deutsch, nicht dumpf
Ein brillanter und bitter nötiger Debattenbeitrag von Thea Dorn
Dies – das sollte man einfach aller kritischen Auseinandersetzung voranstellen – dies ist ein gutes weil sehr, sehr kluges Buch. Es ist gelehrt, es ist gesättigt mit Information, es steckt voller genauer Überlegungen und es ist zudem in einem vielleicht manchmal belehrenden, doch immer dem Leser zugeneigten Ton geschrieben. Es ist ein Buch zur rechten Zeit, denn es setzt sich mit wesentlichen Themen einer Zeit auseinander, in der einerseits der Nationalismus an vielen Stellen in Europa wieder sein hässliches Haupt erhebt, andererseits eine immer stärker in die Defensive gedrückte bürgerliche Mitte gerade in Deutschland nicht mehr weiß, wie und wo sie sich positionieren soll. Die Schriftstellerin, Publizistin und TV-Moderatorin Thea Dorn legt mit deutsch, nicht dumpf einen „Leitfaden für aufgeklärte Patrioten“ vor, den es wohl bitter nötig hat. Und auch, wenn man während der Lektüre oftmals denkt: Ja, aber das weiß ich doch, das kenne ich doch alles, genau so sehe ich das doch auch!, tut es gut, noch einmal anhand einer Reihe von Kernfragen und zentralen Gedanken so deutlich, konzentriert und zugleich unaufgeregt eine Reflektion zu erhalten, was das eigentlich ist: Deutschland und das Deutsch-Sein.
Schon der Titel deutet an, und das erste Kapitel bestätigt, daß der Fixpunkt dieses Langessays – oder eben Leitfadens – natürlich die aktuellen Diskussionen sind, befeuert von den eben häufig dumpfen Einlassungen der Rechtspopulisten bis Rechtsextremisten der AfD, aber auch durch Aussagen wie die der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Aydan Özoğuz, die in einem Aufsatz für den Tagesspiegel behauptete, jenseits der Sprache sei schlicht keine deutsche Kultur auszumachen. Aber wenn es sie gäbe oder gibt – dürfte man sich dann in positiver Weise zu ihr bekennen? Oder kann, wie Dorn es vor allem – da ganz bei den aktuell sich konservativ Gebenden – auf der Linken verortet, sich, wer deutsch ist, nur in der Negation dessen definieren, was das 3. Reich in der deutschen Geschichte bedeutete? Müssen also immer der Holocaust, der 2. Weltkrieg, die Menschheitsverbrechen, die von Deutschen im Namen des Nationalsozialismus begangen wurden, als Fixpunkt allen Deutsch-Seins gelten?
In acht Kapiteln nähert sich Thea Dorn vor allem ausgesprochen belesen und kulturkundig dem Thema und umkreist dabei wesentliche Fragen: Was ist das denn nun, die deutsche Kultur? Gibt es die so umstrittene und oft diffamierte „Leitkultur“? Worin besteht Identität und wie definiert sie sich – oder ist sie in der Postmoderne längst zersplittert und ein Amalgam aus tausendundeiner mir meist von mir zugeschriebenen Eigenheiten und Eigenschaften, die das „Eigentliche“ ersetzen, weil es eine wirklich eigene Identität nicht gibt, nie gab, nie geben wird? Was macht sie aus, die „Heimat“ und wo finde ich sie? Kann Europa uns eine „bessere“ Heimat werden, ein besseres „Wir“ ausmachen, nachdem der Nationalstaat scheinbar abgedankt hat, historisch Hunderter schlimmer Verbrechen zwischen Krieg, Kolonialismus und Fremdenfeindlichkeit überführt? Oder bräuchte es dafür schon ein Weltbürgertum, den aufgeklärten, postmodernen Kosmopoliten, der sein fragmentiertes „Ich“ über die Kontinente jagt, immer auf der Suche nach Selbstverwirklichung? Und schließlich nähert Dorn sich den entscheidenden Fragen nach der deutschen Nation und dem Patriotismus und wie wir mit diesen so belasteten Begriffen umgehen könnten, wie wir uns ihnen frei nähern können und wie es uns gelingen kann, sie positiv zu besetzen, ohne daß wir dabei die Erinnerung oder gar Verantwortung für unsere jüngere Geschichte aufgeben.
Nach den oft im Ton von Dorn gewohnt leicht und durchaus ironisch gehaltenen ersten Abschnitten, geht sie schließlich in die Vollen. Während sich das Kapitel zur deutschen Kultur generell und jenes zur Leitkultur eindeutig auf aktuelle Diskurse beziehen und dabei auch deutliche Abgrenzungen, ja auch rote Linien, eingezogen werden, um die Maximaldistanz zu jenen Populisten zu markieren, die sich des Deutschen gerade so unbedingt bemächtigen und es zu einem Kampf-, Abgrenzungs- und Exklusionsbegriff verdichten wollen, beweist Dorn schließlich ihr weitgefasstes Wissen und ihr tiefgründiges Nachdenken über das, was Deutsch und was Deutschland ist. Sie setzt sich mit den deutschen Sonderwegen kultureller Prägung auseinander, jenem fatal kreierten Gegensatz von „Kultur“ und „Zivilisation“, der einst die Distanz des deutschen Idealismus zur französischen und angelsächsischen Kultur bedeutete und dem noch Thomas Mann zu Beginn des 1. Weltkrieges huldigte, reflektiert die Wahrnehmung der eigenen Kultur im Lauf der Jahrhunderte, findet gültige Abgrenzungen zu anderen Kulturen und Gesellschaften, die unserer doch ähnlich und verwandt sind und weiß dabei immer im Mittel zu bleiben, die radikalen Ränder auf die Plätze zu verweisen, ohne ihnen übermäßig viel Aufmerksamkeit zu widmen.
Mit Kant untersucht sie das „Weltbürgertum“ und stellt sich der Frage, ob die hochabstrakten Entwürfe des Königsbergers mit einer politischen Realität vereinbar sind, in der sie sozusagen einer harten Überprüfung standhalten müssen. Sie stellt sich den unterschiedlichen Entwürfen dessen, was eine „deutsche Identität“ sei und scheut auch nicht davor zurück, in jene Ecke zu gehen, wo es schmuddelig wird, wie bei den „Identitäten“. Und immer weiß sie ihre Überlegungen zu untermauern, ob mit den ebenfalls von einem Weltbürgertum träumenden Weimarer Großdichtern, ob mit etlichen bekannten und durchaus unbekannten Denkern der Aufklärung und des deutschen Idealismus, immer wieder mit Thomas Mann, an dem exemplarisch nicht nur einige der deutschen Besonderheiten in einem kulturellen Europa festzumachen sind – bspw. die Tatsache, daß die Deutschen nie wirklich gut waren, wenn es um Politik ging – , sondern auch die Wandelbarkeit, die Befähigung, eigene Fehler einzusehen und zu begradigen. Mann, der einst „Betrachtungen eines Unpolitischen“ anstellte und schließlich doch so manch wesentliches zur Demokratie und dazu zu sagen hatte, daß das Deutsche nicht neben all den Errungenschaften des Geistes wie der Technik eben auch in der Lage sei, das Schlimme zu gebären, sondern daß das eine zwangsläufig mit dem andern verbunden und es eine der vornehmsten Aufgaben eines Deutschen ist, diese Verbindung fürderhin genau zu beobachten, damit „das“ – und damit sollen umfasst sein die Schrecken des 3. Reiches – nie wieder geschehe. Und dankbar ist man der Autorin, wenn sie zu belegen weiß, daß einige derer, die heutzutage so gern als Zeugen herangezogen werden für die deutsche Sonderrolle – namentlich Wagner oder Nietzsche – entschieden keine Freunde des „eisernen Kanzlers“ Bismarck und seiner „Eisen und Blut“-Politik gewesen sind.
Mit Elias, Arendt oder Popper bis hin zu Zeitgenossen wie Andreas Reckwitz, dessen GESELLSCHAFT DER SINGULARITÄTEN seit einiger Zeit für Furore sorgt, weiß Dorn die Nachkriegsmoderne zu bedenken, die Brüche und Bruchlinien und auch zu erklären, warum es schlicht keine Alternative zu diesem besten, weil in der Demokratie angekommenen Deutschland geben kann. Oder zumindest geben sollte. Man muß als Leser nicht in allem zustimmen, manchmal ärgert man sich sogar. Gerade ihre Analyse, ein „Europa der Regionen“, wie es bspw. ein Robert Menasse einfordert, sei ein Hort neuer Nationalismen und Unruheherde und dabei den aktuellen Konflikt in und um Katalonien heranzieht, weil dieses „Europa der Regionen“ natürlich auch ganz anders denkbar wäre, als sie es hier verstehen will. Auch auf ihr Beharren, daß 1989/90 nichts anderes als der Weg denkbar gewesen sei, den die beiden deutschen Teilstaaten gegangen sind, will man Einspruch erheben – und hält dann doch inne, wenn sie schreibt, daß es selten bis nie zu Gutem geführt habe, wenn die Deutschen meinten, politisch „originell“ werden zu müssen. Und daß sie sich in Ostdeutsche hinein zu versetzen sucht, in deren Gefühlslage, als 2015 plötzlich mit den Flüchtlingen neue „Lieblinge“ im Spiel waren, auf die die Westdeutschen ihre Gutmenschlichkeit hätten projizieren können – das will man ihr momentweise sogar um die Ohren hauen, segelt sie doch verdammt nah an jener Kante, wo eine Gruppe gegen eine andere ausgespielt wird. Und dann ist man doch wieder froh, weil dieser Text an so vielen Stellen so richtig ist, auch so richtig im Ton, daß man sich schon bei unumwundener Bewunderung und Zustimmung ertappt.
Und genau das macht ein Werk wie dieses schließlich zu dem dringend nötigen Beitrag, der es ist – man kann, man muß sich an ihm reiben. In Ermangelung wirklich besserer und wirklich überzeugender Konzepte – und auch da stimmt man ihr schließlich zähneknirschend zu – sollten wir uns also auf die deutsche Nation besinnen, sollten uns eines ausgeprägten Verfassungspatriotismus´ befleißigen und dafür sorgen, daß diese erste wirklich überzeugende Demokratie auf deutschem Boden mit einer Verfassung, die im engeren Sinne keine ist und also als „Grundgesetz“ firmiert, unbedingt erhalten bleibt. Man darf der deutschen Kultur – in einem weiter gefassten, wie in einem engeren, sich wirklich auf Kunst beziehenden Begriff – durchaus huldigen. Man darf und sollte die Errungenschaften geistiger wie technischer Natur, die Deutsche vollbracht haben, bewundern, ja, man kann und darf sogar stolz darauf sein. Allerdings sollte man auch die Mühsal auf sich nehmen, sich wirklich damit auseinander zu setzen und Goethe, Schiller, Kleist, Bach, Beethoven oder Kant und Hegel nicht nur dann im Munde zu führen, wenn man sie gerade braucht, um das eigene Deutschsein zu verklären. Man sollte sein Erbe kennen, dann versteht man auch, wie wesentlich es zur europäischen Kulturgeschichte beigetragen hat. Aber man muß es eben auch kennen, um die Verwerfungen und Irrwege zu verstehen, die der deutsche Nationalismus, der mit Fichte und anderen einmal als Ausweg aus einer Viel- und Kleinstaaterei hin zu einem liberalen und freiheitlichen Deutschland begonnen hatte, warum die deutsche Gesellschaft als Ganzes, nahmen und wieso dies dann in die Vernichtungslager von Auschwitz, Treblinka oder Sobibor führte. Man stimmt der Autorin, die Gegensätze wie links oder rechts lange hinter sich gelassen zu haben scheint und sich auf ausgewiesene Liberale wie Ralf Dahrendorf ebenso beruft, wie auf einen Dolf Sternberger, einen Sozialisten wie Tucholsky, sich bei Robert Habeck wiederfindet und Kant verehrt, die die Romantik liebt und den Idealismus versteht und sich nicht scheut, durchaus wertkonservative Positionen zu beziehen, darin zu, daß in deutschen Schulen doch vielleicht immer noch eher ILIAS und ODYSSEE gelesen werden sollten, als Wolfgang Herrndorfs TSCHICK, schlicht deshalb, weil die ganze Schönheit des letzteren ohne die Kenntnisse der ersteren nicht zu erfassen sind.
Und ja, Thea Dorn hat auch recht, wenn sie verdeutlicht, daß die, die hier hin kommen, sehr wohl auch eine Aufgabe haben: Sich hier einem aufgeklärten, modernen, emanzipierten, freiheitlich-liberalen Begriff von Demokratie unterzuordnen. Daß es bei allen Schwierigkeiten, die sie mit sich bringt, gilt, diese Sprache zu lernen und daß man zwar keine Schuld zu empfinden hat, auch keine Scham für von nicht vorhandenen Vorvätern begangene Schuld, daß man aber eben auch das oben beschriebene Erbe eines modernen Deutschland und seiner jüngsten Geschichte mitzutragen hat. Sie hat recht, wenn sie uns nahelegt, gerade das als unsere Stärke zu begreifen, was uns oft so schwach vorkommt: Den Zweifel, das Sich-Hinterfragen, das Abwägen und Zaudern, die Skepsis. Man stimmt ihr zu, daß „Europa“, will es wirklich einmal zu einer denkbaren Alternative zum Nationalstaat werden, noch einen weiten Weg vor sich hat und ganz andere Angebote machen muß, als Zollunion, offene (Wirtschafts)Grenzen und eine einheitliche Währung. Sträflich vernachlässigt wurde in den 80er und 90er Jahren das kulturelle Zusammenwachsen – auch, indem man die kulturellen Unterschiede herauszustellen verstanden hätte – und ebenso ein Verständnis dafür, was das eigentlich sein kann und soll, ein modernes Europa mit seiner spezifischen Geschichte?
So bleibt – Vieles wird hier ausgelassen, um zu einem Ende zu kommen – schließlich nur anzumerken, daß ein Apparat, ein Register oder Appendix dem Werk gut getan hätten, damit man noch einmal, gebündelt, die Möglichkeit hätte, all die gelehrten Werke, derer sich Thea Dorn hier bedient, selber zu konsultieren, ohne sich gerade die abseitigeren aus dem Fließtext zusammen suchen zu müssen. Dieser Text wirkt auch deshalb, weil er – vielleicht das höchste Lob, das auszusprechen möglich ist – unglaubliche Lust macht, sich wieder, erneut, in die deutsche Geistesgeschichte einzulesen. Es sollte – das nun sei ohne Zwinkern angemerkt – darüber nachgedacht werden, ob man jene 60 Seiten, die das 7. Kapitel umfasst (und vielleicht auch noch das 8. Kapitel hinzunehmend) nicht genau so, ungekürzt, zu einer Pflichtlektüre in jeder deutschen Schule machen sollte. So sollte sie dargestellt werden, die deutsche Geschichte: Als Kulturgeschichte, als eine Geistesgeschichte, die unglaubliche Gedanken, geistige Leistungen, aber manchmal eben auch unglaublich gefährliche Überlegungen hervorgebracht hat. Diese einzuordnen und aus ihrer Zeit heraus zu erklären, gelingt Thea Dorn meisterlich. In diesen Kapiteln kommt dieses Buch zu sich selbst und wird zu einem Schlüsseltext der momentanen Diskussionen und weist doch weit darüber hinaus.