WIND RIVER
Taylor Sheridan liefert einen kleinen, feinen Thriller aus und über Amerika
Obwohl er selber kein Indianer ist, arbeitet Cory Lambert (Jeremy Renner) als Wildhüter und Jäger für den Fish and Wildlife Service im Reservat ‚Wind River‘ in Wyoming. Drei Jahre bevor die Handlung einsetzt, wurde seine Tochter entführt und später tot aufgefunden. Seine Ehe mit der Indianerin Wilma (Julia Jones) ist daraufhin zerbrochen, gemeinsam kümmern sie sich jedoch um ihren Sohn Casey (Teo Briones).
Lambert soll für seinen ehemaligen Schwiegervater einen Puma jagen. Unterwegs in den Bergen entdeckt er die Leiche einer jungen Frau. Er erkennt in ihr sofort Natalie Hanson (Kelsey Asbille) , die Tochter seines Freundes Martin (Gil Birmingham) und einstmals beste Freundin seiner Tochter.
Das FBI schickt eine junge Agentin, Jane Banner (Elizabeth Olsen), die zufällig am nächsten am Tatort war. Sie soll feststellen, ob es sich hier überhaupt um ein Verbrechen handelt. Der Rechtsmediziner kann dies jedoch nicht mit Sicherheit bestätigen. Zwar wurde die junge Frau mehrfach vergewaltigt und auch geschlagen, sie starb jedoch an einer Lungenembolie, hervorgerufen durch die extreme Kälte, der sie ausgesetzt war.
Banner, die sich weder mit den Wetterverhältnissen noch den Örtlichkeiten oder den sozialen Verhältnissen im Reservat auskennt, bittet Lambert, sie bei ihren Ermittlungen zu unterstützen. Als sie Natalies Eltern besuchen, muß Banner feststellen, daß ihr trotz ihrer Rolle als Ermittlerin nicht jeder wohlgesonnen ist. Martin fordert Cory, der seinem Freund alle Unterstützung verspricht, die er als ebenfalls Leidtragender geben kann, auf, den oder die Täter zu suchen und zu töten. Cory sagt ihm dies zu.
Mit Hilfe von Sheriff Ben Shoyo (Graham Greene) ermitteln die beiden zunächst bei Natalies Bruder Chip (Martin Sensmeier). Als sie zu dessen Behausung, einem Trailer, den er sich mit Freunden teilt, gelangen, kommt es zu einer Auseinandersetzung mit einigen dieser Freunde. Banner erschießt bei einem Angriff einen der Männer. Chip wirft Cory vor, kein Indianer zu sein und verweigert jedwede Mithilfe. Doch schließlich verrät er dem Freund seines Vaters, daß Natalie ihrerseits einen Freund hatte, Matt Rayburn (John Bernthal), der für den Sicherheitsdienst einer nahegelegenen Ölraffinerie arbeitete.
Lambert entdeckt Spuren eines Schlittens, die von Chips Trailer in die Berge führen. Er und Banner folgen den Spuren und finden schließlich Rayburns Leiche. Banner beschließt, mit dem Sheriff und zwei von dessen Männern zu der Raffinerie zu fahren, während Lambert sich weiter in den Bergen umtun will auf der Suche nach Spuren, aber auch nach dem Puma, den er seinem Schwiegervater noch schuldig ist.
Als Banner mit ihren Leuten auf dem Gelände der Ölfirma eintrifft, sehen wir in einer Rückblende, was in der betreffenden Nacht wirklich geschah: Natalie war bei Matt, beide dachten, sie hätten sturmfreie Bude. Doch dann kamen Matts Kollegen zurück. Der betrunkene Pete Mickens (James Jordan) fing an, Natalie zu begrapschen, woraufhin es zwischen ihm und Matt zu einer heftigen Auseinandersetzung kam. Natalie, die Matt zu helfen versuchte, wurde niedergeschlagen. Die Männer vergingen sich an der bewusstlosen Frau, bis der von den Schlägen ohnmächtige Matt wieder zu sich kam und erneut auf seine Kollegen losging. Während die ihn totprügelten, floh Natalie in die Nacht hinaus, wo sie aber, barfuß und ohne Jacke bald in der Kälte zusammenbrach und starb.
Banner klopft mehrfach an die Tür des Trailers, als das Feuer auf sie eröffnet wird. Es kommt zu einer wilden Schießerei zwischen Banner, dem Sheriff und seinen Leuten und den Angehörigen des Wachdienstes. Banner liegt schwer verletzt im Schnee, Ben Shoyo und sseine Leute wurden gnadenlos von den Wachdienstmännern erschossen und nun soll auch die FBI-Agentin sterben, doch Lambert hat den Schußwechsel verfolgt, sich an das Lager angeschlichen und tötet die verbliebenen Wachleute mit gezielten Schüssen. Nur Pete kann entkommen.
Nachdem er Banner versorgt hat, folgt Lambert dem letzten Täter, stellt ihn und zwingt ihn, zu gestehen. Gestehe er, gebe er, Lambert, ihm eine Chance zu entkommen – exakt die, die Natalie gehabt habe. Pete gesteht alles und Lambert schickt ihn barfuß und ohne Jacke in den Schnee hinaus. Nach wenigen Hundert Metern bricht Pete zusammen und stirbt.
Lambert besucht Banner im Krankenhaus. Sie wusste, daß er Pete nicht am Leben lassen würde. Das hatte Lambert ihr klar gesagt. Sie sieht es so, daß sie in Lamberts Schuld steht, weil er ihr Leben gerettet habe. Sie habe nur Glück gehabt, daß sie noch lebe und er rechtzeitig aufgetaucht sei. Er verneint das und merkt an, daß es „hier draußen“ kein Glück gäbe. Man müsse die Bedingungen annehmen. Entweder man sei stark genung, dann überlebe man, oder man sterbe halt. Sie habe um ihr Leben gekämpft, nun gehöre es ihr.
Als Lambert Martin besucht, hat der sich sein „Totengesicht“ aufgemalt. Er wollte sterben. Doch Chip habe angerufen, er dürfe den Polizeiarrest verlassen. Daraufhin habe Martin beschlossen, nicht zu sterben, er wolle aber noch etwas hier sitzen und sich sammeln, bevor er Chip abholen fahre. Ob Lambert Zeit habe, mit ihm zu sitzen. Lambert sagt, er gehe nirgendwo hin.
Mal Steppen und Prärien unter hohen Himmeln, mal Wüsten, mal Sümpfe, mal weite Schneefelder zwischen erhaben aufragenden Bergen – Amerika bietet immer wieder eine Natur, der Pathos, Schönheit und Gewalt innewohnen. Das Pathos der Überwältigung, die Schönheit des Entrückten, des Übermenschlichen, der Wildheit, in der der Mensch nur noch winziger Bestandteil von weitaus Größerem zu sein scheint, und genau darin liegt auch die Gewalt des Erhabenen. Hier bringt der Mensch die Kraft auf, zu Überleben, oder aber er geht unter; hier, so sagt es die Hauptfigur in WIND RIVER (2017), hier gibt es kein Glück. Nur Stärke. Und Schwäche.
Die Natur als Spiegelbild menschlicher Beschaffenheit ist fast schon ein Topos in der amerikanischen Literatur und im amerikanischen Kino. Ein ur-amerikanisches Narrativ. Und gerade der Widerspruch von Schönheit und Gewalt, äußerer Wahrnehmung und innerem Sein, kann in diesem Topos so vortrefflich ausgedrückt werden. Regisseur Taylor Sheridan macht sich diese Widersätze zunutze, um eine bittere Parabel von einem Amerika zu erzählen, in dem die Gesellschaft zerfällt, die Einzelteile kaum mehr miteinander in Verbindung stehen und die daraus resultierende Gewalt zu einer Kommunikationsform wird. Wie der Natur scheint der Einzelne den Gewalten des menschlichen Wesens, seinem atavistischen Urgrund, seiner Ur-Gewalt, ausgeliefert zu sein. Bei geringster Gelegenheit bricht er ein, der berühmte und oft beschworene Firnis der Zivilisation. Innere, seelische Landschaften, die ihren Ausdruck in der Beschreibung äußerer Umgebung, eines Environments, erhalten. Und wie es so viele amerikanische Autoren und Regisseure gewinnbringend vor ihm getan haben, nutzt Sheridan die Form der Kriminalgeschichte, um sein düsteres Gleichnis zu erzählen. Ein Thriller in den eisigen Bergen eines winterlichen Wyomings.
Sheridan, der auch das Buch zu seinem Film geschrieben hat, skizziert eine Gesellschaft, in der der Außenseiter bereits zur Norm geworden ist. Cory Lambert, ein Wildhüter und Jäger, ist durch den Verlust seiner Tochter ebenso traumatisiert wie stigmatisiert. Der aktuelle Tod einer jungen Frau, der zum Auslöser der im Film geschilderten Ereignisse wird, macht ihn plötzlich zu einem Wissenden für die, die mit ihrem Verlust erst umzugehen lernen müssen – und schließlich zu einem Racheengel für die unschuldig Getöteten, ein schwarzer Engel für die Verdammten. Angesiedelt in einem Indianerreservat Wyomings, lernen wir eine Gesellschaft der Vereinzelten kennen: Lambert und seine geschiedene Frau; die Eltern des toten Mädchens, getrennt im Schmerz; eine FBI-Agentin, die überfordert ist in einer Umgebung, die ihr vollkommen fremd ist und Fähigkeiten erfordert, die ihr nicht gegeben sind; unterschiedliche Polizeieinheiten, die unterschiedliche, sich widersprechende Kompetenzen aufweisen; isolierte Männer, die eine isolierte Männergesellschaft bilden; im Hintergrund die Indianer, die ein stigmatisiertes Leben am Rande der amerikanischen Gesellschaft führen, geprägt von Arbeitslosigkeit, Drogen und eben einer latent immer vorhandenen, sporadisch ausbrechenden Gewalt. Da Lambert kein Indianer ist und sich – wie ihm der Sohn eines Freundes auch unumwunden ins Gesicht sagt – nur durch die Ehe mit einer Indianerin und seine tote Tochter mit dem Volk im Reservat verbunden fühlen darf, lässt sich Sheridans Idee leicht auf die amerikanische Gesellschaft als solche übertragen.
Cory Lambert entspricht in vielem dem klassischen Helden (oder Anti-Helden) des amerikanischen Genres schlechthin – dem Western. Vielleicht wurde WIND RIVER deshalb gern zum Western erklärt, doch tut man dem Film damit keinen Gefallen, denn er gibt sich redlich Mühe, seine Geschichte realistisch zu erzählen, in einem realistischen Setting und mit realistisch gestalteten Konflikten und Figuren. Weit entfernt ist er vom Mythos und dem Mythologischen, das der Western so zwingend braucht, ja sucht, um überzeugen zu können. Diesem Mythologischen entzieht sich WIND RIVER und macht es seinem Publikum somit gerade dann nicht leicht, wenn sich sein Held (oder Anti-Held) genau wie ein Westerner verhält. Wenn er Rache übt, Selbstjustiz, wenn man so will. Und dies auch ankündigt. Doch gelingt es Sheridan, diesen Aspekt seiner Geschichte erstaunlich niedrig zu hängen, ja, in gewisser Weise verstehen wir denn Akt sogar als zwingend. Er entspricht sowohl dem Land, als auch der Gesellschaft, die der Film zeigt und defiiniert. Die Härte, die in dieser eisigen Kälte herrscht, fällt auf alle zurück und somit entsteht der Eindruck, daß wir es mit dem völlig normalen Gang der Dinge zu tun haben. Wenn Lambert der FBI-Agentin Banner erklärt, daß es Glück hier draußen nicht gäbe, sondern nur Stärke und Schwäche und das die Wölfe sich die schwachen Tiere aus der Herde holten, scheint er ihr damit das Naturgesetz dieser Gesellschaft zu erklären. Und zugleich definiert er damit die Distanz, die diese Menschen möglicherweise schon zum Menschlich-Sein eingenommen haben. Wie Teile des Rudels verhalten sie sich und genau das erkennt FBI-Agentin Banner an. Lambert hat dem Mörder der jungen Frau eine faire Chance gegeben – er durfte, wie sie, versuchen, in der Eiseskälte, barfuß, die Straße zu erreichen. Natürlich weiß Lambert, daß der Mann, wie zuvor sein Opfer, keine Chance haben würde. Das Gesetz der Natur. Schwäche wird bestraft. Die junge Frau hatte keine Wahl, sie wurde Opfer einer Horde betrunkener Männer, ihr Peiniger hat zumindest die Möglichkeit, über sich hinaus zu wachsen. Was ihm nicht gelingt.
Formal nutzt Sheridan die Regeln der Kriminalgeschichte, des Thrillers, um dann, gegen Ende seines Films, all diese Regeln aufzugeben. Die Lösung des Falles ist einerseits erdenklich „einfach“ und unspektakulär, andererseits entspricht sie eben mit tödlicher Präzision der inneren Logik dieser Story. Einsamkeit gebiert Monster. So einfach und so brutal kann die Wahrheit manchmal sein. Doch bis es soweit ist, baut WIND RIVER durchaus Spannung auf, ohne sich in all zu viele Komplikationen zu verstricken. Das Kompetenzgerangel verschiedener Polizeidienststellen wird thematisiert, führt aber nicht, wie sonst gern, zu ausgiebigen Schimpfereien übereinander, die FBI-Agentin ist nicht arrogant, sondern erkennt die Grenzen ihrer Kompetenz und anerkennt jene der Menschen um sie herum. Es werden keine falschen Fährten gelegt, der Film kommt schnell zur Sache und bleibt geradlinig. Es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die wiederum exakt den Bedingungen im Reservat geschuldet sind: Drogen und Einsamkeit. Die Bedingungen dieser Welt sind brutal und gewalttätig und genau so verhalten sich die Menschen auch. Zweimal kommt es zu unvorhergesehenen Konfrontationen, zweimal enden sie mit mindestens einem Toten. Und beide Male ist es erschreckend, wie wenig Aufhebens man darum macht, Menschen ausgelöscht zu haben. Gemessen an der Trauer, die WIND RIVER den Angehörigen um ihre ermordeten Töchter zugesteht, darf man davon ausgehen, daß Sheridan diese Kälte in einem inhaltlich wie formal kalten Film genau so ausstellen wollte. Wenn Töten zur Bedingung des eigenen Lebens geworden ist – was schon die Auftaktszene vor der eigentlichen Handlung für Lambert klar konstatiert – dann tötet man eben. Das gilt hier für nahezu jeden.
Taylor Sheridan hat zuvor u.a. das Drehbuch zu dem Texas-Thriller HELL OR HIGH WATER (2016) geschrieben und seltsamer Weise muß man die ganze Zeit an genau diesen Film denken, während man WIND RIVER betrachtet. Dort zog ein Brüderpaar raubend und tötend durch die sengende Hitze Texas`, über das flache, weite Land, hier verfolgt ein ungleiches Paar den Mörder einer Jugendlichen in der klirrenden Kälte der Rocky Mountains von Wyoming (wobei der Film allerdings in Utah gedreht wurde). In beiden Fällen wird die erhabene Schönheit der Landschaft, ihre Weite und Größe in Kontrast zur kleinteiligen Gewalt menschlicher Händel gesetzt, in beiden Fällen behält die Natur ihr Recht – und sei es nur dadurch, daß sie unbeteiligt auf die kleinen menschlichen Dramen blickt. War HELL OR HIGH WATER eine Ballade, in der wir der Gewalt momentweise unangenehm nah kommen – oder sie uns – , ist WIND RIVER eher eine Meditation, die uns die Gewalt als etwas Fernes, Distanziertes, als etwas der Natur Eingeschriebenes präsentiert, als etwas, dessen Natur selbst wir durchdringen und begreifen müssen, der wir uns anpassen müssen, wollen wir überleben. Das Brüderpaar in HELL OR HIGH WATER wird schier erdrückt von der Weite des texanischen Himmels, die Ermittler in WIND RIVER gehen verloren in den schneeweißen Flächen der Bergwelt. Zwei Seiten ein und derselben Medaille, will es scheinen.
Amerika könnte mehr sein als das, und doch trifft diese Betrachtung, die Sheridan anstellt, genau ins Schwarze einer Gesellschaft, deren Einzelteile ununterbrochen auseinanderdriften. War im älteren Film die Schuldenkrise geschickt präsent, die Geschichte also in ihrer Schlichtheit deshalb auf irritierende Art sehr zeitgemäß, wobei durchaus Parallelen zu früheren Wirtschaftskrisen aufschienen, scheint die menschliche Natur in WIND RIVER schlicht zeitlos gewalttätig zu sein, obwohl sich der Film mit all dem Hightech-Gerät, dessen die Protagonisten sich bedienen, sehr zeitgemäß gibt. Mag die Gesellschaft ihrs dazu tun, die zeitlosen Berge, der scheinbar ewige Schnee deuten einen Atavismus an, der aus der menschlichen Natur nicht auszumerzen ist. So bleibt der Zuschauer mit einem bitteren Geschmack nach einem ebenso spannenden wie erstaunlich ruhigen Film zurück. Amerikanische Filmkunst, die sich auf sich selbst besinnt. Man darf wieder Hoffnung haben.