VENEDIG KANN SEHR KALT SEIN/THOSE WHO WALK AWAY

Patricia Highsmith untersucht einmal mehr die Psyche des Mannes - und macht es doch ganz anders, als der Leser es gewohnt ist

Vielleicht ereignet sich nicht nur die Geschichte immer zweimal, einmal als Tragödie und einmal als Farce, wie Marx, Hegel paraphrasierend, einmal anmerkte, sondern auch Literatur? Dann könnte man annehmen, daß Patricia Highsmiths Roman THOSE WHO WALK AWAY (dt.: VENEDIG KANN SEHR KALT SEIN; Original erschienen 1967) sich zu ihrem Klassiker THE TALENTED MR: RIPLEY (dt.: DER TALENTIERTE MR. RIPLEY; 1955) verhält, wie die Farce zur Tragödie. Die Lektüre des Romans evoziert dauernd Bilder aus dem früheren Roman, nur scheint die Geschichte seltsam gegen den Strich gebürstet.

Der junge Ray, der einen Monat vor Einsetzen der Handlung seine Frau Peggy durch Selbstmord verloren hat, wird von seinem Schwiegervater Ed Coleman in Rom niedergeschossen. Nur leicht verletzt, folgt Ray seinem Widersacher nach Venedig, wo es zu einem intensiven Katz-und-Maus-Spiel zwischen den beiden kommt, inklusive weiterer tätlicher Angriffe des Älteren auf seinen Schwiegersohn. Schließlich löst sich dieses Drama, das eher einem Dramolett entspricht, ohne Leichen in Wohlgefallen auf, hinterlässt allerdings schwer beschädigte Charaktere.

Highsmith, die 1967 bereits mehrere Jahre in Europa lebte, macht sich wie selten sonst über ihre Landsleute lustig, die in den Aufbaujahren nach dem Krieg auf den alten Kontinent strömten, sich dort mal als Künstler, mal als Dandys und Lebemänner, oder -leute, gaben, und doch durch und durch Amerikaner blieben, die sich mit Amerikanern umgeben und wenig bis nichts von den Eigenarten der sie jeweils gastlich aufnehmenden Länder verstanden. Ohne diese Basis, wären viele, viele ihrer Helden – besser Anti-Helden – nicht denkbar. Und für THOSE WHO WALK AWAY scheint es ein wesentliches Merkmal zu sein. Ray ist der Sohn eines Ölmagnaten, er hat Geld, ihm steht die Welt offen, nur hat er weder Talent, noch besonderem Ehrgeiz. Er möchte gern eine Galerie in New York eröffnen, doch im Grunde ist ihm egal, ob, wie oder wann dies geschieht. Sein Widersacher Coleman, eins ein erfolgreicher Industrieller, versteht sich als Maler, der in Europa die klassische bildende Kunst sucht und sich anzueignen gedenkt. Zwar wird er uns als durchaus begabt geschildert, doch vor allem benimmt er sich, wie das Klischee es von Künstlern verlangt: egozentrisch, jähzornig und unberechenbar. Peggy, das tote und offenbar vollkommen unverstandene Bindeglied zwischen den Männern, wollte ihrerseits malen, wird dem Leser durch Rays Perspektive allerdings immer wieder als eine launische, verfeinerte junge Frau geschildert, die mit der Welt nicht zurecht kam und in allem – vor allem im Sex – immer ein „Mehr“ suchte, als die Dinge, Gefühle oder Ereignisse ihr geben konnten.

Highsmith ordnet diese Dreiecksbeziehung zwischen zwei lebenden Männern und einer toten Frau geschickt an, indem sie ihren Lesern lediglich männliche Blickwinkel auf und Standpunkte gegenüber dem Charakter dieser jungen Frau bietet. Beide – weder Gatte Ray, noch Vater Coleman – haben je verstanden, weshalb sie sich umgebracht hat. Coleman verdächtigt Ray, daß dieser sich nicht so um Peggy gekümmert habe, wie es notwendig gewesen wäre und damit ihren Suizid fahrlässig in Kauf genommen habe. Sie erscheint in Rays Beschreibung als Mystikerin, aus Colemans Sicht ist sie eine (über)behütete Tochter gewesen, die der jüngere Mann ihm entwunden hat. De facto interessieren sich beide Männer nicht wirklich für sie und beiden, so wie Highsmith sie agieren lässt, nimmt man ihre Trauer nicht ab. Beide sind zu sehr mit sich selbst und dem anderen beschäftigt. Die relevante Beziehung herrscht zwischen den Männern als Kontrahenten, die tote Frau – wie auch die anderen im Roman auftretenden Figuren – wirken eher wie Bindeglieder, Instrumente, bestenfalls Bedingungen, unter denen die Rivalität ausagiert werden kann. Gerade in dem Spiel, das die beiden miteinander treiben, in der Intensität, in der sie es spielen und der (scheinbar) fehlenden  Motivation, verdeutlicht  sich das mangelnde Interesse für Peggy und deren Beweggründe. Nichts scheint Ray wichtiger zu sein, als daß Coleman anerkennt, daß er trauert, nichts drängt ihn mehr, als daß er Coleman seine Sicht auf Peggys Freitod erklären könnte. Er verheimlicht der Polizei die Mordanschläge und hegt keinerlei negative Gefühle für den Schwiegervater. Erst als dessen Hass und Anfeindungen nicht nachlassen und in immer brutalere Attacken münden, setzt sich Ray zur Wehr und schlägt schließlich zurück. Doch bleibt beständig der Eindruck, daß diese beiden Männer – als archaischer Kampf, als ewiger Generationenkonflikt? – so oder so miteinander hätten ringen müssen, der Tod der Frau gegebener Anlaß ist, nicht aber wirklich hinreichender Grund für ein potentiell tödliches Duell.

Obwohl der Roman durchaus auch an andere Highsmith-Werke anknüpft – genannt seien im Hinblick der Duellsituation zwischen zwei ungleichen Männern sowohl STRANGERS ON A TRAIN (ZWEI FREMDE IM ZUG; 1950) als auch THE TWO FACES OF JANUARY (DIE ZWEI GESICHTER DES JANUAR; 1964) – verhält sich vieles in THOSE WHO WALK AWAY diametral zum ersten Tom-Ripley-Roman. Das beginnt mit der Wahl  des Schauplatzes – Italien und im Wesentlichen Venedig, das auch im älteren Werk eine symbolische Funktion übernimmt, um die Verwirrung zu verdeutlichen, die Marge ob des Doppelspiels, das Ripley betreibt, befällt – und setzt sich maßgeblich in der Figurenkonstellation und der Auseinandersetzung zwischen den Charakteren fort.

Während dort ein junger Mann, der sowohl im wörtlichen als auch  im übertragenen Sinne ein „Nichts“ ist, sich durch Identitätsklau eine Persona aneignet, die er gern wäre, ist Ray von Beginn an ein „Jemand“. Von Haus aus reich und also mit einer Stellung ausgestattet, mangelt es ihm eben an Esprit und innerer Spannung. Während Ripley unbedingt am Leben einer internationalen (wenn auch amerikanisch geprägten) Bohème teilnehmen will, die die Freiheit und Zügellosigkeit der Nachkriegsjahre in einem Europa genießt, das das Leben gerade erst wieder zu schätzen lernt, bewegt Ray sich in einer Gesellschaft, die geprägt ist durch eine gewisse Behäbigkeit. Das Leben spielt sich in vornehmen Hotels und gediegenen Restaurants und Bars ab, nicht in den heißen Jazzclubs des früheren Buches. Während Ripley ein Meister der Camouflage ist, ein Fälscher und Verwandlungskünstler, der in späteren Büchern der Reihe mit gefälschten Gemälden (sic!) handelt und damit einen gehobenen Lebensstil pflegt, in seinem Handeln die bürgerliche Fassade, die er sich aufgebaut hat, jedoch fortwährend konterkariert, kommt Ray zwar kurzzeitig auf den Geschmack an seinem Spielchen – er versteckt sich tagelang und lässt seine Umwelt im Unklaren, ob Colemans Attentate auf sein Leben erfolgreich waren – besinnt sich jedoch schließlich und geht zur Polizei, um alles aufzuklären. Alles, bis auf die tatsächlichen Angriffe seines Schwiegervaters.

Während Ripley sich mit seinen Fälschungen und schließlich einem grausigen Mord an seinem Freund Dickie eine neue Identität, ein echtes Leben im falschen aufbaut, ein existenzielles Spiel spielt, ist in THOSE WHO WALK AWAY alles falsch, gelingt nichts, obwohl die Protagonisten es bitter ernst meinen: Coleman will seinen Schwiegersohn töten, was ihm weder mit einer Pistole, noch mit einem Stein und auch mit einem Eisenrohr nicht gelingt. Sowohl er als auch Ray geben vor, „in Kunst zu machen“ und dennoch ist der eine nur ein erfolgloser Maler, der sich mit Rahmungen über Wasser hält, der andere Einkäufer einer nicht existenten Galerie. Coleman entwindet Ray einen Schal, da dieser Peggys Geschmack entspreche, folglich ihr gehört haben müsse, und dem Schwiegersohn nichts zustünde, was an seine Frau erinnere, tatsächlich aber hat Ray den Schal erst in Venedig gekauft, eben weil er ihn an Peggy erinnerte. Beide, Coleman und Ray, sind Lügner, wie Ripley einer ist, doch während dem seine Lügen problemlos über die Lippen gehen, glaubt man weder Ray noch Coleman. Beide verkriechen sich für Tage bei ihnen im Grunde unbekannten Italienern, die ihnen selbstlos helfen, doch beiden werden die Geschichten, die sie um ihre Person spinnen, nicht abgenommen.

Highsmith richtet eine wahrlich brillante Versuchsanordnung an, wenn sie nach  und nach die Perspektive des auktorial, aber aus Personenperspektive erzählten Romans verschiebt. Erleben wir zunächst alles aus Rays Sicht, wechselt nach gut der Hälfte des Romans unvermittelt der Blickwinkel, und sie bietet uns nun auch Colemans Perspektive an. Und hier beginnt auch eine Doppelung – Coleman, der seinen Schwiegersohn offensichtlich immer verachtet hat, beginnt, dessen Verhalten (sich zu verstecken und die Umwelt im Unklaren zu lassen) zu imitieren. Doch anders als Ray, der wirklich Freunde findet, bleibt Colemans Verhalten erratisch und gewalttätig, was immer wieder dazu führt, daß zwischen ihm und der Welt eine Art Mauer entsteht, die er nicht zu überwinden oder einzureißen versteht. Der alte Mann muß dem jungen Mann das Feld überlassen, sich geschlagen geben und, im besten Wortsinne, verschwinden. Ein ewiger Kampf scheint einmal mehr entschieden. Entschieden nach klassischem Muster.

Ist das also ein Thriller? Highsmith wurde immer in das Genre gepackt, weil Schubladen eben bitter nötig scheinen. Doch wird dabei vergessen, daß sie im Grunde immer daran interessiert war, männliche Psychogramme zu entwerfen, die vor allem eines ausweisen: Die Schwäche des starken Geschlechts. Die Ge- und Befangenheit, aus der heraus Männer agieren, die ihr Verhalten zu bestimmen scheint. Die Mittel, die sie dazu nutzt, wirken oft einfach, weil rein deskriptiv, fast oberflächlich und man erfasst den Horror, der sich unter den Oberflächen auftut, nur nach und nach. Vielleicht sind die Ripley-Romane gerade deshalb so beliebt, weil die Sachlage hier meist  eindeutiger ist. Viele ihrer Werke entsprechen zwar stilistisch dem Thriller-Genre, inhaltlich jedoch werden oft eher ebenso psychologische wie dramatische Stoffe behandelt, die das Genre nutzen, um exemplarische Situationen zu schaffen. Wie verhalten sich Menschen (Männer) in Extremsituationen? Welche Motive haben sie, sich zu verhalten, wie sie es tun? Manchmal wundert man sich, wie weit diese Charaktere sich treiben lassen, wie weit sie gehen und manchmal denkt man sich, daß das doch sehr konstruiert wirkt. THOSE WHO WALK AWAY bietet nun ausnahmsweise Menschen, deren Verhalten zwar einer solchen Extremsituation entwächst – Verlust eines geliebten Menschen durch dessen Suizid – die Möglichkeit, sich eher normal, im Sinne herkömmlicher Psychologie, zu verhalten. Anders als die Eskalationsspirale, die alle Ripley-Romane beschreiben, wirkt dieser Roman, als habe die Autorin bewusst versucht, auf den Höhepunkt, die Klimax, auf die ein Thriller fast zwangsläufig hinläuft, zu verzichten. Das stete Mißlingen dessen, was sich die Protagonisten vorgenommen haben und die Gründe dafür – sei es Unvermögen, sei es fehlende innere Antriebskraft, sei es die eigene Schwäche – wirkt wie eine Farce, fast wie eine Karikatur jener Protagonisten in anderen Highsmith-Romanen, die aus oft minderen Gründen bereit sind, sehr viel weiter zu gehen. Mit aller Entschlossenheit. So kommt der Roman ohne Leiche aus, ohne die dem Genre verhaftete Zuspitzungen und konzentriert sich eher auf eine Art Duell zweier Männer, die auf seltsame, undurchschaubare Weise mit- und umeinander ringen, ohne je wirklich miteinander in Kontakt zu treten. Und dennoch ist auch dieser Roman spannend.

Vielleicht ist THOSE WHO WALK AWAY im Highsmith-Kosmos eher jenen zu empfehlen, die bereits einige Romane der Autorin kennen, eben weil der eigentliche Reiz darin besteht, die Wechselwirkung zu anderen, früheren Werken zu studieren. Man wird das Gefühl nicht los, daß die Autorin sich hier einen ebenso hintergründigen wie sarkastischen Spaß auf Kosten ihrer Landsleute, die alles andere als gut wegkommen, wie auch ihrer Leser und nicht zuletzt des eigenen Werkes macht. Allerdings tut sie dies dann meisterlich. Man kann durchaus ihr Kichern zwischen den Zeilen vernehmen.

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