WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN

Mariana Leky gibt auf unkomplizierte und unprätentiöse Weise Einblick in die Conditio humana

Den einen ist die Welt nicht genug und sie greifen aus und suchen und suchen, andere bleiben ihr Leben lang an einem Ort und finden dort alles, was die Welt auch nicht zu bieten hat.

Mariana Leky setzt den Letzteren in WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN (2017/2023) ein kleines, bescheidenes Denkmal. Erzählt von der allwissenden Luisa, die nicht nur an Orten ist, wo sie nicht sein kann, sondern auch in den Köpfen ihrer Mitmenschen, wo sie deren Gedanken, Gefühle und Empfindungen wahrnimmt, erfahren wir vor allem von Selma, die zu Beginn der Geschichte ca. sechzig Jahre alt ist und die die Eigenart besitzt, gelegentlich von Okapis zu träumen. Das hat dann zur Folge, dass in den folgenden 24 Stunden jemand aus ihrem unmittelbaren Umfeld das Zeitliche segnet. Deshalb fangen die Menschen in dem kleinen Dorf im Westerwald nach Selmas Träumen, die sie nur schwer verstecken kann, an letzte Dinge zu regeln – manche schreiben Briefe und enthüllen Wahrheiten, die vielleicht besser verhüllt geblieben wären, andere tun exakt das Gegenteil und werden dadurch auch nicht glücklicher. Und ein jeder hofft, dass es ihn oder sie nicht trifft. Und wenn es ihn oder sie nicht getroffen hat, setzen diese Menschen viel daran, ihre Briefe zurück zu erhalten, wenn anderntags der Postbote den Kasten leert.

Leky erfindet ein herrliches Panoptikum teils etwas absurder Gestalten – da sind neben Luisa und  Selma der Optiker, den die Stimmen in seinem Kopf daran hindern ein wenig mehr Glück zu haben im Leben, und da ist Elsbeth, eine Königin des Aberglaubens, da ist Luisas Kindheits- und Jugendfreund Martin, dessen Vater Palm – ein harter Trinker und Schläger, den das Leben Mores lehrt – , da gibt es die immer schlechtgelaunte Marlies, von der Martin annimmt, das Schicksal habe sie ans Ende des Dorfes gesetzt, damit sie mit ihrem Weltverdruss etwaige Verbrecher verscheucht, da ist der Einzelhändler und da ist Luisas Mutter, die eigentlich immer nur mit sich und der Frage beschäftigt ist, ob sie ihren Mann verlassen soll, welcher wiederum eines Tages seine Arztpraxis schließt und in die Welt hinauswandert, um diese in sich hinein zu lassen. Und schließlich ist da Frederik, den Luisa trifft, als sie verzweifelt nach Alaska, einem monströs großen Hund sucht, den ihr Vater auf Anraten seines Psychoanalytikers angeschafft hat, um seinen Schmerz zu externalisieren, und der nun sein Leben hauptsächlich bei Selma verbringt. Frederik wird der eine Mann in Luisas erwachsenem Leben, doch da er in einem japanischen Zen-Kloster lebt, gestaltet sich diese Liebesgeschichte kompliziert und umfasst viele, viele Jahre.

Schon aus dieser Aufzählung geht hervor, dass Leky eine manchmal nahezu bizarre Geschichte erzählt, deren Personal ausgesprochen obskur daherkommt. Und derart ist auch der Ton, den die Autorin setzt. Dies ist oft zum Schmunzeln, manchmal zum Schreien komisch und fast immer todtraurig. Bemerkenswert ist, dass sie diesen Ton durchhält, ohne auch nur einmal zu schwächeln. Wann auch immer die Geschichte droht, unter Kitschverdacht zu geraten, grätscht Luise/Leky mit einem Satz dazwischen, der derart profan daherkommt, derart prosaisch jedwede Gefühlsduselei oder Sentimentalität wieder erdet, dass dies nie, wirklich nicht ein einziges Mal, zur falschen Seite kippt. Im Gegenteil. Manchmal wünschte man sich von der Erzählerin etwas mehr Tiefenschärfe, manchmal ein wenig mehr Mitleid mit dem Personal des Romans und dem Leser, aber wie ihre Oma Selma, hat sie nur wenig Verständnis für Metaphern – was im Laufe der Erzählung wiederum zu urkomischen Momenten und Dialogen führt. Große Weisheit(en) inklusive.

Dabei gelingen Leky durchaus Momente tiefer Menschlichkeit. Luisa, die im Alter von etwa zehn Jahren einen Verlust verkraften muss, der ihr ganzes späteres Leben bestimmen wird und auf den sie reagiert, indem sie tagelang schläft – und während dieser Tage von ihrer Oma, an der sie sich im Schlaf festklammert, so lange herumgetragen wird, bis es einfach nicht mehr geht. Oder die Stimmen des Optikers – in der Verfilmung zu stark zu Beweisen einer psychotischen Störung ausgearbeitet – , die ihn ein Leben lang davon abhalten, Selma seine Liebe zu gestehen, was sich dann, ganz am Ende, doch als der richtige Ratschlag erwiesen haben wird. Oder die Geschichte von Palm, den ein Schicksalsschlag zu einem Geläuterten werden lässt. All diese Menschen – und einige mehr – leben unterm Strich ganz einfache, normale, durchschnittliche Leben, die sie nie hinausführen in die große weite Welt, wie es bei Luisas Vater der Fall ist, der aber doch immer nur wirkt, als sei er auf der Flucht. Und doch sind dies alles ausgesprochen individuelle Leben, denen Leky dadurch, dass sie sie ein wenig überhöht, sie ein wenig skurriler wirken lässt, als die Wirklichkeit es zuließe, ihren ganz eigenen Stempel, ein jeweiliges Markenzeichen gibt. Und damit beweist, wie auch in einer sehr kleinen Gemeinschaft – oder gerade dort – ein jeder seine Markierung, seinen Abdruck im Leben der anderen, und in der Welt hinterlässt. Egal, wie lange man auf dieser wandelt. Manches wirkt weit, weit über die eigene Zeit hinaus.

Allerdings hat Leky eben auch eine sehr wache Antenne für menschliche Beziehungen. Und die werden hier ebenso gnadenlos wie lakonisch, fast nebenher, seziert. Und dabei fällt vor allem die Bindungslosigkeit auf, die nahezu alle Eltern zu ihren Kindern aufweisen. Diese Menschen scheinen, sobald sie ins Stadium der Elternschaft eingetreten sind, ausschließlich mit sich selbst beschäftigt gewesen zu sein. Ausnahme auch hier mag Selma sein, doch bleibt diese, auch wenn sie so etwas wie die heimliche Hauptfigur des Romans und der Fixpunkt des Dorfes zu sein scheint, doch seltsam undurchsichtig, oder, wie es im Roman selbst einmal Frederik über Luisa sagt: wie hinter einer Milchglasscheibe. Verschwommen. Wie sich ihr Verhältnis zu ihrem eigenen Sohn gestaltet? Wirklich kommt man nie dahinter. Selma wirkt wie ein Mensch, der sich mit nahezu allem abfindet, dabei unbelastet, aber auch unberührt von den Schlägen, die das Leben so bereithält. Als sähe sie die Welt wie das Negativ einer Aufnahme, die sie ununterbrochen studiert.

Das ist ausgesprochen unterhaltsam geschrieben, ungeheuer genau und exakt in der Sprache, urkomisch und präzise in den Dialogen und geprägt von tiefen Einblicken in das menschliche Dasein. Das ist aber nicht, wie es gern hier und da in der Kritik beschrieben wird, ein Feelgood-Stoff, der den Leser schlussendlich mit der Welt versöhnt. Nein, es ist ein Roman, der dem Leser zu vermitteln versteht, dass der Lauf der Dinge nun einmal ist, wie er ist und ein jeder – ob Christ oder Buddhist, ob menschliches oder tierisches Wesen – auf seine Art damit zurechtkommen muss. Ob man dabei glücklich wird? Schwierige Frage. Vielleicht, so denkt man, wenn man das Buch schließt, vielleicht kommt es darauf gar nicht unbedingt an.

 

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