ABENDROT/EVENTIDE

Kent Haruf schlägt im direkten Nachfolger zu PLAINSONG andere, düsterere Töne an

Wer hätte das gedacht: Kent Haruf, dieser Chronist des amerikanischen Mittelwestens, dessen Geschichten manchmal wie das Flachland-Pendant zu Amistead Maupins STADTGESCHICHTEN-Zyklus anmuten, Haruf, der die leisen Töne bevorzugt, zwar aus dem beschädigten Leben erzählt, seinen Figuren und damit dem Leser aber immer auch Hoffnung und damit Ausblick auf Menschlichkeit und Solidarität lässt, dieser Kent Haruf kann doch auch anders. Ohne seinen Stil sonderlich zu verändern, lässt er uns in ABENDROT (Original: EVENTIDE; erschienen 2004) an Schmerz, Leid und Not seiner Protagonisten teilhaben, zeigt sich manchmal unerbittlich und beweist damit, daß er einen sehr wachen Blick auch auf die Schattenseiten des amerikanischen Alltags besitzt.

ABENDROT sollte man als direkte Fortsetzung zu LIED DER WEITE (PLAINSONG; erschienen 1999) lesen, tritt doch das Gros des Personals aus dem Vorgänger auch hier auf, werden einige der Geschichten weiter erzählt, manche zu einem finalen Ende hin. Wie auch in seinen übrigen Romanen, setzt sich Harufs Erzählen episodisch zusammen, kommen unterschiedliche, teils kaum miteinander verwobene Erzählstränge erst nach und nach zusammen, berühren sich, treiben aber auch wieder auseinander, ohne allzu viel Auswirkung aufeinander zu haben. Auch hier ist der Stil ein ruhiger, unaufgeregter, der sich Zeit nimmt in der Beschreibung, den Leser die Figuren eher erspüren denn verstehen lässt, einen melancholischen Grundton anstimmt, der die Geschichten dennoch nie beherrscht, sondern lediglich einen langsamen Takt vorgibt, über den hinweg sich die feinen Melodien menschlichen Daseins, Wirkens, Versagens und gelegentlichen Triumphs erheben können.

Wie all die Romanen von Kent Haruf, ist auch dieser in Holt, Colorado, in den Plains, jenen den Rocky Mountains vorgelagerten Weiten, angesiedelt. Wieder lernen wir ein wenig mehr von dieser Kleinstadt kennen, können ihre heimlichen Gesetzmäßigkeiten, das Leben ihrer Bürger, deren Härten und ihre Einstellung zum Leben, das dem Rhythmus der Jahreszeiten unterworfen ist, besser erfassen und verstehen. Und wieder gewinnt der Leser den Eindruck, ein Abbild Amerikas, der Vereinigten Staaten, zumindest dessen, was man ihr „Herzland“, das „Heartland“ nennt, geboten zu bekommen. Im Grundton konservativ, im Tempo langsam, in vielerlei Hinsicht gott- oder schicksalsergeben, mühen sich die Bewohner in Holt, in Würde mit den Widrigkeiten des Lebens zurecht zu kommen.

Die McPheron-Brüder müssen damit leben, daß ihre Ziehtochter Victoria sie mit der kleinen Tochter verlässt, um auf ein College zu gehen; sie müssen wieder in ihren ureigenen Rhythmus zurückfinden, der für gute zwei Jahre durch die Anwesenheit einer jungen Frau und eines Kleinkinds unterbrochen wurde. Der junge DJ lebt bei seinem Großvater, einem trotzigen, grimmigen alten Mann, der wenig Rücksicht auf die Befindlichkeiten eines Heranwachsenden zu nehmen bereit ist. Nur die Freundschaft mit der Nachbarstochter Dena erhellt dieses Leben ein wenig. Und doch kann auch dies nicht von Dauer sein. Luther und Betty, gnadenlos überfordert mit zwei Kindern und den geringsten Ansprüchen des Lebens – halbwegs gesunde Ernährung, regelmäßige Hygiene, Schulbesuche – fristen ein Dasein im Trailer, in den eines Tages Bettys Onkel Hoyt ebenfalls einzuziehen beschließt. Dies bedeutet Unannehmlichkeiten für Betty und Luther, für ihre Kinder hingegen beginnt ein Leben voller Terror. Menschen, die Leben leben, die nichts Außergwöhnliches an sich haben; Leben, die einfach widerspiegeln, was das Dasein für uns alle bereit hält.

Und doch geht Haruf einen anderen Weg als im Vorgänger. Konnten wir uns dort darauf verlassen, daß bei allen Schrecknissen, von denen er scheinbar ebenso sachlich-neutral berichtete, wie von den schöneren Seiten des Lebens, und die oftmals erst dadurch ihre ganze rohe Brutalität offenbarten, doch immer irgendwo ein Licht auftauchte, ein Hoffnungsschimmer, so bietet er uns in ABENDROT doch meist die gnadenlosere Seite der Dinge. Der Tod macht auch vor Holt nicht halt, wer sich um seine Kinder nicht kümmern kann, wird sie verlieren, wer kein Gewissen, dafür aber ein gerüttelt Maß an Skrupellosigkeit besitzt, wird andern – vor allem Schwächeren – das Leben ungestraft zur Hölle machen können. Und die Schwächsten in dieser Geschichte sind die Kinder. Fast alle Kinder, die hier auftreten, erleben auf die eine oder andere Art die Hölle auf Erden. Durch Gewalt, Gleichgültigkeit, Ignoranz, Unvermögen oder Dummheit. Und nur für einige gibt es ein Entkommen, eine Lösung, eben Hoffnung. Wobei auch diese gelegentlich nur oberflächlich so erscheint, denn darunter lauern Einsamkeit und Verlust.

Wie im Vorgänger findet Haruf eine Metapher, eine Entsprechung für seine Geschichten im Umgang der Menschen mit den Tieren. Auch ihnen wird wenig Mitleid zuteil, Gnade finden sie keine. Ein Gedanke vielleicht, wenn die einjährigen Kälber unter Geschrei und Wehklagen von den Alttieren getrennt werden, damit diese weiter Milch produzieren – aber dann geht das alltägliche Leben weiter. So beschriebt Haruf bspw. den Alltag einer Viehauktion, die so nüchtern beschrieben wird, daß sich gerade darin seine ganze Meisterschaft ausdrückt: Wie es ihm immer wieder gelingt, in Nebensächlichkeiten das Wesen der Dinge zu erfassen und dem Leser zu vermitteln. Es ist dies ein hartes Leben und diese Härte färbt ab, färbt hinein in den Umgang miteinander. Dennoch zeigt Haruf, wie auch unter diesen Bedingungen Beziehungen entstehen können, manche robust, manche zart, oft aber sind sie vor allem belastbar. Unter einem endlos weiten Himmel muß man sich aufeinander verlassen können. Ohne, daß der Autor es je explizit werden ließe, ohne es spezifisch zum Thema zu erheben, schwingt hier doch viel davon mit, was die Menschen dieses Landes allgemein ausmacht, wie diese Nation tickt, wie sie wurde, was sie ist, mit all ihren Vor- und Nachteilen.

Haruf urteilt nicht, zumindest nicht dort, wo ein Urteil zu viele Zwischentöne außer Acht ließe. Da, wo menschliche Bösartigkeit – in Gestalt von Hoyt bspw. – sich zeigt, stellt Haruf sie allerdings aus, gnadenlos. Und doch verzichtet er auch in diesen Momenten nicht darauf, selbst der Bösartigkeit eine Geschichte, eine Motivation, einen Hintergrund zu geben. Was diese Literatur ausmacht – und sie so lesenswert macht – ist dieses tiefe Verständnis der menschlichen Seele, ihrer Bewandtnis und ihrer Beschränktheit. Nichts wird hier entschuldigt, niemals. Doch es ist eben diese Einsicht, daß ein jeder eine Geschichte hat und sich hinter aller Handlung immer eine Erklärung versteckt, oft eine banale, scheinbar nichtssagende Erklärung, die die Trauer ausmacht, die Harufs Schreiben begleitet, ihm zugrunde liegt, den Ton bestimmt. Wir können nicht aus unserer Haut, wir können uns selbst nicht entkommen. Wohl aber können wir immer wieder dagegen anrennen, zu sein, was das Schicksal uns scheinbar vorgegeben hat. Und denen, die diesen Kampf tagtäglich führen, oft unbemerkt, manchmal scheiternd, denen gehört die uneingeschränkte Sympathie dieses Autors.

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