1980/NINETEEN EIGHTY

Ein kurzer Moment der Hoffnung, bevor die Dunkelheit ewig wird: Band 3 des 'Red-Riding'-Quartetts

1980 (NINETEEN EIGHTY/2001; Dt. 2007) sind alle Beteiligten der Ermittlungen zu den Morden des Yorkshire-Ripper ermüdet, frustriert und entmutigt. Da wird Peter Hunter – ein Ermittler aus Manchester, der bereits frühere interne Ermittlungen leitete, darunter jene zum Massaker in einer Bar in West-Yorkshire, an der Eddie Dunford, Protagonist des ersten Bandes, 1974 (NINETEEN FOURTY-FOUR/1999; Dt. 2005) des Red-Riding-Quartetts von David Peace, beteiligt war – vom Innenministerium beauftragt, die Ripper-Ermittlungen zu untersuchen. Mit seinem handverlesenen Team aus vier Kollegen reist er nach Leeds und geht systematisch noch einmal alle Akten durch, die es bisher zu den Morden gibt. Er und sein Team versuchen Zusammenhänge herzustellen, Licht ins Dunkel der immer mehr versandenden Ermittlungen zu bringen, bei denen in Yorkshire scheinbar alle längst ihren Weg verloren haben. Nur wird Hunter im Verlauf seiner Recherchen immer bewusster, daß hier nicht einfach Schlampigkeit, eine gewisse Unlust und mangelnder Wille zur Aufklärung vorliegen, sondern offensichtlich auch bewusste Fehlinterpretationen, falsche Fährten und Annahmen gelegt und genutzt wurden, um ein größeres Bild hinter den Morden an bisher immerhin elf Prostituierten zu verstecken, Korruption und möglicherweise gar Schlimmeres zu kaschieren. Je näher Hunter einer vermeintlichen Wahrheit kommt, desto schwerer werden ihm die Ermittlungen gemacht, desto stärker wird er angefeindet und gemobbt, bis er nicht mehr weiß, wer Freund, wer Feind ist. Auch er selbst ist nicht ganz so sauber, nicht ganz so frei von Schuld, wie er sich gern sähe. Und der Ripper mordet weiter….

Band drei des Red-Riding-Quartetts, das David Peace in den Jahren 1999 bis 2002 veröffentlichte, wirkt wie eine Konsolidierung. Mit Peter Hunter, der in den Vorgängerbänden mehrmals erwähnt wird und bei seinen Kollegen verhasst ist, führt Peace eine der wenigen Figuren in sein Panoptikum an Schuldbehafteten, Sündern und Verdammten ein, die etwas heller strahlen, die nicht ganz so verkommen sind wie all die Eric Halls, Bob Fosters, Maurice Jobson´, Dick Aldeman´, Bob Craven und wie all die Polizisten heißen, denen man in Band eins und Band zwei bereits begegnet ist. Hunter scheint willens, wirklich aufzuklären, er und seine Truppe, vor allem sein Freund und Kollege John Murphy, auf den er große Stücke hält, gehen die Sache zunächst mit Enthusiasmus an und es gelingt ihnen auch, die einen oder andere Verbindung herzustellen. Und doch ahnt der Leser bald, daß die Kräfte, die sich mit aller Gewalt gegen diese interne Ermittlung stemmen, möglicherweise stärker als Hunter und seine Leute sind. Und vor allem haben sie ihrerseits Verbindungen, die es ihnen ermöglichen, im richtigen Moment auf diese Ermittlungen einzuwirken. Und sei es durch bitteren Verrat.

Einmal mehr entsteht vor den Augen des Lesers das Bild einer verkommenen, ja verdorbenen Gesellschaft. Peace arbeitet – wie in den Bänden zuvor auch schon – mit allerhand Mitteln der Verfremdung, mit Einschüben und Wiederholungen. Jedem Kapitel wird ein interpunktionsfreier Fließtext vorangestellt, den man komplett für sich lesen kann, unabhängig von den jeweils folgenden Kapiteln, da er sich fortsetzt. Es ist eine Mischung aus Akteneinträgen, späteren Erklärungen von Sutcliffe, dem Ripper, der 1980 schließlich eher durch Zufall gefasst werden konnte, aber auch aus den Stimmen seiner Opfer, die von einem Ort jenseits dessen, was wir uns vorstellen mögen, berichten. Von der Einsamkeit des Sterbens und der Hoffnungslosigkeit des Todes wird da durch geisterhafte Stimmen erzählt. Und wir begreifen immer besser, wie unwichtig all diese Frauen – und Kinder, denn unterschwellig wird immer auch die Geschichte der verschwundenen Kinder, die noch Band eins bestimmte, miterzählt – für so ziemlich alle sind, die an den Ermittlungen teilhaben. Immer gibt es etwas Wesentlicheres, eigene Vorteile müssen gesichert, eigene Machenschaften gedeckt werden. Und so ahnen wir eher, als daß wir wissen, wie tief die Verstrickungen einiger hier – Polizisten, Honoratioren, städtische Abgeordnete, Anwälte, Wirtschaftsmagnaten und Politiker – sind, wie einfach hier Menschen, auch solche, die eben noch Mit-Verschwörer und Kollegen waren, fallen gelassen werden und es drängt sich mehr und mehr der Eindruck auf, daß es in diesem Sündenpfuhl, dieser Hölle, die Yorkshire in den 70er und 80er Jahren nach David Peace Auffassung gewesen sein muß, keine Erlösung, keine Errettung, geben wird. Kein Ausweg. Und kein Ende.

Peace verstärkt jene Rhapsodie, die schon in Band zwei anklang, immer mehr.  Die ständigen Wiederholungen einzelner Sentenzen, Wörter, ganzer Absätze, in unterschiedlichen Zusammenhängen und nicht immer einer Figur zugeordnet (obwohl dies eines der wenigen strukturellen Merkmale des Textes ist, das Peace dann aber immer wieder durchbricht und aufgibt), stürzt, drischt geradezu auf den Leser ein und vermittelt den Eindruck, eher ein Langgedicht zu lesen, als einen Roman. Das könnte in seiner gefühlten Sprunghaftigkeit eine Hommage an William Burroughs´ Cut-Up-Techniken sein, erinnert aber mehr noch an die Texte eines Allen Ginsberg, an seine ellenlangen Wortkaskaden in THE HOWL und anderen Werken des Beat-Poeten. I saw the best minds of my generation destroyed by madness, starving hysterical naked, dragging themselves through the Negro Streets at dawn looking for an angry fix – jene ersten Zeilen dieses Großwerks der amerikanischen Dichtkunst des 20. Jahrhunderts könnten gut und gern auch als Motto über Peace´ Texten stehen. Das Apokalyptische, das darin schon angelegt und geradezu beschworen wird, die Unausweichlichkeit, die darin aufschimmert, all das ist in Peace Werken virulent. Nur – ob es sich bei seinem Personal wirklich um die „best minds of my generation“ handelt, daran kann man zweifeln. Denn niemand hier kommt ungeschoren davon – und die wenigen, die zumindest um Redlichkeit bemüht sind, wie Hunter, werden gnadenlos von jenen geopfert, denen sie im Wege stehen, zu nahekommen oder nützlich erscheinen, bzw. denen ihr Opfer nützlich erscheint. Aus der Sicht dieser aber – für die die Welt längst zur Hölle geworden ist in der absoluten Abwesenheit eines gnädigen und mitleidsvollen Gottes, für diese mag es zutreffen, zu den „besten Geistern ihrer Generation“ zu gehören. Es kommt darauf an, von welcher Seite, von welchem Standpunkt aus man es betrachtet. Und was man in solch einem Zusammenhang unter Geistern versteht…

1980 führt nur wenige neue Figuren ein, lässt aber andere – AF bspw., jenen Stricher, der immer überall anwesend ist und mehr zu wissen scheint, als alle anderen und dieses Wissen doch nie preisgibt – dafür stärker hervortreten. Sie werden relevanter, erhalten mehr Gewicht im Gewirr der Stimmen, im Chor der Verdammten und Unerlösten, Unerlösbaren. Dazu gehört auch Reverend Laws, ein Priester, der an den Tatorten der Ripper-Morde ebenso auftaucht, wie er auch in Kontakt zu den Opferfamilien steht, zu Jack Whitehead, dem Reporter des Satans, aber auch Verbindungen zu Michael Myshkin und Johnny Ashford hat, jenen Männern, die mit den Kindermorden des ersten Bandes, 1974, in Verbindung gebracht wurden. Myshkin, ein Kind im Körper eines Mannes, wurde schließlich mit einem erzwungenen Geständnis in einer Psychiatrie untergebracht, womit einige, denen das gut zupasskam, meinten sich abgesichert zu haben. Aber auch Myshkin weiß Dinge, hat Dinge gesehen und bleibt gefährlich. Vor allem aber gehören auch diese Unschuldigen, die, die kaum verstehen, was um sie herum passiert, in diese Vorhölle, die Yorkshire im Jahr 1980 darstellt. In der Abwesenheit Gottes kann man die schlimmste Strafe sehen – und Gott, so sehr ihn einige hier, in den Tagen rund um das Weihnachtsfest, auch herbeisehnen und beschwören, Gott ist in diesem Leeds, diesem Yorkshire, diesem England (?) vollkommen abwesend. Auch darin kann man wohl einen der Gründe sehen, weshalb der Reverend, der sich auch ganz anderen kirchlichen Tätigkeiten hingibt, als der Kommunion, seine Kirche in ein Hotel verlegt hat, in ein gewisses Zimmer, in welchem er empfängt und Erlösung verspricht. Erlösung durch Exorzismus, bspw.

Damit wird der religiöse Aspekt noch einmal deutlicher, der das Gesamtwerk, also alle vier Bände, durchzieht. Zu der Vorstellung der Hölle, die für immer mehr dieser Figuren real ist, gesellt sich in 1980 erneut der Wahnsinn, der im Vorgängerband schon Jack Whitehead heimsuchte. Jenen „Gerichtsreporter des Jahres“, den es mit einem Nagel im Kopf in eine psychiatrische Anstalt verschlagen hat, wo er, unablässig weinend, den Urteilen entgegensieht, die einst über ihn gesprochen werden. Mit dem Wahnsinn kommt die Irrealität, kommen die Geister, kommen die Stimmen, die sich nicht mehr kontrollieren lassen, die die Sätze, die Absätze, die Worte heimsuchen, ihre eigene Sicht der Dinge ausdrücken und somit nicht nur die Handlung dieser Romane doppelbödig und brüchig machen, sondern die Sprache selbst, auf die immer weniger Verlaß zu sein scheint. Wer spricht hier? Ein Subjekt? Oder sind es längst Vergessene, die die Subjekte beherrschen –als Geister, in Träumen, als ungewollte Erinnerungen, als schlechtes Gewissen oder unerledigte Aufträge des eigenen Mensch-Seins – und sie und uns diese Welt, diese trübe Ödnis urbaner Trostlosigkeit und ruraler Langeweile, durch ihre Augen sehen lassen? So würde sich auch die Doppelung gewisser sprachlicher Muster erklären, Symbole und Zeichen, wie kratzende Äste an Fensterscheiben, die nicht mehr einzelnen Figuren zuzuordnen sind, sondern sich von ihren Signifikanten zu lösen scheinen und als immergleiche Wortwiederholungen nach und nach – auch Bände-übergreifend – einen jeden dieser Protagonisten heimsuchen können? Und schließlich stellt sich die Frage: Wer ist hier tot? Wer lebt? Oder lebt hier nichts und niemand mehr?

Wurde Band eins aus der Sicht eines Journalisten – Eddie Dunford – erzählt, Band zwei aus der Sicht zweier Figuren – Bob Fraser, jenem Polizisten, der mehrere Fälle zugleich aufklären sollte und vor allem zusehends zerrissen wurde zwischen seiner Familie und der Liebe zu einer Prostituierten, die, hoch gefährdet, schließlich dem Ripper zum Opfer fällt, und Jack Whitehead, jenem „Gerichtsreporter des Jahres“ bei der Evening Post, dem „Reporter des Satans“, der Liveberichte aus der Hölle zu verschicken wusste – konzentriert sich Band drei auf den Blickwinkel von Peter Hunter, den internen Ermittler. Das ermöglicht es dem Leser, noch einmal sämtliche Fakten zusammengestellt zu bekommen und doch – Peace´ Strategie geht einmal mehr auf – bieten sich wieder mehr Lücken, als daß man Antworten erhielte. Immer, wenn sich ein loses Ende mit einem anderen losen Ende zusammenzufügen scheint, tut sich ein weiteres offenes Ende auf, entstehen neue Lücken, stehen andere, ältere Antworten plötzlich in Frage. Schicht um Schicht legen sich die Ereignisse der Jahre 1969, 1972, 1974, 1975, 1977 übereinander, durchdringen einander, bedingen einander, immer undurchschaubarer wird dieses Geflecht und immer offenbarer wird, daß das, was heute passiert, schon vor Dekaden angelegt gewesen ist. Peace schafft einen Kosmos, der ebenso in die Breite, wie in die Tiefe geht, einen Kosmos aus Personen, aber ebenso einen historischen, wozu die Einsprengsel aus Radiosendungen, Musiktiteln und -texten, aus Radioshows und Zeitungsausschnitten beitragen, die immer auch eine zeit- und lokalspezifische, realistische Grundierung für den jeweiligen Abschnitt, über den er schreibt, bieten. Und die dennoch keinen Halt bieten, die keinen festen Grund darstellen, in deren Sätzen und Begriffen selbst schon wieder der nächste Schrecken, eine dunkle Ahnung, ein Omen zu lauern scheint. Zeichen, nichts als Zeichen, und wer klug genug ist, versucht nicht, sie zu ergründen.

Das gesamte Red-Riding-Quartett könnte auch als Anti-Kriminalliteratur betrachtet werden, denn hier wird nichts wirklich aufgeklärt, vielmehr sind gerade die, die für die Aufklärung zuständig wären, daran interessiert, daß niemand allzu genau hinschaut. Ihnen kommen die Ripper-Morde gerade recht, so wie ihnen auch die verschwundenen Kinder der Jahre 1969, 1972 und 1974 gerade recht kamen, um abzulenken, um unter den Teppich zu kehren, was nicht ans Licht der Öffentlichkeit gelangen sollte. Wobei jemand wie Eddie Dunford, ein Mann, der in Yorkshire geboren wurde, aber dennoch von außen kam, eben viel zu viel Staub aufgewirbelt und dennoch mit seiner Verzweiflungstat am Ende des ersten Bandes auch allen einen Gefallen getan hatte. Nein, anstatt uns zu zeigen, wie die Polizei arbeitet und Verbrechen aufklärt, zeigt David Peace seinen Lesern, wie Verbrechen genutzt werden, um andere Verbrechen – bspw. Korruption – zu decken und zu verschleiern. Und das tut er – siehe oben – in Form eines großen, schier endlosen Gesangs. Eines Gesangs, eines Gedichts, eines Klagelieds. So ätzend diese Texte sind, so voller Gewalt, Hass, Folter, Verachtung, Alkohol, Kotze, Scheiße und Pisse – denn hier wir dauernd getrunken, gekotzt und gepisst – , so abwesend hier jede Mitmenschlichkeit ist, so ist dies doch nie zynisch in dem Sinne, daß der Autor auch nur irgendetwas davon als rechtmäßig erscheinen ließe. Es ist ein Bericht aus der Hölle und die Hölle ist einfach der Normalzustand für die Menschen, die hier leben. Einfach, ganz einfach.

Peace wird gelegentlich mit James Ellroy verglichen, meist aufgrund des Stils, der auch bei dem Briten manchmal enorm reduktiv ist, bis einzelne Zeilen nur noch ein Wort aufweisen, doch der Vergleich hinkt. Peace ist im Grunde ein Moralist. Er begibt sich an die dunkelsten Orte seiner Heimat – er wurde 1967 in Ossett, West Yorkshire, geboren – , er lässt sich mit einigen der fürchterlichsten Gestalten der jüngeren Literatur ein und begleitet Opfer und Täter an Orte, an die wir alle nie gelangen wollten, um all das, was er sieht, all das, dessen er gewahr werden muß, all diese monströsen Beziehungen, Zusammenhänge und  Verstrickungen zu beschreiben. Und er beschreibt, er erklärt nichts. Im Grunde beschreibt er nicht einmal, sondern er gibt An- und Abrisse des Seelenlebens derer, aus deren Perspektive er gerade schreibt. Er lässt vor den Augen seiner Leser ein Gesellschafts-, mehr noch ein Sittengemälde entstehen, in dem man, wie die Protagonisten, nach und nach verloren geht. Das ist nicht einfach Kriminalliteratur, das ist Literatur auf hohem Niveau. Das tut unendlich weh und hinterlasst beim Leser einen sehr unangenehmen Geschmack. Und es hört und hört nicht auf.

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