WAS WENN EUROPA SCHEITERT?
Aus aktuellem Anlaß...
2011/12, mitten in der Krise um die schwächelnden Banken und das dem Abgrund entgegentaumelnde Griechenland, schrieb der niederländische Publizist Geert Mak die Notizen nieder, aus denen der vorliegende Essay werden sollte. Liest man die schmalen 140 Seiten heute, mit dem Wissen um das griechische Drama des Winters 2014/15, lesen wir diese Zeilen mit dem Wissen der momentan herrschenden „Flüchtlingskrise“, die in Wirklichkeit – ich zitiere den Moderator Max Moor – lediglich eine Organisationskrise ist, muß man schon stutzen. Heute sehen wir Europa doch noch ein ganzes Stück näher an der Erosion, denn im Herbst 2011. Und das ganz ohne (echte) Finanzkrise. Den Banken um die 800 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen, da sie als „systemrelevant“ zu erhalten seien, ist nun mal sehr viel einfacher, als 1,2 Millionen Menschen mit Nahrung und einem Dach über dem Kopf durch den europäischen Winter zu bringen.
Mak geht in seiner kleinen Zustandsbeschreibung Europas von den Verwerfungen aus, die die Finanzkrise in die Europäische Union getragen hatte und die – bis heute – die Frage aufdrängen, wie dieses Europa zueinander steht. Damals war viel die Rede von Euro-Bonds und einer Transferunion, davon, daß der „reiche“ Norden nicht für den „armen“ Süden zahlen wolle und beide – Norden und Süden – eine vollkommen andere Auffassung davon hätten, wie dieses Europa funktionieren, ja, was es eigentlich bedeuten solle. Bis heute sind diese Fragen nicht nur nicht beantwortet, im Gegenteil haben wir nicht einmal daran gearbeitet, ein entsprechendes Forum zu schaffen, in welchem diese Fragen diskutiert werden könnten. Dabei wird dieses Forum dringender gebraucht denn je, denn die JETZT anstehenden Fragen sind weitaus existenzieller und weitreichender, als jene nach dem schnöden Mammon von vor drei Jahren. Jetzt steht Europa mit seinen WIRKLICHEN Werten im Scheinwerferlicht, JETZT entscheidet sich, ob wir wirklich christlichen Tugenden und Werten verpflichtet sind, oder ob diese Tugenden und Werte immer nur zu den Sonntagsreden zum Maastricht-Gedenken oder dann aus der Schublade geholt werden, wenn es darum geht, bei den Bürgern Schönwetter zu machen.
Geert Mak verfolgt für den Leser noch einmal den Werdegang dieser Einheit eines Kontinents, der sich nahezu 2000 Jahre lang lediglich selbst zerfleischen konnte, anstatt Konstruktives zu schaffen. Noch einmal verweist er für den Leser darauf, aus welchen Gedanken, Nöten und Erlebnissen heraus diese ursprüngliche Montanunion gebildet wurde, daß man es damit zu tun hatte, dieses Monstrum, daß da in Europas Mitte thronte und in 30 Jahren zweimal unglaubliches Leid und Elend über den Kontinent gebracht hatte – gemeint ist Deutschland – zu bändigen, aber auch, es einzubinden. Mak erklärt dem Leser noch einmal, welche Gedanken und Ängste diese frühen Europäer – darunter der Deutsche Willy Brandt – angetrieben hat und welcher Geist hinter der ursprünglichen Idee stand – nämlich einen Verbund von Staaten zu schaffen, die, eingebunden in wechselseitige Verträge und Abkommen (wozu natürlich auch die Westbindung durch die entstehende NATO zu zählen ist), nicht mehr ohne Weiteres aufeinander los gehen könnten, ohne dabei jeweils massiven Schaden für sich selbst in Kauf nehmen zu müssen. Nach einem nahezu „30jährigen Krieg“ (Eric Hobsbawm), ging es ursprünglich weniger um Freihandelszonen, Wirtschaftsräume oder Währungseinheit, als ganz einfach darum, den Frieden zu sichern.
Mak, wie so viele „Alte“, weist darauf hin, daß die Jüngeren, die im Frieden und, sind sie nach 1950 geboren, auch in stetig wachsendem Wohlstand aufgewachsen sind und gelebt haben, diesen Frieden und auch den Wohlstand, den er generiert hat, als etwas Selbstverständliches nehmen. Und er verweist darauf, daß diese Selbstverständlichkeit einen Hang zum Neoliberalismus, zur Vereinzelung und einem überbordenden Individualismus gefördert habe (S. 107/08/09). Eine These, die sicherlich diskussionswürdig ist, wahr ist allemal, daß denjenigen, die Krieg, Hunger, Not oder Vertreibung nicht selber erlebt haben, es zusehends schwer fällt, sich mit diesem Teil deutscher/europäischer Geschichte oder generell der Verantwortung, die aus der Geschichte erwächst, auszueinander zu setzen. So könnte eine Generation eher aus Versehen, keinesfalls mutwillig, zerstören, was zwei Generationen davor mühsam aus den Trümmern des 2. Weltkrieges erbaut hatten. Und ganz sicher fehlt da ein gewisses Gran Empathie, um denen, die da zu uns kommen entsprechend entgegen zu kommen.
Unterteilt in fünf Kapitel, berichten uns drei Fünftel des Textes wirklich nur noch einmal Werden und Entwicklung der EU und vor allem, wie es zur aktuellen Krise kam. Naturgemäß ist das eine sich vor allem am Fiskalischen wie Ökonomischen ausrichtende Beschreibung. Erst in den letzten beiden Kapiteln kommt Mak dazu, dem Leser noch einmal vor Augen zu führen, welche nichtökonomischen, welche sozialen und kulturellen Folgen ein Zerbrechen der EU bedeuteten. Doch fällt auch ihm keine Lösung zu den herrschenden Problemen ein. 2011/12 war auch ein eher liberal denkender Historiker, Jurist und Publizist noch nicht wirklich bereit, vom Primat des Ökonomischen abzurücken. Obwohl Mak dies einfordert, spürt man durch seinen Text hindurch immer, wie stark das Ökonomische Blaupause und Strukturmerkmal seines Denkens bleibt. Auch er ist nicht fähig, offen zu sagen, daß es OHNE eine Transferunion nicht gehen wird. Und daß es ein Mehr an Transparenz braucht, auch ein echtes Mehr an Mitbestimmung für die Völker Europas, ja, die Bevölkerung Europas. All das steht im Raum, auch im Raum seines Textes, doch wie verhuscht, wollte man meinen.
Dabei zeigt er durchaus vielschichtig auch die problematischen Denkunterschiede in verschiedenen Bevölkerungen und – wichtiger – Sprachräumen auf. Mak verdeutlicht, daß die Deutschen und Niederländer, die von „Schuld“ und „Schulden“ sprechen, wenn es um die Frage von VerSCHULDung geht, mit einem letztlich moralisch geprägten Denken an die Problematik herangehen. Anders jene Länder – die, wie das Englische zum Beispiel, das von „debt“ spricht, wenn es die finanziellen Schulden meint, die nichtmaterielle Schuld hingegen mit „fault“, bzw. „guilt“ bezeichnet – die materielle/finanzielle und immaterielle Schuld schon sprachlich voneinander zu trennen verstehen (S. 100).
Im Herbst 2015 sind wir weiter. Europa stellt sich uns nicht mehr als ein Abstraktum aus gigantischen Zahlenkolonnen dar. Auf einmal hat es Gesichter – die Gesichter derer, die hier hinkommen wollen, weil dieses Europa mit seinem Wohlstand, seiner Rechtsstaatlichkeit und seinen Demokratien ein Versprechen ist, immer noch. Es ist ein Versprechen und ein Wechsel auf eine Zukunft, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen soll. Zugleich zeigt dieses Europa aber auch die hässlichen Fratzen jener, die den Neuankömmlingen dieses Ankommen entweder unmöglich machen wollen und Grenzzäune errichten, oder aber so viel Schrecken zu verbreiten gedenken, daß die, die hier sind, nicht gern hier bleiben. Und Europa hat auch das karikaturhafte Gesicht einer Krämerseele erhalten, die ein Leben gegen ein Leben aufzurechnen versteht und schließlich auch Begründung findet, die diese Aufrechnerei rechtfertigt. Europa sollte inne halten und sich noch einmal sehr genau überlegen, was es sein will und was es bereit ist, dafür aufzugeben. Was wir sehen, sind wieder erstarkende Nationalismen, die uns auf eben jene Weise bedrohen können, wie sie es 1914 schon einmal taten.
Geert Mak liefert mit seinem schmalen Bändchen eine gute Anleitung, sich noch einmal mit der Geschichte dieses uns heue gegenwärtigen Europas zu beschäftigen; nicht ersetzen wird es uns die Mühe, Rechenschaft vor uns selbst abzulegen, darüber wer wir sind, was wir wollen und wie wir erreichen, was wir haben und sein wollen. Mak gibt keine Anleitung, aber einen kleinen Stein für das Gedankengebäude, das weiter zu denken wir niemals müde werden sollten.
„Europa darf nicht scheitern“ klingt wie ein leicht dahin geschwurbelter Imperativ und allzu leicht ist es, sich zynisch über die Fehler und Falschheiten des bestehenden Konstrukts zu erheben. Doch sollte man nicht vergessen, wie viele Leben, wie viel Blut, Leid und Tränen es gekostet hat, überhaupt erst einmal an einen Punkt in der Geschichte zu gelangen, an dem ein so undankbares Konstrukt wie die Europäische Union zu denken möglich war. Es ist eine wunderbare Idee, die einfach schlecht realisiert wurde. Deshalb sollte aber die Idee nicht diskreditiert sein. Denn dann drohen uns eben jene Geister der Vergangenheit einzuholen, die wir doch eigentlich überwunden geglaubt hatten.