1983/NINETEEN EIGHTY-THREE

David Peace Abschlußband seines 'Red-Riding#-Quartetts

1983 (NINETEEN EIGHTY-THREE/2002; Dt. 2008): Margaret Thatchers Erdrutschsieg bei den Unterhauswahlen im Nachklang des Falkland-Krieges, die Vorboten des großen Bergarbeiterstreiks 1984/85, Post-Punk und New Romantics, der Culture Club, die IRA sprengt das Kaufhaus Harrod´s – das ist der Hintergrund von David Peace´ vierten und abschließenden Band des Red-Riding-Quartetts.

Erst berichtete uns ein Journalist von den Vorgängen in West Yorkshire, dann ein Polizist und ein Reporter, dann ein Polizist und nun sind es mit Maurice Jobson erneut ein Polizist und mit dem Anwalt John Piggott erstmals ein Jurist, die dem Leser dieser vier Bände die letzten Eindrücke aus der Hölle vermitteln. Es sind die Aufräumarbeiten, der Nachklapp, nachdem der Sturm sich gelegt hat. Der Ripper ist gefasst und gibt in etlichen Vernehmungen seine ganze brutale Weltsicht preis, die Vergangenheit ruht, wollte man meinen, nun nachdem Eddie verschwunden, Bob Fraser tot und Jack Whitehead in der Psychiatrie verschwunden ist. Und Peter Hunter, der Ermittler des dritten Bandes 1980 (NINETEEN EIGHTY/2001; Dt. 2007) und die Figur in diesem schier unübersichtlichen Reigen, die einer Lichtgestalt noch am nächsten kam, wenn auch nicht sehr nah, ist tot und vergessen. Als jedoch erneut ein Kind verschwindet, werden bei Maurice Jobson, der Eule, wie er von seinen Kollegen genannt wird, Erinnerungen wach – Erinnerungen an die Jahre 1969, 1972 und 1974, als eine Serie von Kindesentführungen und -morden West Yorkshire erschütterte. Schlechtes Gewissen regt sich bei ihm, der von allem Anfang an dabei war – bei den Ermittlungen, aber auch bei den Hinterzimmertreffen, als sich eine Melange aus Polizisten, Politikern und Unternehmern zusammentat, um sich Pfründe und Macht in der Provinz zu sichern. Er, der mitverantwortlich war für Folterungen Unschuldiger, die Verhaftung und Inhaftierung Unschuldiger, für Einschüchterung und Denunziation Unschuldiger. Und der doch nicht aus seiner Haut kann. Erst recht nicht, seit Piggott, der seine ganz eigene Verbindung zu den Vorgängen in den Jahren `69 bis `74 hat, ein Revisionsverfahren für Michael Myshkin einleitet, jenen Mann, in dessen Körper ein Kind lebt und der seit nunmehr neun Jahren in einer Psychiatrie sitzt. Jenen Mann, den Jobson und seine Adlati damals als Bauernopfer, als Sündenbock, gerade recht gekommen war. Ein Mann, für den niemand sprach – nicht einmal sein Anwalt – weil er ein Idiot, ein Schwachsinniger war, ein blöder Junge aus den Sozialbausiedlungen, um den sich niemand scheren würde, außer seiner Mutter. Und wer hört schon auf die?

Erneut greift Peace zu seinem erzählerischen Mittel aus Band zwei und lässt gleich zwei Protagonisten aus ihrer jeweils subjektiven Perspektive berichten, wobei sich Jobson allerdings eher erinnert, Piggott hingegen seinen Passionsweg, seinen Abstieg in die Hölle in der Gegenwart des Jahres 1983 erlebt – verfolgt von den Gespenstern seiner Vergangenheit, seiner eigenen Erinnerungen. So werden wir durch Jobsons Bericht in die Zeit vor den Geschehnissen des ersten Bandes, 1974 (NINETEEN SEVENTY-FOUR/1999; Dt. 2005), entführt und begreifen langsam das ganze Ausmaß dessen, was sich da in Yorkshire zugetragen hat, bekommen teilweise bestätigt, was wir bereits ahnten. Diese Männer, diese Polizisten, diese Gesetzeshüter, sind so tief in Schuld verstrickt, daß es für keinen davon noch Errettung oder gar Erlösung geben kann. Peace fügt einen dritten Handlungsstrang hinzu, der vor allem die Jahre 1975, 1976, 1977 abdeckt und uns von AF, diesem Stricher, der immer überall zugegen gewesen zu sein scheint, der immer wieder Hinweise an Dunford, an Hunter und Whitehead gegeben, der aber nie wirklich preisgegeben hat, was er weiß, berichtet wird.

So werden uns Szenen aus den Vorgängerbänden nun noch einmal geschildert, aber aus einer anderen Perspektive und das ist ein brillanter Schachzug des Autors. Da setzen sich Puzzleteile zusammen, da werden Lücken geschlossen, da werden Zusammenhänge begreiflich, die zuvor nur für Verwirrung gesorgt haben. Es entsteht ein Mosaik der Abgründigkeit. Und doch macht Peace es seinen Lesern nicht leicht, denn inhaltlich tun sich wieder neue Schichten auf, immer mehr Sedimente dessen, was in West Yorkshire wohl schon lange, sehr lange gärt – und zugleich lässt der Autor seine Strategie der sprachlichen Wiederholung geradezu eskalieren. Seitenweise werden wir wieder und wieder mit Kaskaden der immergleichen Absätze konfrontiert, manchmal um ein, zwei Worte erweitert, ergänzt. Sätze zerfasern, Absätze werden zerschnitten von Einschüben, Songtexten, Radiomitschnitten. Und im Geist der Erzählenden, allen voran in Piggotts von Alkohol und Marihuana vernebelten Hirn, machen sich die Stimmen derer breit, die längst tot, längst verloren, längst vergessen sind. Peace scheint sich nicht mehr um Verständlichkeit zu scheren, es ist ihm gleich, was wir noch begreifen können. Wir werden Zeugen einer Zerrüttung. So sehr die Ebene, auf der Maurice Jobson immer mehr offenbart, wie verkommen sein Charakter ist (und er sich dennoch wundert, daß seine Familie, Frau und Kinder, das Weite gesucht haben, obwohl er zugibt, sie zu hassen) uns einiges an Aufklärung bietet, um die Vorkommnisse der Vorgängerbände zu verstehen, so wenig lassen die Gedankenspiralen in Piggotts Kopf zu, daß wir das ganze Bild erhaschen. So gilt auch für 1983, was sich in 1977 (NINETEEN SEVENTY-SEVEN/2000; Dt. 2006) ankündigte und in 1980 bereits voll zur Entfaltung kam: Nie werden wir in diesen „Kriminalromanen“ an ein Ende gelange, zu einer Gewißheit oder einer befriedigenden Auflösung  kommen. Stattdessen tun sich immer weitere Ebenen auf, immer tiefere Abgründe menschlicher Verkommenheit und immer erschütterndere Schichten von Gewalt, Verachtung und Hass.

Bei aller Wucht, aller Dringlichkeit, aller Rasanz, die Peace in seinen Abschlußroman legt – der letzte Band fällt gegenüber den Vorgängern leicht ab, wenn auch nur um Nuancen. Mag es daran liegen, daß Peace die Sache zu einem Ende bringen wollte/musste, mag es daran liegen, daß er ein wenig unentschlossen wirkt, ob er dem Publikum das ganze Bild offenbaren soll oder doch einiges im Verborgenen belässt, was einer Realität, aus der er ja trotz aller Andeutungen, aller Irrationalitäten, aller Vorahnungen der Figuren erzählt, weitaus eher entsprechen würde. So bleibt 1983, was das betrifft, leider ein wenig unentschlossen. Wo der Strang um Maurice Jobson allzu Vieles zusammenzubringen scheint – und damit allerdings wirklich Skandalöses offenbart, wenn auch im Gewande einer schnöden Verschwörungsnarration – wird die Erzählung um Piggott immer erratischer, undurchschaubarer, vielschichtiger, bis hin zum kompletten Unverständnis. Zugleich nehmen die Manierismen zu, wird das Lesen zu einer Tortur, wenn man wieder und wieder Absätze liest, manchmal drei-, viermal hintereinander, und keinen Erkenntnisgewinn erzielt. Sicher, das dürfte etwa der Gefühlslage von John Piggott entsprechen. Es entspricht der Serialität des Geschehens und jener des Schreibens, es entspricht dem sich ausbreitenden Wahnsinn, in den Spiralen des Immergleichen, der Wiederholung, gefangen zu sein, doch macht es die Lektüre weder einfacher noch erträglicher.

Dies hier sind eben die Aufräumarbeiten. Eine Dekade gelangt an ihr Ende, eine neue Zeit beginnt, wer will da schon nach hinten schauen? Maggie Thatcher erklärt, daß es so etwas wie „Gesellschaft“ nicht gäbe (there is no such thing as society – wie sie schließlich 1987 kundtat), aber sie will das Land nach vorne bringen. Wen interessieren da die Geister der 70er? Ein alternder Polizist und ein Anwalt bringen die Trümmer auf die Abraumhalde und finden dort einmal mehr die Hölle vor. Doch auch das interessiert niemanden mehr. Genau diese Atmosphäre gelingt Peace – ein Gefühl dafür, wie man hinter etwas her recherchiert, das im Grunde niemanden mehr interessiert und alle nur in ihrer neuen Entwicklung stört. De facto beschreibt Peace eine Gesellschaft, die es nicht mehr gibt. Eine Gesellschaft der totalen Vereinzelung, in der nicht mehr wirklich wichtig ist oder zählt, wen du liebst, mit wem du schläfst, wer dein Freund und wer dein Feind ist. Eine Gesellschaft der Individuen, die alle immer gegeneinander arbeiten und in der ein jeder schauen muß, wo er bleibt. Und in der die Schwächsten schon verloren haben, bevor es in ihrem Leben überhaupt losgeht. Und irgendwann, sei es in Form eines Racheengels oder eines Strichers, irgendwann kommt sie dann doch wie ein Bumerang zurück, die Vergangenheit und knallt einem voll in die Fresse. Rammt dir die Zähne in die Eingeweide und lässt dich bluten für die ungesühnten Taten. Denn einer, irgendeiner, kommt immer davon…

Re-Lektüre, Wieder-Lektüre, Neu-Lektüre [?] – es ist auch nach Jahren ein Erlebnis, David Peace Meister-Quartett zu lesen, es eröffnen sich neue Räume, es tun sich aber auch weitere Abgründe auf. Die Lektüre ist anstrengend, kaum unterhaltsam, es packt einen die nackte Depression, wenn man diesen Figuren folgt. Großartige Literatur und schlechte Laune liegen hier sehr, sehr eng beieinander. Was bleibt ist ein neues Bewußtsein davon, daß eine Wirklichkeit, die sich als Wahrheit präsentieren wollte, eine Vergangenheit, die real erscheinen will, immer umzuschreiben sind, daß nichts wahr, alles assoziativ und jederzeit neu interpretierbar ist. Es kommt darauf an, wer diese Interpretation vornimmt, an welcher gesellschaftliche Relais-Station er oder sie sitzt und welche Möglichkeiten ihm oder ihr zur Verfügung stehen, die eigene Sicht der Dinge durchzusetzen. David Peace versucht mit aller Wucht, die ihm literarisch zur Verfügung steht, dagegen anzuschreiben. Und doch bleibt am Ende nur eins – Trauer. Denn die Sieger schreiben die Geschichte und den Verlierern – die Opfer männlicher Gewalt und institutioneller Macht, die Frauen, vor allem aber die Kinder und ganz, ganz selten auch die wenigen Männer, die in Peace´ Universum darum bemüht sind, ehrlich zu bleiben und redlich zu handeln – bleibt nur, sich einen Platz in dieser Geschichte zu suchen, wo es nicht ganz so zugig, nicht ganz so kalt und rauh ist.

Und dann öffnet man die Augen, klappt das Buch zu, atmet durch und meint, einem nicht enden wollenden Albtraum entronnen zu sein. Amen.

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