Auf einer Kreuzung mitten in Manhattan steht ein Linienbus. An den Scheiben drängen sich die Fahrgäste. Flehentlich werfen sie Blicke hinaus auf die die umliegenden Straßen blockierenden Polizisten und Polizeifahrzeuge. Ein Mann versucht, mit den schweigenden Männern im Bus, die für die Gesamtsituation verantwortlich sind, zu verhandeln. Die Türen des Busses öffnen sich, eine Schar Kinder kommt herausgestolpert und rennt auf die Absperrungen zu. Die Türen schließen sich wieder. Der Mann versucht, weiter zu verhandeln. Er nähert sich dem Bus, bittet darum, Alte und Kranke gehen zu lassen. Erneut öffnen sich die Türen und einige Senioren erscheinen. Nun bietet der Mann sich selbst im Austausch für die Geiseln an, die noch im Bus sind. Und während er in sein Telefon spricht, an dessen anderem Ende er die Geiselnehmer, die immer noch schweigen, vermutet, explodiert der Bus und die Explosion reißt Dutzende von Menschen in den Tod.
Dies ist der Ausgangspunkt in Edward Zwicks Politthriller THE SIEGE (1998). Denzel Washington spielt den verhandelnden Mann am Telefon, den FBI-Agenten Anthony Hubbard, genannt „Hub“. Er und seine Kollegen legen sofort los, um die Hintergründe des Attentats aufzuklären und werden in den folgenden fast zwei Stunden Laufzeit des Films doch immer einen Schritt zu spät kommen, immer einen Moment verpassen, in dem es möglich gewesen wäre, Schlimmeres zu verhindern. Und „Schlimmeres“ meint in diesem Fall keineswegs nur die noch folgenden Anschläge auf ein Broadway-Theater und schließlich die FBI-Zentrale an der Federal Plaza One, sondern auch und vor allem jene Maßnahmen, die man ergreift, um der Attentäter habhaft zu werden. Denn nicht nur die CIA in Gestalt der von Annette Bening gespielten Agentin Elise Kraft mischt hier auf unheimliche und möglicherweise auch zersetzende Art mit, sondern es übernimmt schließlich das Militär nach Verhängung des Ausnahmezustands (der dem deutschen Titel des Films entspricht) das Kommando über New York, bzw. Brooklyn, wo man die Terrorzellen ausgemacht zu haben glaubt. Das bedeutet es wird ein Gefangenenlager im Footballstadion eingerichtet, in dem die gesamte männliche arabische Bevölkerung der Stadt zusammengetrieben und inhaftiert wird. Innerhalb weniger Stunden verwandelt sich dieser Ort in ein Konzentrationslager, spätestens in dem Moment, in welchem die Armee, allen voran Generalmajor Devereaux, damit beginnt, Inhaftierte willkürlich zu foltern.
Kaum ein Film der vergangenen 30 Jahre hat rückblickend eine solch verstörende Wirkung wie THE SIEGE. Kaum ein Ereignis der letzten 30 Jahre – und dabei ist sogar der Fall der Berliner Mauer eingeschlossen – wird auf die nach 1970 Geborenen solch eine verstörende Wirkung gehabt haben, wie der 11. September 2001, als zwei entführte Flugzeuge in die Türme des New Yorker World Trade Center einschlugen, nahezu 4.000 Menschen in den Tod rissen und dies eine „Neue Weltordnung“ mitbegründete, die seitdem spürbar ist. THE SIEGE wurde 1998 veröffentlicht, also drei Jahr vor den Ereignissen des 11. September und betrachtet man den Film heute, sieht man die nicht mehr existenten Türme in mehreren Einstellungen im Hintergrund von Panoramaaufnahmen der Skyline von Manhattan. Man will Zwicks Film nahezu prophetisches Potential zuschreiben. Denn nicht nur nimmt er die Erschütterung der Anschläge vorweg (die im Film gezeigten hatten tatsächlich reale Vorbilder, darunter den versuchten Anschlag auf das World Trade Center 1993 und jenen auf das FBI-Gebäude in Oklahoma City im Jahr 1995, für den allerdings ein Rechtsextremist verantwortlich war), sondern er zeigt nahezu exemplarisch, wie die sich immer noch als Fabel-Demokratie der Neuzeit betrachtenden USA in Windeseile jedwede Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte, Menschenrechte aufzugeben bereit sind und sich stattdessen in eine verängstigte Nation verwandeln, die sofort bereit ist, all das hinzunehmen. Inklusive Folter und Mord an Verdächtigen.
Zudem zeigt Zwick auch, wie im Wirrwarr der Kompetenzen einzelner Dienste und Behörden und der Armee Informationen versickern, verloren gehen oder bewußt zurückgehalten werden. Auch dies entspricht den späteren Tatsachen rund um die Entwicklungen, die zum 11. September führten. Der Film war zu seiner Zeit schon grauenerregend und aufwühlend, weil man das, was er zeigt, für wahrscheinlich hielt – betrachtet man ihn über zwanzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, ist er umso grauenerregender, weil man weiß, daß es genau so gekommen ist. Aus Wahrscheinlichkeit ist Gewißheit geworden. Die völkerrechtswidrigen Kriege in Afghanistan und dem Irak, das Gefangenenlager in Guantanamo, das bis heute besteht und in dem Menschen ebenfalls völkerrechtswidrig gefangen gehalten werden, die Foltermethoden von Schlafentzug bis Waterboarding, die „heimlichen“ Tötungen (sprich: Morde) als feindlich ausgemachter Kombattanten oder von Rädelsführern per Drohne – all diese Mittel werden in THE SIEGE entweder gezeigt oder schwingen als Möglichkeit mit. Und natürlich ist da dieses Geisterhafte, das den Film umgibt. Wie Menetekel ragen die Türme des World Trade Center in die Nacht von Manhattan, scheinen auf ihr eigenes Schicksal und das jener zu verweisen, die an jenem Morgen dort waren und nicht mehr aus den brennenden Hochhäusern entkommen konnten. Auf eine gespenstische Art legen sich eine fiktionale und eine reale Folie übereinander, scheint THE SIEGE seine eigene Prophezeihung in sich zu tragen und zugleich über sich hinaus zu weisen.
Betrachtet man Zwicks Werk nüchtern, hat man es in erster Linie mit einem recht konventionell gearteten Genrefilm zu tun. Es ist ein Politthriller mit Actionanteilen, der knapp zwei Stunden zu fesseln versteht, indem er das Tempo hoch hält, ein hervorragendes Timing hat und mit überzeugenden Schauspielern – inklusive Bruce Willis als zynischem General Devereaux, wofür er einst die „Goldene Himbeere“ bekam – aufwartet. Zugunsten einer in sich schlüssigen Dramaturgie verzichten Zwick und seine Co-Autoren am Drehbuch darauf, die Figuren allzu sehr mit Ambivalenz aufzuladen. Washingtons Hub ist der All-american-guy, der sich in entscheidenden Situationen als guter Amerikaner, als Held im weitesten Sinne entpuppt. Wild entschlossen, „seine“ Stadt vor Angriffen zu schützen, muß er bald gewahren, daß es eben nicht nur die Terrorzellen sind, die eine Bedrohung darstellen, sondern ein jeder in diesem Spiel sein eigenes Süppchen kocht. Nur ein einziges Mal, bei dem Verhör eines Verdächtigen, bekommt diese Figur eine dunklere Seite, tritt ein Schatten hervor, wenn er den Verhörten, einen Araber, der deutliche Male früherer Folterungen am Körper trägt, mit einer Zigarette bedroht und andeutet, ihn damit zu verbrennen. Doch glauben wir nicht, daß Denzel Washington dazu fähig ist, es entspräche nicht seinem Rollenschema und natürlich tut er es auch nicht. Benings Elise Kraft, die sich schließlich als jemand ganz anderes herausstellt, ist die widersprüchlichste und sicherlich ambivalenteste Figur, Willis` General wird zum Bösewicht, obwohl das Drehbuch ihm Passagen – unter anderem im Nationalen Sicherheitsrat – zugesteht, in der er die als typisch erachtete Haltung vertreten darf, daß niemand so ungern in den Krieg zieht, wie ein Militär. Mehrfach bittet er geradezu darum, den Ausnahmezustand, respektive das Kriegsrecht, nicht zu verhängen, da niemand amerikanisches Militär auf den Straßen einer amerikanischen Metropole sehen wolle. Als der Präsident (und man muß davon ausgehen, daß es Clinton sein soll, der hier als Oberster Befehlshaber die Order gibt) genau dieses aber verhängt, gibt es für Devereaux kein Halten mehr und er errichtet innerhalb von 12 Stunden eine Art Militärdiktatur in New York City, die nicht von ungefähr an jene in Südamerika in den 70er und 80er Jahren erinnert, wo ebenfalls Fußballstadien zu Konzentrationslagern umfunktioniert wurden.
So sind Zwicks Dramaturgie und die Figurenzeichnung denkbar einfach: Der „gute“ FBI-Agent, die zwielichtige CIA-Agentin und der „böse“ Armee-General. Dabei ist Benings Figur diejenige mit der größten (moralischen) Fallhöhe. Im Grunde kreist der Film um sie und das was sie weiß und vorgibt, nicht zu wissen, bzw. nicht preisgibt. Sie hat Verbindungen zu den Terrorzellen, auch wenn sie erst am Ende des Films erkennt, daß ihr Verbindungsmann keineswegs das unbescholtene Blatt ist, der arme Palästinenser, den sie einst gerettet und sich dann hörig gemacht hat, sondern selbst längst integraler Bestandteil des Terrornetzwerks, welches die USA bedroht. Je länger der Film voranschreitet, desto mehr lernen wir über ihre Verwicklungen in die Vorgänge im Libanon und dem Nahen Osten, bis hin zu der Tatsache, daß sie diejenige gewesen ist, die den damaligen Kämpfern die Ausbildung hatte zukommen lassen, die ihnen jetzt erlaubt, mit einfachsten Mitteln verheerende Bomben zu basteln. Symbolisch ist es ihr Namenswechsel – wobei „Elise Kraft“ nur ein Deckname gewesen sein mag – der ihre zerrissene Persönlichkeit, ihr Daheimsein in verschiedenen Kulturen, sie ist in Beirut aufgewachsen, spiegelt. Auch diese Figur wird bei aller Doppelbödigkeit letztlich aber klassisch gezeichnet: Undurchsichtig am Anfang, allerdings nicht unsympathisch, dann immer mehr auf der Seite des Helden, dabei immer wieder aber mit Auftritten, die an ihrer Loyalität zweifeln lassen, ist sie schließlich bereit, ihr Wissen preiszugeben und sich am Ende des Films zu opfern, um ihre Läuterung zu belegen.
Im Kontext eines Hollywood-Mainstream-Thrillers gebührt den Inventoren dieser Figur dennoch ein gewisser Respekt und der Figur selbst Aufmerksamkeit. Es ist eine vielschichtige Figur, die Bening hervorragend spielt, ihr emotionale Tiefe verleiht und zugleich etwas Hartes, vielleicht auch Verhärtetes, Man nimmt dieser Frau ab, daß sie ebenso auf dem glatten Parkett Washingtoner Büros bestehen kann, wie in den staubigen Höhen des Golan oder anderer Hotspots des Nahen Ostens. Sie versucht, Hub an der Nase herum zu führen, zugleich spürt man die Dringlichkeit, die sie umtreibt. Und sogar die Trauer über das im Nahen Osten Erlebte nimmt man ihr ab. Dabei gelingt Bening ein kleines schauspielerisches Kabinettstück, fragt man sich doch in diesen Momenten, da die Tränen fließen, ob diese Elise Kraft, die wir zu dem Zeitpunkt im Film bereits unter ihrem „echten“ Namen Sharon Bridger kennen, Hub und uns nicht einfach eine perfekte Inszenierung bietet. Genau diese Ambivalenz, diese Undurchsichtigkeit, macht diese Figur so fesselnd. Zudem lässt das Drehbuch sie all jene Fakten ausbreiten, die die meisten von uns im Publikum erst in den Jahren nach 2001 lernten: Daß man es bspw. mit Zellen zu tun hat, die nicht mehr zentral gesteuert werden, sondern eigenverantwortlich handeln. THE SIEGE ist also, was die Tatsachen islamistischen Terrors betrifft, ebenfalls seiner Zeit voraus gewesen.
Zwick arbeitet filmisch mit damals wie heute angesagten, meist dem postmodernen Kino entnommenen Mitteln. Immer wieder werden seine „objektiven“ Bilder von TV-Bildern unterbrochen, auf der Tonspur hören wie gelegentlich eine Kakophonie durcheinander redender Moderatoren und Kommentatoren, die das Geschehen besprechen und einordnen. Die mediale Reflexion ist somit ein wesentlicher Bestandteil des Films und wird sogar zum integralen Bestandteil des Geschehens, wenn Elise/Sharon Hub darauf hinweist, daß gerade die Anwesenheit der TV-Hubschrauber und Kamerateams exakt das Geschäft der Terroristen betreiben, da diese gar nicht verhandeln wollen, sondern die mediale Aufmerksamkeit brauchen, um ihre „Botschaft“ möglichst zeitnah und wirksam zu verbreiten. Die Botschaft lautet schlicht: Angst. Auch da ist THE SIEGE ganz auf der aktuellen Höhe. Es war Jean Baudrillard, der bald nach den Anschlägen des 11. September darauf hinwies, daß die Anschläge nur und ausschließlich durch die mediale Verarbeitung ihre volle Wirkmächtigkeit entfalten konnten, sie also im Grunde für die Kameras der TV-Stationen inszeniert worden waren[1]. Und es stimmt: Welches Bild des beginnenden 21. Jahrhunderts ist ikonographischer, als die in die Türme einschlagenden Flugzeuge und jene, auf denen die Türme schließlich einstürzen. Für die, die die Anschläge damals live am Fernsehschirm miterlebt haben, dürften dies die prägendsten Bilder ihres bisherigen Lebens gewesen sein. So gelingt Zwick auch eine Analyse des globalen Terrors in der Postmoderne, wobei er zugleich, manchmal etwas zu pittoresk, zu anschaulich, doch auch den realen Horror eines Bombenanschlags vor Ort verdeutlicht.
Betrachtet man THE SIEGE heute, stellt man fest, daß der Film noch immer packt, immer noch atemberaubend ist und seine Analyse nicht viel von ihrer Aktualität verloren hat. Da vergibt man dem Regisseur gern den letztlich herkömmlichen Stil der Inszenierung, die sich auf die Hatz auf die Terroristen konzentriert, man verzeiht ihm auch die Klischees, wenn die Armee nichts besseres zu tun hat, als mit Richtmikrofonen das FBI zu verfolgen, um auf die Spur der Gesuchten zu kommen, und ebenso verzeiht man ihm, daß eine Figur wie die von Bening gespielte nahezu klassische Rollenmuster bis hin zum Opfertod durchschreiten muß, damit wir sie als eine der „Guten“ akzeptieren können.
Vielleicht ist es die einzige echte Schwachstelle des Films, überhaupt noch mit einem Konzept von „Gut“ und „Böse“ zu arbeiten. Doch vielleicht war 1998 auch die Zeit noch nicht reif, um einem Mainstreampublikum so ambivalente und vollkommen undurchschaubare Charaktere vorzusetzen, wie es bspw. Ridley Scott in BODY OF LIES (2008) oder Kathryn Bigelow in ZERO DARK THIRTY (2012) dann taten. Allerdings sind ihre Filme nach dem 11. September entstanden, zu einer Zeit also, als moralische Gewißheiten längst wie unliebsame Akten in geheimen CIA-Büros irgendwo auf der Welt geschreddert worden waren. Edward Zwick beschrieb in seinem Film noch eine Möglichkeit. Eine Fiktion. Und es ist ihm umso höher anzurechnen, daß schon in dieser Fiktion die ganze Doppelbödigkeit amerikanischer Nah-Ost-Politik und die ganze Verdorbenheit eines Apparats ausgestellt werden, der sofort bereit ist, jegliches Recht zu suspendieren, das sonst in den Sonntagsreden herhalten muß, um die Großartigkeit der Nation, dieser „City on the hill“, zu belegen.
[1] Baudrillard, Jean: DER GEIST DES TERRORISMUS. Wien, 2003.