DER OSTEN: EINE WESTDEUTSCHE ERFINDUNG
Dirk Oschmann schlägt zurück!
Tja, da sitzt man also vor Dirk Oschmanns Langessay DER OSTEN: EINE WESTDEUTSCHE ERFINDUNG (2023) und fragt sich, was man nun damit anfangen soll? Einerseits könnte man das Büchlein einfach zur Seite legen und sich sagen: Nee, mit dem Thema hab ich mich nun endlos lang beschäftigt und ich habe eine eigene, sich ständig wandelnde Meinung, nun ist es einfach mal gut. Es nervt. Andererseits trifft, was Oschmann an vielen Stellen schreibt und beschreibt, dann aber doch einen Nerv und man will reagieren. Aber müsste man dem Autor nicht schreiben und die direkte Auseinandersetzung suchen? Zumal Oschmann, Jahrgang 1967, in die eigenen Alterskohorte (Jahrgang 1969) fällt und man sich ja durchaus auch auf ganz anderen Ebenen als der des „Wessis“ und des „Ossis“ treffen könnte? Immerhin teilt Oschmann – er ist Professor für Literaturwissenschaft und Fußballfan – auch andere Interessen, die man selber hegt. Dirk Oschmann nimmt für sich Subjektivität in Anspruch, erklärt seine aufgestaute Wut nach all den Jahren im westdeutsch definierten System zum Movens seines Schreibens. Also müsste man doch im Grunde genau so subjektiv antworten und gnadenlos radikal von sich selbst ausgehen. Stellt sich die Frage: Kann man auf dieses Buch eigentlich im Kontext einer Rezension reagieren?
Vielleicht kann man ja mal mit einer nicht ganz naheliegenden, aber umso bedrückenderen Feststellung beginnen: Was auch immer Dirk Oschmann schreibt – wie gut und elegant er es auch schreiben mag – und wie sehr man sich durch ihn ertappt, erkannt oder verprellt fühlt, definitiv lässt sich anhand seins Buchs einmal mehr feststellen, wie der Diskurs – oder besser: die Diskursempörung – in der deutschen Medienlandschaft so funktioniert. Denn Oschmann schreibt unglaublich viel Treffendes, Kluges, Erhellendes und Nachdenkliches (nachdenklich Machendes) und ab und an auch etwas Verprellendes – aber im öffentlichen Diskurs finden eigentlich nur diese Stellen statt, die dazu geeignet sind, vor allem „Wessis“ vor den Kopf zu stoßen. Womit der Autor eins seiner Ziele schon erreicht haben dürfte. Denn die „Wessis“ springen nun genau auf das an, was Oschmann selbst bewusst als indifferent, undifferenziert und auch beleidigend bezeichnet. Auf all die vielen, vielen Zwischentöne, die er ja eigentlich vermeiden wollte, wie er mehrmals betont, weil es schon so viele Studien und ausdifferenzierte Betrachtungen und Analysen gegeben habe, auf all dies wird natürlich kaum mehr geachtet. Es zieht, was zuspitzt. Kennt man ja aus ganz anderen Zusammenhängen.
Natürlich trägt zur Bewertung eines Buches wie diesem bei, dass, bevor man es gelesen hat, die scheinbar entscheidenden Thesen bereits viral gegangen und Gegenstand der allgemeinen Betrachtung geworden sind. Man hat den Autor in Dokumentationen und Talkshows gesehen, hat sich ein Bild gemacht und geht voreingenommen an die Lektüre heran. Aber man muss schon offenbleiben, um sich überraschen zu lassen. Wenn das gelingt, dann wird man allerdings mit einem ebenso interessanten wie aufschlussreichen Buch belohnt. Denn sein ist Buch voller Zwischentöne, auch wenn er das vielleicht nicht hören mag.
Von den neun Kapiteln des Buchs ist es vor allem das (zumindest als solches empfundene) Herzstück, Kapitel vier mit dem Titel DER >>OSTEN<<: ZUSCHREIBUNGSSPIELE UND ESSENTIALISIERUNGEN – übrigens auch das umfangreichste Kapitel dieses 200 Seiten umfassenden Texts – , welches Anstoß erregen dürfte. Hier finden sich auch die Formulierungen, die in den Besprechungen und Repliken am häufigsten auf- und angegriffen wurden. Angriffe gab es einige, da das Buch aus einem Artikel in der FAZ hervorgegangen ist, in dem Oschmann seine Thesen in verkürzter Form vorstellte. Vieles, was er bemängelt, stimmt jedoch und wurde auch zuvor schon sehr, sehr häufig benannt: Dass der Beitritt eine Übernahme war, dass Identitäten und Lebenswege gebrochen wurden, dass die Leistungen – sowohl die „harten“ Lebensleistungen als auch auch die „soften“ Leistungen, sich bspw. in einer Diktatur wie der DDR überhaupt eingerichtet haben zu können und dort ein Zuhause gefunden zu haben, gleich ob dies einem West-Menschen gefällt, oder nicht – ungewürdigt bleiben, wenn sie nicht gar negiert werden. Auch die wirtschaftlichen Fragen sind allseits bekannt: Die Treuhand hat das Land in einen Ausverkauf, hat eine nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft in einen (globalen) Wettbewerb getrieben und damit letztlich in den Bankrott. Vielleicht, so die große Verschwörungserzählung, die auch Oschmann anklingen lässt, um sich unliebsame Wettbewerber vom Hals zu schaffen bei gleichzeitig maximaler Markterweiterung. Natürlich stimmen auch all die von ihm aufgeführten der Wiedervereinigung folgenden Ungerechtigkeiten: Der Osten hat nichts geerbt, hat nichts zu vererben, also ist er volkswirtschaftlich gesehen immer im Nachteil; im Osten wird weniger verdient, sind die Renten niedriger, sind zu wenige DAX-Unternehmen ansässig; zu wenige Führungskräfte in deutschen Vorständen, aber auch in den Krankenhäusern, den Universitäten und den Kultureinrichtungen. Alles richtig. Und doch alles, eben differenziert betrachtet, schwierig so zu sehen. Allein beim Thema Treuhand wurden ganze Bücher gefüllt mit Vorwürfen und Entschuldigungen und der Frage, wie man es anders hätte machen sollen.
Dirk Oschmann, der sich offenbar sehr gut bei den französischen Theoretikern des Poststrukturalismus und den ihnen folgenden Denkern wie Jacques Rancière auskennt, greift auf das Konzept der „De-Identifizierung“ des letztgenannten zurück. Damit ist das Recht eines Individuums oder einer Gruppe beschrieben, eine Identifizierung radikal zurückzuweisen. In diesem Sinne beschreibt Oschmann also den Osten, wie er ihn wahrnimmt und, mehr noch, den Westen, wie er ihn erfahren hat. Er weißt radikal den Vorwurf, ein Jammerer zu sein, zurück, er weist jegliche Zuschreibung westlicher Couleur zurück und erhebt sein Haupt hier in Ermächtigung, indem er sehr dezidiert sich selbst als Subjekt ausformulierend ein Beispiel dafür gibt, wie ein 1989 junger Mann aus dem Osten seinen Weg suchte und welchen Gefahren – bspw. der Markierung als Ostdeutscher – er zu entgehen suchte, indem er die eigene Herkunft, sogar sein Idiom zuverbergen und anzupassen suchte.
Es ist natürlich richtig, dass „der Osten“ oftmals sehr verengt wahrgenommen wird, vor allem im Westen. Die (west)deutsche Medienlandschaft ging von Anfang an nicht zimperlich mit Ostdeutschland um, sei es das Satire-Magazin Titanic mit seinem legendären Gabi-Motiv, sei es der Spiegel, der erst vor einigen Jahren ein Titelbild brachte, das auf einen zugegeben etwas dümmlichen Herrn anspielte, der sich vor einer Kamera aufgespielt hatte und darunter titelte: So isser, der Ossi. Dann wiederum steht das Sächsische eben für „den Osten“, auch zu diesem Thema hat der Spiegel einst ein nahezu beleidigendes Titelbild gebracht. Sachsen seinerseits wird als „Osten“ des „Ostens“ betrachtet, wie Oschmann es in einem eigenen Kapitel herausarbeitet. Falsch ist hingegen Oschmanns Annahme, ein Bayer, ein Rheinländer, Schwabe oder Hamburger habe niemals das Problem, seine Herkunft zu benennen, ein Ostdeutscher jedoch müsse diese Herkunft immer erst einmal verstecken. Die Schwaben in Berlin werden sehr wohl als solche markiert – vor allem sprachlich – und teils sehr aggressiv angegangen; Bayern hatten in einigen Teilen Deutschlands in den 80er Jahren wenig zu lachen, hauptsächlich aufgrund ihres Idioms; Rheinländer mussten schon immer damit leben, dass Figuren mit einem breiten rheinischen Dialekt in Vorabendserien als dumm, mindestens aber ordinär verkauft wurden etc. Von Ostfriesen ganz zu schweigen.
Man könnte solche Vergleiche nun Satz für Satz, Seite für Seite durchgehen. Aber wozu? Natürlich ist es für jeden Menschen, der aus den auch nicht mehr „neuen“ Bundesländern kommt, etwas anderes, natürlich ist der Verlust von Heimat und damit Vertrautem weitaus umgreifender, als für irgendwen im Westen. Und natürlich ist es Oschmanns Recht, sich Luft zu machen und dabei auf die gleiche Weise intolerant, indifferent und seine Unwissenheit ausstellend zu zeigen, wie all jene, die er angreift. Nur bleibt Vieles deshalb eben dennoch falsch. Und sich ein Bild des Westens gemacht zu haben, das u.a. damit begründet wird, dass man das Westfernsehen hatte, ist eines Gelehrten wie Oschmann insofern unwürdig, da man ihm bei all seinen Kenntnissen moderner Theoretiker unterstellen darf, dass er auch die Medientheorien kennt – und also weiß, dass man sich überhaupt und niemals ein Bild eines anderen Landes durch das Fernsehen machen kann, nicht einmal, wenn man eine interessant gemachte Dokumentation sieht, erst recht nicht, wenn man KENNZEICHEN D zwischen der Rama-Werbung, Löwenthals ZDF-Magazin und der SCHWARZWALDKLINIK schaut. Das ist genauso unseriös, als sich bspw. ein Bild der DDR aus der Agentensause DAS LEBEN DER ANDEREN (2006) zurechtzuschustern. Die zu allem Unglück auch noch von einem Wessi inszeniert wurde.
Man müsste als Westdeutscher vielleicht mal selber den Stift in die Hand nehmen und mit einigen „Wahrheiten“ aufräumen, die sich auch bei Oschmann immer wieder finden. Im Westen war beileibe nicht alles Gold, was scheinbar glänzte. Es gab – und das war sicherlich ein maximaler Unterschied zu Ostdeutschland – starke Kräfte des Widerstands, als Linker oder Linksorientierter musste man sich nicht selten anhören, man solle doch „nach drüben“ gehen, wenn es einem hier nicht gefiele. Womit dann die DDR gemeint war. Gerade die 80er Jahre, von vielen heute als das chromglänzende Jahrzehnt von Nena und Neuer Deutscher Welle verherrlicht, waren auch eine graue Dekade, in der schon nach wenigen Jahren Kohlregierung ein Mehltau über dem Land lag. Es gab den NATO-Doppelbeschluss und sehr viel Angst vor einem möglichen nuklearen Totalkrieg, es gab massive Strukturwandel im Ruhrgebiet, wo viele, viele Menschen Angst hatten, ihre Arbeit und damit ihr gewohntes Leben zu verlieren (wer im äußersten Westen aufwuchs, dem „Westen“ des „Westens“ sozusagen, erinnert sich noch gut an die großen Demonstrationen der Bergleute und der Stahlarbeiter aus Duisburg und dem Ruhrpott), es gab ein Gefühl davon, auf einem Vulkan zu tanzen und so oder so nicht mehr viel Zeit zu haben. Und es gab, als uns im Frühjahr 1989 zunächst die Ereignisse vom „Platz des himmlischen Friedens“ aus Peking erreichten, große Sorge, was in der DDR passieren würde – zumindest, wenn man politisch wach war und den Entwicklungen folgte. Es gab aber auch viel Freude, als die Mauer fiel. Aber es stimmt – es gab wenige im Westen, die „Wir sind ein Volk!“ gerufen haben oder gerufen hätten. Vielleicht hatte das mit den heute von rechts allseits bejammerten Zersetzungserscheinungen nach einer sehr intensiven Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit zu tun. Ma war skeptisch gegenüber nationalistischen Tönen, ohne Frage.
Und was dann aber gerade in diesem Zusammenhang auch zur Wahrheit gehört, ist die Tatsache, dass schon damals viele die Wiedervereinigung so, wie sie sich schnell andeutete, für einen Fehler hielten. War man links, hielt man es lange mit den Dissidenten, die einen demokratischen Sozialismus für möglich hielten, die einen zweiten Versuch forderten, zumindest Entschleunigung, bevor man sich in das Experiment „Westen“ und „Beitritt“ wagte. Und viele im Westen waren skeptisch, was das Gelingen betraf. Oskar Lafontaine, der damals mutig gegen Helmut Kohl – mit dessen Bräsigkeit Westdeutsche nun einmal einen mehrjährigen Erfahrungsvorsprung hatten – antrat, benannte die Schwierigkeiten, wusste, dass die Wiedervereinigung viel, sehr viel kosten würde und keineswegs aus der damals gern bemühten „Portokasse“ zahlbar sei und der wohl auch ahnte, dass dies gesellschaftspolitisch ein Generationenprojekt werden würde. Oskar Lafontaine wurde für diesen Mut bei den Bundestagswahlen 1990 gesamtdeutsch abgestraft. Die Mahner von damals haben recht behalten und fühlen sich heute oftmals in den Senkel gestellt, weil sie – auch von Dirk Oschmann – in den Topf der Schreihälse, der Selbstgerechten und der alles mit ihrer Art niederwälzenden Westdeutschen gezählt werden.
Und dies gilt auch, was die „softe“ Annäherung zwischen Ost und West angeht. Viele sind in die neuen Bundesländer gefahren, haben gefragt, haben sich interessiert, wollten wissen. Und viele machten die Erfahrung, auf sehr verstockte Mitbürger zu treffen, die auf Fragen nicht gern antworteten (was man sich dann mit Stasi-Erfahrung erklärte) und sich selber kaum bis gar nicht interessierten für die Erfahrungen, die Menschen im Westen in diesem nun wiedervereinten Deutschland gemacht hatten.
Wie so häufig liegt die Wahrheit wahrscheinlich in der Mitte: Selbst die Treuhand ist nicht des Satans, da es schlicht keine Blaupause, kein Vorbild dafür gab, wie man zwei so unterschiedlich sich entwickelnde Länder, zwei so unterschiedliche Wirtschaften, in eins bringen sollte; viele Ostdeutsche wollten sofort und unmittelbar die D-Mark, auch entgegen aller Warnungen, dass dies niemals in einem Kurs 1:1 und auch nicht 1:2 machbar sei, viele wollten die Westwaren und ließen die bisherigen Ostwaren, denen einige heute so offen nachweinen, links liegen; viele Westler nutzten diese Unwissenheit und teils Naivität ihrer neuen Landsleute eiskalt aus und machten ihr Geschäft; es wurde verpasst, Volksvermögen herzustellen – bspw. indem man jedem die Wohnung, in der er am Tag der Widervereinigung lebte, überschrieb – und ebenso wurde verpasst, der ökonomischen Vereinigung auch eine kulturelle, gesellschaftliche und soziale gleichzustellen. Letzteres interessanterweise ein Versäumnis, das so beim europäischen Vereinigungsprozess ähnlich verpasst wurde, doch ist das ein anderes Thema. Der Osten wollte in den Westen und der Westen wollte, dass die Nummer möglichst glatt und ohne zu stören über die Bühne ging. Beides maximale Falschannahmen, deren Konsequenzen eben heute erst wirklich zu Tage treten.
Oschmanns Buch ist interessant und sollte als Begleitung zu all den differenzierten Studien, die er anführt, gelesen werden. Gerade die späteren Kapitel zur Sprache, zu Texten und zur Kunst sind lesenswert und rufen gelegentlich ebenfalls starken Widerwillen hervor, erzeugen Reibung und sind damit natürlich willkommene Diskursbeiträge. Allerdings sollte DER OSTEN: EINE WESTDEUTSCHE ERFINDUNG nicht anstatt der Studien und differenzierten Texte gelesen werden. Denn dann entstünde erneut ein sehr falsches, weil schiefes Bild.
Eine letzte Anmerkung zum Titel des Buchs: Es ist lustig, da gerade dieser Rezensent, der aus persönlichen und familiären Gründen schon mit der DDR beschäftigt gewesen ist, lange, bevor vom Sturz der Mauer auch nur zu träumen war, sehr, sehr häufig dachte, dass der Westen, wie er ihm im Osten begegnete, eine reine Erfindung eben jener Ostdeutscher sei. Vielleicht gehört das einfach dazu: Wir machen uns, wider besseres Wissen, ein Bild voneinander, oder Bilder, und die sind oft vollkommen überzeichnet, falsch und häufig auch zynisch. Wir erfinden uns gegenseitig und arbeiten uns dann jahrelang an den Klischees und (falschen) Bildern ab, die wir voneinander im Kopf haben. Ein Spiel könnte man meinen, ein Spiel der Zeichen und Signifikanten, um ein wenig in Oschmanns theoretischem Geläuf zu verweilen. Und dieses Spiel könnte sogar Spaß machen, wenn man bereit ist, dies alles nicht ganz so ernst zu nehmen. Dazu aber bedarf es einer Sache, die Oschmanns Buch bei aller Eleganz eklatant abgeht: Humor.