8 ½ MILLIONEN/REMAINDER
Tom McCarthy lässt die Zeichen tanzen
Jacques Derrida hat in einer seiner Hauptschriften, der GRAMMATOLOGIE (1967; Dt. 1983), das Signifikat, also das Bezeichnete, in den Bereich des Transzendentalen verwiesen. Das transzendentale Signifikat ordnete als Begriff den vermeintlichen Sinngeber dort an, wo Sprache nicht mehr hinreicht. Doch wo Sprache nicht hinreicht, ist kein Sprechen mehr. Deshalb konzentriert sich Derridas Denken auf das Spiel der Signifikanten, also jener Zeichen, die be-zeichnen, be-deuten. Jacques Derrida wäre aber nicht der Entdecker dessen, was heute in vielerlei Hinsicht Dekonstruktion genannt wird – leider auch zu oft dort, wo die, die den Begriff verwenden, wohl nie wirklich begriffen haben, was er bedeutet – , wenn er nicht auch das eigene Denken hinterfragen würde. In (mindestens) zwei Werken suchte er also den Zugriff auf das Signifikat – und landete bei der Kunst. Sowohl GLAS. TOTENGLOCKE (2006) als auch DIE POSTKARTE. VON SOKRATES BIS AN FREUD UND JENSEITS (2. Bde. 1982/1987) sind Grenzgänger zwischen philosophischem Denken und Kunst, Poesie, Lyrik. Das Denken Derridas allerdings wurde bereits in den experimentierfreudigen 70ern vor allem in der amerikanischen Literatur, später auch in Frankreich und im übrigen Europa aufgegriffen und mehrfach in Romanen, Essays und in schwer zuzuordnenden Schriftstücken aufgenommen und in Prosa, Schrift, Sprache zu übersetzen versucht. Von der Theorie, auf die es Einfluß nahm, ganz zu schweigen.
Einer, der es sehr genau nimmt mit dem dekonstruktiven Denken, ist der britische Schriftsteller Tom McCarthy. Vvor allem mit seiner literaturwissenschaftlichen Studie über TIM & STRUPPI UND DAS GEHEIMNIS DER LITERATUR (2006) zu Ruhm gelangt, liest sich sein erster Roman, 8 ½ MILLIONEN (Original REMAINDER. 2007; Dt. 2009) wie der Versuch, eine dekonstruktive Überlegung, eine grundlegende Theorie, in Prosa zu übersetzen. Sowohl inhaltlich als auch formal bewegt sich McCarthy auf den Spuren und in der Terminologie Derridas. „Spuren“, „Markierungen“, „Textur“, das Authentische, „das Uneigentliche“ – das alles sind, neben vielen anderen, Begriffe aus dem Kosmos des französischen Meisterdenkers.
McCarthy bietet seinen Lesern eine scheinbar einfache Geschichte. Ein Mann, der uns berichtet, was sich ereignet, der selbst ohne Markierung, also ohne Namen bleibt, wird Opfer eines Unfalls, bei dem ihm etwas Schweres auf den Kopf gefallen ist. Etwas, das sich möglicherweise von einem fliegenden Objekt gelöst hat. Wir erfahren es nie, auch dies bleibt eine Leerstelle, eine Abwesenheit, die den Hergang der Geschichte bestimmt. Gleich zu Beginn des Textes erfährt der Erzähler von seinem Anwalt, daß er die titelgebenden achteinhalb Millionen in Pfund in einem Vergleich zugestanden bekommt. Dieser Vergleich beinhaltet, daß er niemals über das, was ihm zugestoßen ist, sprechen darf. Das Signifikat all dessen, was der Roman beschreibt, sein Ausgangspunkt, bleibt also außerhalb unserer Sphäre, unbesprochen, unerreicht, nicht be-sprechbar, transzendental. Der Mann verfügt nun also über enorme Geldmengen, allein ihm fehlt die Idee, was er mit all dem Geld machen könnte. Ein Freund schlägt ihm vor, das Leben von nun an als wilde, endlose Party zu gestalten – Nutten, Drogen, Autos – , eine Freundin meint, er solle das Geld in Hilfsprojekte in Afrika anlegen, wo sie selbst soeben in einem solchen Projekt gearbeitet hat. Beides gefällt dem Protagonisten nicht. Auf einer Party hat er ein Deja-Vu-Erlebnis, ein Riss in der Badezimmerwand des Gastgebers erinnert ihn an eine Szenerie, die er zu kennen glaubt. Da er seit dem Unfall Erinnerungslücken aufweist, kann er nicht sagen, ob dies eine „wahre“ Erinnerung ist oder eine rein „imaginierte“.
Definitiv fühlt dieser Mann sich aber als „second hand“, da er alles – jeden Bewegungsablauf, Mimik, Gestik, die Sprache – neu hat lernen müssen. Dies lässt ihn feststellen, daß in der (post)modernen Welt nahezu jeder ein „second hand“ ist, da alle ihr Verhalten auf unsichtbare Beobachter, Kameras abstellen, sich ihre Handlungen, ihre Bewegungen, ihre Sprache den medial vermittelten Vorgaben anpassen. Baudrillards SIMULAKRUM lässt grüßen. Denn was, so lautet die Frage, ist dann authentisch? Das Bezeichnete oder das Bezeichnende? Das Signifikat oder der Signifikant? Der Protagonist beauftragt eine Firma, die sich um nahezu alle Belange ihrer jeweiligen Kunden kümmert, sein Traumgebilde, seine Deja-Vu-Sichte nachzubauen. Man findet das entsprechende Haus (besser: Nach langer Suche ist es der Protagonist selber, der es findet), man sorgt für Nach-Spieler (keine Schau-Spieler!), die exakt die Bewegungen ausführen und die Worte sprechen, die ihnen vom Protagonisten vorgegeben werden. Die Dächer der umliegenden Häuser werden so gedeckt, daß alles dem Deja-Vu-Erlebnis entspricht, ununterbrochen klimpert ein angeheuerter Pianist im 2. Stock des Hauses die immer gleiche Melodie, an der immer gleichen Stelle muß er langsamer werden und sich verspielen, in einem Stockwerk darüber wird ununterbrochen ein Stück Leber gebraten, wodurch der für das Erlebnis charakteristische Geruch entsteht, im Hof des Hauses am immer gleichen Motorrad gewerkelt.
Doch ist diese absolute, die totale Nachstellung einer nicht erfassbaren Wirklichkeit, von der eben nie klar wird, ob sie sich so jemals im Leben des Protagonisten zugetragen hat, nun obsessives Nach-Spiel – oder ist es bereits Vor-Gabe, Hybris? Was der Protagonist schnell merkt, ist, daß das Denken nicht dort stoppt, wo das Denken des Nach-Spielenden oder des Vor-Gebenden endet. Es entwickelt sich, es steht nicht still. Im Gegenteil: Aus der Statik, der Enge des Korsetts der ursprünglichen Vor-Gaben heraus entwickelt sich schon der nächste Gedankenschritt. Der zugleich voranschreitet und hinter den Ursprung zurückgeht. Der „vorursprüngliche Ursprung“ – noch so ein Begriff aus dem Derrida´schen Denkuniversum. So wird aus dem einmaligen Ereignis des Nach-Spiels eine Serie von Nach-Spielen, die jeweils gleich wieder Vor-Gaben für weitere Nach-Spiele sind…bis das Nach-Spielen selbst nach-gespielt werden soll. Jedes Signifikat, wir lernen es bereits bei Ferdinand de Saussure, bezieht sich nun einmal auf das davor und jenes danach.
Doch ein weiteres, nun zwar reales, allerdings nur medial wahrgenommenes und erfasstes Ereignis, inspiriert den Protagonisten zu einer weiteren Umdrehung seiner Überlegungen. Er möchte zunächst den Bandenmord an einem vermeintlichen Drogendealer nach-spielen, was ihn auf weitere Meta-Ebenen seines Denkens führt, zugleich aber seinen Zustand zusehends verändert. Immer häufiger in Absenzen versunken, entrückt dem Erzähler die Wirklichkeit – oder was sich dafür hält. Die Zeichen verwischen sich, was eben noch auf ein Verbrechen hinwies, es bedeutete, wird nach und nach zu einer eigenen Bewegung. Verlangsamung und Stillstand markieren die Differenz zwischen dem, was irgendwo geschehen sein mag und dem Nach-Spiel, das nicht mehr authentisch wiedergeben kann, was war, sondern eine eigene Authentizität entwickelt. Bezieht Saussure jedes Signifikat auf das davor und jenes danach, verweist Derrida nicht nur auf eine nicht endende, endlose Signifikantenkette, sondern erklärt uns auch, daß alle Signifikanten mit sämtlichen anderen in Zusammenhang stehen. Jedes Zeichen enthält in Absenz all jene Zeichen, die es nicht ist. Die Nicht-Anwesenheit aller anderen Zeichen ist einem einzigen Zeichen immer eingeschrieben. Es ist ein Spiel, ein Tanz der Signifikanten. Für den Erzähler werden dies die unterschiedlichen Ebenen dessen, was Realität sein kann, sein könnte. Jedes Zeichen der Wirklichkeit scheint mit jedem anderen Zeichen einer Wirklichkeit in Verbindung zu stehen.
Logischerweise mündet dies schließlich in dem Versuch, Eigentliches und Un-Eigentliches zur Deckung kommen zu lassen. Ein Zustand, den der Protagonist schon durch den ersten Nach-Bau seines Deja-Vu-Erlebnisses herzustellen gehofft hatte. Nun ist es ein Banküberfall, der direkt an und in jener Bank stattfinden soll, die erst kürzlich Ziele eines realen Überfalls wurde. Aber die Idee ist, den Überfall gegen die Absprache wirklich so nachzustellen, daß niemand der Beteiligten – abgesehen von jenen wenigen Führungskräften der ausführenden Firma, sie längst Gefangene der Gedankenspiele des Protagonisten sind – etwas von dem Nach-Spiel weiß.
McCarthy treibt diese Konstellation bis zum Äußersten, wenn sein schließlich fliehender Held, der tatsächlich recht gefühllos einen Mittäter auf der Flucht erschießt, und dessen längst zum Komplizen gewordenen Ober-Angestellter der ausführenden Firma in einem Flucht-Flugzeug sitzen und immer schnellere Kehren am Himmel über London fliegen, vor und zurück, der Pilot zerrissen zwischen dem Befehl des Towers, umzukehren und dem seines Auftragsgebers, den Flug fortzusetzen. So beschreibt der Flieger eine liegende Acht am Himmel, jenes Zeichen für Unendlichkeit, bis…ja, bis? Der Roman bricht ab, wir denken uns unseren Teil, denn was wird geschehen, wenn der Maschine der Sprit ausgeht? Wird jemand in den Straßen Londons, wo all dies spielt, von einem vom Himmel fallenden Objekt getroffen werden? Einem transzendentalen Signifikat, das sich aus jedweder Handlung, aller Sinnstiftung, zurückzieht?
So, wie hier ein jedes Detail der Handlung (weshalb man auch ausführlicher als sonst auf sie eingehen muß) zu einem Verweis, einem Zeichen und einem Symbol wird, einem Stellvertreter für theoretisch tiefgreifende poststrukturalistische und dekonstruktivistische Zugriffe auf eine Realität wird, die nicht mehr authentisch aus sich selbst heraus wirkt, so bietet McCarthy auch formal, sprachlich, eine solche Betrachtung dieser Realität. Maximal genaue Beschreibungen, Strukturbeobachtungen der Oberflächen der Welt, machen die Lektüre zeitweilig zu einem doch anstrengenden Unterfangen. Die Struktur einer Stadt (London) wird hier ebenso erfasst, wie die strukturale Oberfläche einer Tapete, der entscheidende Riss auf der Toilette– immerhin Auslöser für das Geschehen im Roman – erhält eine Aufmerksamkeit, die ihn immer wieder in den Rang einer Schatzkarte, eines geheimen Plans der Welt. Des Seins erhebt. Das erinnert an den Nouveau Roman, den einst Autoren wie Alan Robbe-Grillet oder Claude Simon intendiert hatten, um die Kunstfertigkeit des Romans als solche zu bestärken. Das Schreiben als eigene, gleichberechtigte Kunstform, um eine Welterfahrung und Weltwahrnehmung auszudrücken. Ihnen fühlt sich McCarthy als Autor offenbar verpflichtet, so wie er sich philosophisch den Poststrukturalisten verpflichtet fühlt-
Bleibt die Frage: Ist das lesbar? Will man sowas überhaupt lesen? Die Antwort muß sich natürlich ein jeder selber suchen und finden. Allerdings muß man McCarthy zugutehalten, daß er sich eines nachvollziehbaren Plots bedient, keines wild de-kontextualisierten Konvoluts, dem zu folgen so oder so wenig Spaß gemacht hätte. Im Gegenteil. Die erzählte Geschichte ist einfach und vor allem – und das ist ein großer Pluspunkt des Romans – ist sie voller Witz. Es ist vielleicht ein gelegentlich grimmiger Humor, den McCarthy ins Feld führt, aber gelacht werden darf und sollte dennoch. Denn sowohl der heillos egozentrische Ich-Erzähler, der, namenlos, hinter seiner Sprache und seinen Ideen verschwindet und, wenn wir es genau nehmen (und das sollte man hier unbedingt tun), seine Geschichte auf den letzten Metern des Lebens (seines Lebens?) aus einem eine liegende Acht am Himmel beschreibenden Flugzeugs heraus erzählt, als auch die, die ihn umgeben und seine Anweisungen, seine Forderungen und Bedürfnisse ununterbrochen unhinterfragt bedienen, sind sicherlich keine lebensechte Figuren, aber sie sind herrliche Roman-Charaktere. Vielleicht Schon Karikaturen. Doch muß sich McCarthy keine Mühe geben, „realistisch“ zu sein oder psychologisch glaubwürdige Figuren zu erfinden, weil sein Roman ununterbrochen auf die eigene Textualität hinweist. Ein Roman ist ein Roman ist ein Roman….und nicht die Wirklichkeit. Es ist ein Zeichensystem, an der Phonetik ausgerichtet, hoch abstrakt. Und zudem mutet dieser Roman nebenher wie eine surreale Vision aus dem Hirn eines Franz Kafka an.
Und Kafka ist nicht die einzige Referenz. Alain Robbe-Grillet wurde bereits erwähnt, es werden aber auch Erinnerungen an Werke von J.G. Ballard (CRASH/1973; Dt. 1985) oder Susan Sontag (DEATH KIT71967; Dt. 1985) werden ebenso evoziert. Bei Ballard wird das Nach-Spielen tödlicher Autounfälle zu einer Obsession, nicht nur mit dem Unglück, sondern auch der Erfahrung des Todes zu spielen. In SOntags lesenswertem Roman wiederum wird die Idee des vorursprünglichen Ursprungs und der Spur, die vor sich selbst verweist anhand der Frage durchgespielt, wann wir unseren eigenen Tod wahrzunhemen bereit sind – oder ob wir ihn überhaupt wahrnehmen können. 8 ½ MILLIONEN spielt also auch durchaus mit den Signifikanten der eigenen Gattung und verweist ununterbrochen auf theoretische wie prosaische Texte, die den vorliegenden Text ihrerseits bedingen.
Unter dieser Prämisse bedeutet McCarthys Text natürlich viel, viel mehr, als da auf diesen knapp 300 Seiten wirklich beschrieben wird, denn hier werden Fragen danach aufgeworfen, wie ein Text die Textur der Wirklichkeit einfangen kann, aber auch, wie wir, die wir alle lange schon vor imaginierten Kameras unsere Bewegungen anpassen um uns einem imaginierten Publikum am besten zu verkaufen, noch in der Lage sein wollen, uns authentisch zu fühlen. Letztlich wird es in der Postmoderne, vor deren Maximen und Prämissen wir nicht mehr zurückkehren können, selbst wenn wir wollten, denn dann müssten wir uns wesentlicher Teilhabe am Alltag dieser Postmoderne entziehen, darauf hinauslaufen, daß wir dem Tanz der Zeichen und Symbole beiwohnen werden und ununterbrochen Sinn generieren müssen, gleich, ob dies deren Sinn ist oder nicht. Sinnlos wird also eine weitere Prämisse sein, unter der zu leben uns aufgetragen ist. Da ist es vielleicht von Zeit zu Zeit ganz gut, herzhaft über uns selbst und unsere manchmal verzweifelten Versuche, dieser Wirklichkeit Herr zu werden und sie wieder unter ontologische Hoheit zu zwingen, zu lachen. Vielleicht ist es unsere letzte Chance, dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Wenn nichts mehr hilft, hilft vielleicht noch die Literatur.