VERSCHWÖRUNGEN. EINE SUCHE NACH MUSTERN

Drei Texte zum Thema "Verschwörungsmythen" des Semiotikers und Belletristen Umberto Eco in einem Band

Umberto Eco, einer der führenden Semiotiker der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, besitzt in akademischen Kreisen den Status einer Koryphäe; dem breiten Publikum ist er vor allem als Romancier bekannt. Seit dem Welterfolg der Verfilmung seines Romans DER NAME DER ROSE (Buch 1980/Film 1986) wird er nicht nur beim lesenden Publikum als einer der führenden Schriftsteller der Weltliteratur betrachtet. Sowohl als Semiotiker als auch als Autor beschäftigte sich Eco u.a. immer schon mit Verschwörungen und den Mythen, die sie hervorbringen, den Ideologien, die sie befeuern, vor allem aber mit den Gefahren der Narrative, die sie hervorbringen. Wie viele postmoderne Autoren – gleich ob wissenschaftlicher oder belletristischer Natur – zu denen Eco unbedingt zu zählen ist, interessiert ihn an der Zeichen- und Symbolwelt, neben den rein linguistischen und literaturwissenschaftlichen Aspekten, immer auch die Frage, wie sie die Welt, die vermeintliche Wahrheit, verbergen, verschleiern, verbiegen und ver-rücken können.

In DER NAME DER ROSE klingt das Thema an, in DAS FOUCAULTSCHE PENDEL (1988) wird es virulent, wobei der Titel nicht nur ganz konkret auf das Pendelexperiment des Physikers Léon Foucault anspielt, sondern indirekt auch auf den französischen Strukturalisten Michel Foucault, dessen bahnbrechendes Werk DIE ORDNUNG DER DINGE (1966) seinerzeit zwar nicht direkt auf Verschwörungen abhob, doch nachvollziehbar bewies, wie auch wissenschaftliche Kategorien – Klassifikationen, Kategorisierungen, das Geld, Normen, ja die Sprache selbst – letztlich Konstruktionen sind. Da Eco sich allerdings nie gescheut hat, auch in tagespolitische Ereignisse einzugreifen, veröffentlichte er auch essayistische Texte zu gesellschaftspolitischen Fragen, darunter eine brillante Faschismusanalyse. In seinem Roman DER FRIEDHOF IN PRAG (2010) schrieb er schließlich ganz konkret darüber, wie eine der wirkmächtigsten Verschwörungserzählungen – DIE PROTOKOLLE DER WEISEN VON ZION – entstanden ist und sich verbreiten konnte.

Für den vorliegenden Band VERSCHWÖRUNGEN. EINE SUCHE NACH MUSTERN (2021), erschienen im Hanser Verlag, wurden drei Texte/Reden/Vorträge zusammengeführt, die Eco 1994, 2015 und 2017 gehalten, bzw. veröffentlicht hatte. Sie geben einen guten Einblick in das Denken Ecos, aber auch in seine Art, dieses Denken zu vermitteln – launig, pointiert und oft mit einem schalkhaften Augenzwinkern. Vor allem aber funktionieren sie auf verschiedenen Ebenen hervorragend, um einen Einstieg in das Thema der Verschwörung und ihrer Mythen zu gewähren. Im Unterschied zu den Soziologen, Politikwissenschaftlern, Historikern und auch Psychologen, die sich mit Verschwörungserzählungen beschäftigen, bietet Eco natürlich eine spezifische Sicht – nämlich die des Literaturwissenschaftlers und Semiotikers. Er „liest“ Verschwörungserzählungen also anders, vielleicht genauer, und er kann einen Zugang verschaffen, der ihrem Kern möglicherweise näherkommt, da er sie zunächst, durchaus auch mit einer Portion Spaß an der Sache, neutral betrachtet und nicht von Beginn an auf ihren ideologischen und oft gruppenbezogenen Abwehrreflex und auch den Hass, den sie befeuern, abhebt. Allerdings lässt er diesen keineswegs außen vor, sondern macht in allen Belangen deutlich, worin die Gefahren von Verschwörungsmythen und -narrativen bestehen.

Der erste Text – KOMPLOTTE, VERSCHWÖRUNGEN, KONSPIRATIONEN – führt etwa so allgemein in das Thema ein, wie es der Titel suggeriert. Eco erklärt, dabei nah an herkömmlichen Erklärungsmustern, worin die historische Verschwörung, die es natürlich wirklich immer auch gegeben hat (die Verabredung zur Ermordung Julius Cäsars u.a.), eigentlich besteht und woran man eine Verschwörungserzählung erkennt. Er liefert auch Erklärungen, weshalb viele Menschen immer wieder das Verschwörungsnarrativ der (vermeintlichen?) Wahrheit vorziehen. Die Wahrheit/Wirklichkeit scheint in ihren Erklärungsmustern entweder zu simpel (wie kann es 19 Studenten gelingen, mit Teppichmessern vier Flugzeuge zu kapern und in die Hochhäuser New Yorks krachen zu lassen?) oder aber das genaue Gegenteil ist der Fall: Die Wirklichkeit wird derart komplex und unüberschaubar, daß eine simplifizierende Erklärung Sicherheit bietet (die Juden, die Jesuiten oder sonst wer sind schuld). In diesem ersten Text hebt Eco schließlich auch auf populäre Werke wie Dan Browns THE DA VINCI CODE (2003) ab, ein enorm erfolgreiches Buch, daß klassische Verschwörungsmythen mit allerhand modernen Zutaten mixt und in seiner Zeit wie eine aktuelle Erklärung für all jene Gefahren wirkte, die plötzlich eine bis dato überschaubare Welt verunsicherten. Es wird aber auch Bezug auf Karl Popper, der als einer der ersten den Begriff der „Verschwörungstheorie“ prägte, Richard Hofstadter und andere Wissenschaftler genommen, die sich, meist unter spezifischer Bezugnahme auf Politik und Wissenschaft, mit Verschwörungsdenken, Paranoia und Obsessionen beschäftigt haben. Schließlich weist Eco in einem recht unterhaltsamen Experiment nach, wie einfach es ist, gerade mit kabbalistischen Methoden sehr schnell Geheimnisse dort zu konstruieren, wo in Wirklichkeit rein gar nichts ist.

Text Nummer Zwei beschäftigt sich explizit mit den PROTOKOLLEN DER WEISEN VON ZION und deren Wirksamkeit, die in letzter Konsequenz bis in die Gaskammern von Auschwitz führten, war doch nicht zuletzt Adolf Hitler ein eifriger Leser dieses fiktiven Textes, der selbst heute noch von vielen als „wahr“ angesehen wird und angeblich darlegt, wie „der Jude“ die Weltherrschaft anstrebt. Literarisch vielleicht der interessanteste Text dieses Buches, weist Eco hier doch nach, wie sich künstliches von natürlichem Erzählen unterscheidet, wie Eigentliches und Uneigentliches zueinander in Beziehung stehen und kommt auf Begriffe wie Meta- und Paratext, auf Intertextualität und deren Bedeutung dafür zu sprechen, Texten Glaubwürdigkeit einzuimpfen. Eco setzt seine Überlegungen in Bezug zu historischen Werken wie CYRANO DE BERGERAC, Dantes DIVINA COMEDIA und HAMLET, um daran zu erläutern, wie Metatexte und Metafiktionen zustande kommen. Bspw. gibt es literarische Figuren, denen es gelingt, aus ihrer eigenen Fiktionalität herauszutreten und wie wirkliche, reale Menschen wahrgenommen zu werden. Sherlock Holmes ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Der Moment, in dem Fiktion und Fakten beginnen, einander zu überlagern und Grauzonen schaffen, in denen der Unterschied nicht mehr eindeutig erkennbar ist, ist die Geburtsstunde von Verschwörungsnarrativen. Schließlich gibt Eco anhand einer eigenen literaturwissenschaftlichen (und nicht immer uneitlen) Abhandlung einen sehr guten historischen Abriß, wie es zu den PROTOKOLLEN DER WEISEN VON ZION kam, welche Einflüsse hier relevant waren und wie die Wirkung, die sie hatten, durch jahrhundertealte tradierte Vorurteile und Ressentiments verstärkt wurden.

Der abschließende Text – IMAGINÄRE ASTRONOMIEN – ist vom eigentlichen Thema der Verschwörung am weitesten entfernt, bietet aber einen relevanten Standpunkt: Wie man Wahrheiten, Erkenntnisse und Evidenz nutzen kann, um Fortschritt zu verhindern, bzw. wie man die Wahrheit auch unterdrücken kann, um eigene Machtansprüche zu untermauern. Selbstredend verweist Eco hier vor allem auf den klassischen Kampf zwischen der katholischen Kirche und der seit der Renaissance voranschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnis. Er untersucht auch mittelalterliche und frühneuzeitliche Weltkarten und Atlanten, um aufzuzeigen, wie tradierte Weltbilder weitergegeben wurden und zugleich durch jene „weißen Flecken“, die Terra incognita, Spekulationsraum geboten wurde, in dem sich durchaus auch zukunftsträchtige Hinweise finden lassen – und verstecken ließen. Gerade in diesem Kapitel wird deutlich, wie sehr Verschwörungserzählungen immer schon auch ein politisches Machtinstrument darstellten. Auf welch abseitige Wege der Glaube an esoterische und „alternative“ Weltbilder führen kann, erklärt Eco schließlich anhand einiger jener Glaubensfelder, auf die sich u.a. die Nazis beriefen.

Jeder der drei Texte – mal allgemein, mal ausgesprochen spezifisch, immer literaturwissenschaftlich und damit das Verschwörungsnarrativ als das behandelnd, was es im Kern ist, Literatur nämlich – greift unterschiedliche Aspekte von Verschwörungsmythen auf. Jeder legt dabei sein Augenmerk auf einen anderen Schwerpunkt eines hochkomplexen Themas. Und Eco scheut sich dabei keineswegs, auch die eigene Faszination an Verschwörungen und Verschwörungserzählungen auszustellen. Nur verdeutlicht er eben auch, daß es eine Sache ist, die Verschwörung in all ihren Facetten als Thema in Büchern und Filmen zu behandeln, jedoch eine ganz andere, Verschwörungserzählungen in politische oder gesellschaftliche Diskurse einzuspeisen, wo sie ein ausgesprochen ungutes Eigenleben entwickeln.

Dies ist ein kleiner, feiner, recht einfach und schnell zu lesender Band, der einmal mehr beweist, welch scharfsinniger und zugleich unterhaltsamer Denker und Autor Umberto Eco gewesen ist. Er führt den Leser auf wesentliche Felder des Themas „Verschwörungen“ und steckt sie ab. Ergänzung und Einführung zugleich, lohnt es allemal, sich diese knapp 120 Seiten zu Gemüte zu führen, will man etwas über eine der wesentlichen Bedrohungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens unserer Gegenwart erfahren.

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