UPSTATE
Ein kleiner, unaufgeregter, unspektakulärer Familienroman
Wenn auf einem Buchumschlag davon die Rede ist, daß es inhaltlich um die Suche nach dem Glück gehe, davon, daß „mit großer Zartheit“ von den „sorgenvollen Bemühungen“ eines „liebenden Familienvaters“ erzählt werden wird, dann gehen bei einigen alle Alarme an. Das entsprechende Stichwort lautet: Erbauungsliteratur. Etwas auf dem Niveau von TUESDAYS WITH MORRIE (1995), Mitch Alborns Bericht von den Begegnungen mit seinem ehemaligen Collegeprofessor, der an einer unheilbaren Krankheit stirbt, aber allerhand Weises und Kluges über das Leben und das Sterben mitzuteilen hat. Das mögen viele, was aber wenig über die Qualität solcher Literatur aussagt. Eben Erbauungsliteratur, etwas fürs Gefühl.
So also ist in etwa die Erwartung, wenn man James Woods UPSTATE (Original erschienen 2018) aufschlägt. Nun ist Wood einer der anerkanntesten Kritiker der angelsächsischen Literaturszene, zudem Verfasser eines sich als Standardwerk gebenden Buchs über die KUNST DES ERZÄHLENS (HOW FICTION WORKS; 2008), man erwartet also auch einiges von einem Roman aus der Feder eines solch Er- und Belesenen. Vorweg: UPSTATE ist kein Stück Erbauungsliteratur, die schlimmsten Erwartungen bleiben unbestätigt. Und anders als in Hubert Winkels elegantem Verriss in der Süddeutschen Zeitung vom 30.01.2020 angemerkt, erstarrt das Buch auch nicht in rein formaler Bemühung. Wood erzählt eine zugegeben unspektakuläre Geschichte, aber es gelingen ihm doch durchaus differenzierte Portraits eines Mannes und seiner beiden sehr unterschiedlichen Töchter. Daß er dabei nicht um jedes Klischee herumkommt, stimmt zwar, doch auch diese versteht er zumindest zu brechen.
Der Immobilienunternehmer Alan Querry, beheimatet im Norden Englands, reist in die USA, um nach einer alarmierenden Mail des Freundes seiner Tochter Van (kurz für Vanessa) zur vermeintlichen Hilfe zu eilen. Josh, so der Name des jungen Mannes, berichtet von Depression, einem Treppensturz und möglichen Suizidabsichten. Helen, Vans Schwester, weilt ebenfalls in Amerika und erklärt sich bereit, den Vater einige Tage nach Saratoga Springs, wo Van als Dozentin für Philosophie an einem College lehrt, zu begleiten. Hauptsächlich aus Alans Perspektive erzählt, erfahren wir von Vans früheren psychischen Problemen, von den so unterschiedlichen Charakteren der beiden Frauen, die er weitestgehend allein aufgezogen hat, nachdem seine Gattin ihn verließ, später an Krebs starb. Alan reflektiert seine Ängste und das schlechte Gewissen, das ihn plagt, da er sich nie sicher war und ist, ob er seinen Aufgaben als Erzieher und Ernährer je wirklich gerecht wurde. Einmal in der winterlichen Stadt „upstate“ New York angelangt, entpuppen sich die Probleme als nicht gar so gravierend, es kommen aber doch die alten Strukturen der Familie Querry zum Vorschein und so erhält der Leser Einblick in die tieferen Schichten einer durchschnittlichen englischen Mittelstandsfamilie. Wobei Alans Aufsteigergeschichte durchaus als Hintergrundrauschen eine Rolle spielt.
Ängste, Karriereplanungen (Helen, Vans Schwester, ist Managerin bei SONY und überlegt, sich selbstständig zu machen, braucht dafür des Vaters finanzielle Unterstützung), Neidgefühle, durchaus auch die Frage nach dem geglückten Leben, entfalten sich vor dem Leser, werden von Wood aber nicht überdramatisiert. UPSTATE kippt nie ins Melodramatische, im Gegenteil – da hat Winkels durchaus recht – bleibt die Erzählung immer distinguiert, zurückhaltend und im Ton eher ruhig. Zudem thematisiert Wood immer auch die Unterschiede zwischen England und den USA. Alan blickt teils belustigt, teils aber auch mit großer Ehrfurcht auf dieses Land, das er nicht wirklich versteht und ihm auch Angst macht. Der Winter im nördlichen New York ist für einen Engländer von kaum fassbarer Härte, die Schneemassen, die Kälte, die Glätte sind Alan unbekannt. Ohne auch diese Erkenntnisse sonderlich zu betonen, lässt Wood seinen Protagonisten langsam begreifen, daß die USA bei aller kulturellen Verwandtschaft zu Europa und gerade Großbritannien eben ein völlig eigenständiges Gebilde sind, das längst eigene kulturelle Prägungen hervorgebracht hat und vor allem auch im 21. Jahrhundert noch sehr elementare Herausforderungen an seine Bürger stellt.
Wood gelingen immer wieder kleine Dialogszenen, in denen die Familiensystematik der Querrys deutlich wird, ohne daß der Text sich dem Leser aufdrängen würde. Ein Mann, der sich vor allem dem Aufbau seines Geschäfts widmet – und widmen möchte – und zwei Töchter, die eben sehr unterschiedlich sind, bilden einen Familienverbund, der kaum einheitlich wirkt, zugleich aber doch auch als zumindest rudimentär funktional betrachtet werden kann. Das „Problemkind“ Vanessa, verträumt, belesen, ernsthaft, auf der einen Seite, und dem entgegengestellt die Macherin Helen, die immer hinaus ins Leben wollte, die eine zwar nicht allzu glückliche, aber durchaus funktionierende Ehe führt, zwei Kinder hat, denen sie sich verpflichtet fühlt, die sie liebt, die sie aber ihren eigenen Ansprüchen nach zu stark vernachlässigt – es entsteht ein Spannungsverhältnis, das Wood durch einzelne Sätze und Beschreibungen kleiner Gesten und Szenen zu vermitteln versteht. So entsteht ein realistisches Bild innerfamiliärer Konflikte, die nie offen ausgetragen wurden, die sich tief eingefressen haben, die aber nicht zu allzu dramatischen Auseinandersetzungen führen, sondern weitestgehend ausgehalten werden. Wood erzählt das manchmal fast beiläufig, lässt das Wesentliche eher aufblitzen, konzentriert sich scheinbar auf die Betrachtung von Landschaften, fremden Verhaltensweisen und die Bewältigung des Jet-Lags.
Woran es diesem Roman allerdings eklatant mangelt, ist Humor. Da ähnelt er dann leider doch den meisten Beiträgen zur Erbauungsliteratur. Zwar kommt das hier alles weder überernst oder gar pathetisch daher, Wood vermeidet Züge in solche Richtungen geradezu pedantisch, darin ganz britisches Understatement. Doch vermag er seinem Text keinen Witz einzuschreiben. Natürlich sind Themen wie Altern, Depression oder Familienkonflikte an sich nicht gerade humorbeladen, doch könnte man bspw. Alan Querrys Zugriff auf ein Amerika, das sich ihm nicht erschließt, doch auch mit etwas mehr Humor erzählen, als Wood dies tut.
So bleibt ein kleiner, unaufgeregter Roman, dessen Autor bemüht ist, sich an die von ihm selbst aufgestellten Regeln fiktionalen Erzählens zu halten, dem es gelingt, einige sehr britische Figuren glaubwürdig zu beschreiben und der sich nie wichtiger nimmt, als er ist. Letztlich verlassen wir Alan so, wie wir ihn vorgefunden haben: Irgendwo in seinem Leben, vielleicht an einer Weggabelung, vielleicht aber auch einfach an einem Punkt, wie es sie in allen Leben gibt, einer Talsohle, die zu durchschreiten man sich anschickt, um dann den einmal eingeschlagenen Weg weiter zu beschreiten. Wir wissen es nicht und uns wird auch nicht mitgeteilt, wie es weitergeht mit den Querrys und ihren so ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen. Ob Alan Helen unterstützt bei ihren Versuchen, sich selbstständig zu machen? Ob Van Josh wird überreden können, sich ihr anzuschließen und nach England zu übersiedeln? Ob Alan sein Herzensprojekt, eine Galerie in Newcastle, noch wird umsetzen können? Wir erfahren es nicht. Nur, daß Alan noch ein wenig länger als geplant in Amerika verweilen wird, um seine Tochter Vanessa zu unterstützen, das wissen wir, wenn wir die Querrys wieder verlassen.