich nicht ständig bekreuzigen und mit Weh- und Lustlauten den Himmel beschwören. In einem Land, in dem beim Abendessen Familien manchmal nur kauen und schweigen, als laste ein Menschheitsverbrechen auf ihnen.“ (S.53)

Es ist also keinesfalls so, dass Soboczynski einfach nur einen freundlichen Blick auf dieses Deutschland wirft, das teils vergangen, teils nach der Wiedervereinigung in einem größeren, neuen und mitunter befremdlichen und gar bedrohlichen Deutschland aufgegangen ist. Vielmehr bietet er denen, die in diesem Land geboren wurden – und hier muss man tatsächlich einmal dezidiert von jenen sprechen, die so gern als „Wessis“ tituliert werden, jenen, die in diesem mittlerweile auch fernen Land namens „BRD“ geboren wurden und aufwuchsen – auch einen anderen Blick auf diese Wiedervereinigung und auf das, was da auch, man mag es kaum glauben, über sie hinweggerollt ist in den Jahren nach 1989/90. Denn seien wir ehrlich – so sehr der Osten eine Erfindung des Westens sein mag, so sehr war der Westen eben auch eine Erfindung des Ostens und das neu entstandene Deutschland, dieses Land ist eine Projektion aus beiden Landesteilen, oder, vielleicht besser, und auch daran erinnert Soboczynski immer mal wieder: Aus all diesen vielen, vielen Einzelteilen, die dieses Deutschland ausmachen. Denn einheitlich war es schließlich, auch wenn die, meist reaktionären, manchmal wahrlich völkisch-nationalistischen Kräfte von rechts es so unbedingt wollen, einheitlich war es nie. In seiner ganzen Geschichte nicht. Und wenn Einheitlichkeit zustande kam, dann wurde sie zumeist gewaltsam erzwungen.

Wie dem auch sei, Adam Soboczynski bietet hier eine kleine, sehr kluge, sehr belesene Geschichte eines Deutschlands in jenen Jahren, bevor und nachdem es eine fundamentale Wandlung durchlief, die für einen kurzen Moment als Geschenk und danach fast nur noch als Belastung wahrgenommen wurde. Er zieht eine lange Linie zu den gegenwärtigen Konflikten, vor allem jenem Krieg gegen die Ukraine, den das Russland unter Wladimir Putin im Februar 2022 begann und der andauert. Und wir verstehen, dass bei aller launiger Formulierungskunst ein sehr, sehr ernstes Anliegen hinter all dem steckt. Denn Soboczynski erinnert uns mit seinem Ritt durch eine Jugend in den 80ern und den feierfreudigen 90ern eben auch daran, was wir zu verlieren haben. Die Freiheit nämlich, die das alles möglich machte. Den Liberalismus, den auch er und seine Familie, die aus diesem sehr konservativen, sehr katholischen Polen der 70er und 80er Jahre hier hinkam, erlernen mussten. Den Pluralismus, in welchem ein jeder nach seiner Fasson, um dieses große Wort des auch bei den Konservativen so beliebten Königs von Preußen zu bemühen, bisher hat leben können. Und mit seinen immer wieder eingestreuten Exkursen in die Literaturwissenschaft – immerhin Kernpassion des Autors – kann Soboczynski sogar ein wenig ketzerisch einige Mythen enttarnen, die uns hier und heute so gern von rechts aufgetischt werden: Bspw. diese ominös tiefe osteuropäische, vor allen den Russen in ihrer Literatur zugeschriebene, Seele, der wir Deutsche angeblich so viel verwandter sind als all dem angelsächsischen Mist in seiner zivilisatorischen Oberflächlichkeit. Ja, man lese noch einmal nach bei Milan Kundera. Da tut sich bei Soboczynski wirklich eine andere, vor allem besser gelaunte Perspektive auf diesen ganz neuen Ost-West-Konflikt auf.

Man lese also dieses kurze Bändchen und erfreue sich entweder an diesem Besuch in der eigenen Kindheit, Jugend und Adoleszenz, oder aber finde hier einen Gegenentwurf gegen all die schlecht gelaunten, humorbefreiten Betrachtungen der Gegenwart. Dann nämlich kann man lernen: Es geht auch anders!

 

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