EIN SOHN DER STADT/WHERE YOU ONCE BELONGED

Der zweite Roman aus Kent Harufs Holt-Zyklus

EIN SOHN DER STADT (WHERE YOU ONCE BELONGED; original erschienen1990, Dt. 2021) war der zweite Roman von Kent Haruf. Haruf schrieb lediglich sechs Romane, die alle in der Kleinstadt Holt in Colorado angesiedelt sind. Das Portrait dieser Kleinstadt wurde sein schriftstellerisches Vermächtnis. Es ist das Portrait eines ganz normalen, durchschnittlichen Amerikas, ein Amerika, das abseits der großen Metropolen und den Küsten existiert, jenes Amerika, das oft als „Heartland“ bezeichnet wird, als Herzland dieses gewaltigen Kolosses zwischen Atlantik und Pazifik.

Der Diogenes-Verlag widmet sich der ehrenwerten Aufgabe, Harufs Werke teils erstmals, teils in neuer Übersetzung, auf Deutsch zu veröffentlichen. Hiermit ist in leider a-chronologischer Reihenfolge der vorletzte Band erschienen, es fehlt nur noch Harufs Debut THE TIE THAT BINDS (1984). Man darf hoffen, daß dies im kommenden Jahr nachgeholt wird.

Wer nun als deutscher Leser die vier bereits erschienenen Bände kennt, der ist vertraut mit Harufs sehr humanistisch geprägten, sehr unaufgeregten Erzählweise, die von Leid und Not ebenso nüchtern zu berichten weiß, wie sie entspannt von Freude, Liebe und Freundschaft erzählt. Umso interessanter, nun diesen frühen Band der Serie lesen zu können. Er wurde von pocia und Roberto de Hollanda kongenial übersetzt. Und das ermöglicht dem deutschen Leser, neben einer spannenden Geschichte, der es zu folgen gilt, auch einen Autor dabei zu beobachten, wie er seinen Stil noch sucht, sich seiner Vorbilder bedient und durchaus auch Referenzen auf diese Vorbilder liefert.

Erzählt wird aus der Ich-Perspektive von Pat Arbuckle, Herausgeber des Holt Mercury und damit einer der Honoratioren der Stadt. Er berichtet davon, wie im Jahr 1985 Jack Burdette nach Holt zurückkehrt. Burdette war acht Jahre zuvor verschwunden und hatte dabei die Kasse der lokalen Landwirtschafts-Kooperative um 150.000 Dollar erleichtert. Er ließ allerdings auch eine schwangere Frau – Jesse Burdette – und zwei kleine Söhne sowie eine vor Wut schäumende Stadt zurück. Für Arbuckle ist dies allerdings nicht einfach eine Story, denn er selbst lebt seit einiger Zeit mit Jesse zusammen, nachdem ihn seine Frau Nora nach achtzehn Jahren Ehe und einem fürchterlichen Schicksalsschlag verlassen hat. Er ist also persönlich betroffen. Hinzu kommt, daß er einst mit Burdette eng befreundet war. Lang ist´s her.

Burdettes Wiederauftauchen ist für Arbuckle allerdings eher ein Anlass, ein weit ausgreifendes Panorama der Stadt und seiner Bewohner zu malen. Zwar bleibt er eng an seiner Geschichte, kehrt immer wieder zu Jack und dessen Taten und Untaten zurück, doch betreffen die eben viele Menschen in Holt. Da ist Wanda Joe Evans, die acht Jahre lang Burdettes Freundin war und dann von ihm sitzen gelassen wurde, woran sie beinah zerbricht. Da ist Archie Withers, der Vorsitzender der Kooperative war und jahrelang darunter litt, Burdette nicht durchschaut, im Gegenteil befördert zu haben und damit nicht ganz unschuldig zu sein an dem Betrug, den dieser begangen hat. Da sind etliche Männer, die täglich ihre Posten auf der Mainstreet beziehen und das Tagesgeschehen kommentieren, es gibt Frauen, die in den Läden und Geschäften in der Stadt Gerüchte und Tratsch verbreiten und einordnen, es gibt Teenager, die Teenager-Dinge tun und manchmal mit ihrem Leben dafür bezahlen und es gibt Jesse Burdette, die in einer der literarisch fürchterlichsten Szenen, die man sich vorstellen kann, auf schreckliche Weise für das Unrecht büßt, daß ihr Mann angerichtet hat und an dem sie keinen Anteil hatte.

In der äußeren Form erinnert dies ein wenig an Sherwood Andersons großen Kleinstadtroman WINESBURG, OHIO, der erstmals 1919 erschienen ist. Auch Anderson hatte sich einen roten Faden gewählt – in seinem Fall war es das eigene Fortkommen und die Frage, ob ein aufgeweckter junger Mann, der die Welt kennenlernen will, auch in der Provinz leben kann – um dann ein ganzes Bündel kleiner und großer Anekdoten über eben jenes Winesburg zu erzählen. Jene Erzählung war aus der subjektiven Perspektive des jungen Manns erzählt, der seinerseits bei der lokalen Zeitung arbeitet. Haruf hat sich offensichtlich an diesem Schlüsselwerk der amerikanischen Moderne orientiert und bedient sich eines allerdings älteren Herausgebers und Zeitungsmanns. Und da Pat Arbuckle, sein Erzähler, nun einmal ein Zeitungsmann ist, wirkt auch sein Bericht gelegentlich wie ein Zeitungsbericht.

Dennoch – wer Haruf kennt, wird hier auch überrascht werden. Denn er tastet sich noch vor, sucht noch nach seiner Sprache, seinem Stil, dem richtigen Ton. Manches hier ist weitaus dramatischer als in seinen späteren Romanen, vor allem aber wird Dramatisches auch dramatischer geschildert. Die bereits erwähnte Szene, in der sich die um ihr Geld geprellten Männer der Stadt an Burdettes Frau rächen – oder sie ihnen diese Rache anbietet, um selbst wieder zu einem „ehrenhaften“ Mitglied der Stadtgesellschaft zu werden – ist da nur die Spitze der Dramatisierung. Auch das Ende des Romans ist für Haruf-Verhältnisse schon extrem zu nennen. Anderes, wie bspw. der Tod von Arbuckles Tochter, der zum endgültigen Zerwürfnis mit seiner Frau Nora führt, wird nahezu nüchtern erzählt, was einerseits dem nicht vergehenden Schmerz eines Vaters geschuldet sein mag, der mit der größtmöglichen Distanz von diesem Unglück, das man nur tragisch nennen kann, berichtet, es ist aber auch schon ein Aufblitzen von Harufs späterem Stil.

Haruf ist ein Beobachter, er schildert den Menschen menschlich. In seinen Erzählungen werden manchmal großes Leid, oft aber auch die Kraft von ganz einfachen Menschen, die einfach ihr Leben leben wollen, beschrieben. Er erzählt von Mitmenschlichkeit und Vergebung ebenso, wie er von Fehlern erzählt, die aber meist verzeihbar sind, weil sie zutiefst menschlichen Ursprungs und wir alle eben weder vollkommen, noch abgrundtief böse und schlecht sind. Diese Haltung einer zurückhaltenden, leisen Distanz und Beschreibung macht eben Harufs außergewöhnlichen Stil aus.

EIN SOHN DER STADT ist in gewisser Weise ein weitaus konventioneller Roman, als seine Nachfolger, er beschäftigt sich aber dennoch schon mit uramerikanischen Phänomenen und schon hier kann man spüren, wie es gelingt, amerikanischen Alltag, die amerikanische Gesellschaft im Kleinen einzufangen und abzubilden.

Dieser Jack Burdette war einmal das, was man in den USA gern einen Local Hero nennt. Er war nie ein besonders guter Schüler, aber er war ein bärenstarker Kerl, der einige Erfolge mit dem Footballteam einfahren konnte. Er war beliebt, ihm wurden seine gelegentlichen Ausrutscher gern verziehen, er war charmant und ein Frauenheld, der in den Kneipen und Bars seine Witze und Geschichten erzählte und in dessen Glanz sich gern die weniger Begnadeten sonnten. Daß er das Studium geschmissen hat, daß er zur Armee abgehauen ist, daß er Wanda Joe hat sitzenlassen, daß er eine Ortsfremde geheiratet und in die Stadt gebracht hat – all das ließ man ihm durchgehen. Erst als er die Stadt beklaut und gen Kalifornien abhaut, wird er verfemt. Und seine Rückkehr wird – trotz Verjährung – zu einem Fanal. Wenn auch anders, als es die Männer der Stadt wohl erwartet hatten, bei denen die alten Reflexe des Westens aufflackern und die den verlorenen Sohn der Stadt am liebsten wahrscheinlich am nächstbesten Baum aufknüpfen würden.

Kent Haruf ist hier ein mitreißender, ein spannender Roman gelungen, der sehr gut ins Universum der Kleinstadt Holt einführt: Denen, die diesen besonderen Autor noch nicht kennen und jetzt erst entdecken, sei er als Erstlektüre empfohlen. All jene, die Haruf nun schon eine Weile verfolgen, haben nun – außer sie warten auf die Veröffentlichung des allerersten Bandes dieser Reihe – die Möglichkeit, die Lektüre von vorn zu beginnen, diesmal in chronologisch „richtiger“ Reihenfolge.

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