ARCADIA

Lauren Groff erzählt in ihrem zweiten Roman von einer Generation, die es besser machen wollte - und gnadenlos scheiterte

Mit ihrem zweiten Roman ARCADIA (2012; Dt. 2013) reist Lauren Groff in die jüngere amerikanische Vergangenheit und erzählt aus den Augen des jungen Bit (so benannt, weil er bei seiner Geburt so wenig, nur „a bit“, gewesen ist) von dessen Kindheit und Jugend in einer Landkommune in den 70er Jahren. Nach dem Scheitern der utopischen Träume verlässt er sein Arkadien mit seinen Eltern und findet sich in Brooklyn wieder – in einer ihm vollkommen fremden Umgebung und Welt, die zu verstehen ihn einiges kostet. Später dann wird Bit Dozent an einer New Yorker Universität, unterrichtet dort Fotografie, müht sich, selbst als Fotograf künstlerischen Erfolg zu haben und muß, um sein eigenes Seelenheil zu finden, die Scherben der Vergangenheit zusammenkehren.

Groffs 2012 geschriebener Roman endet im Jahr 2018, was ihr die Möglichkeit eröffnet, einen Ausblick auf eine Zukunft zu geben, die schon damals von Klimaängsten bestimmt war und die sie erstaunlich realistisch imaginiert, inklusive einer Pandemie, die das öffentliche Leben lahmlegt. Man staunt beim Lesen und mit den Erfahrungen der Jahre 2020/21/22, die uns ja tatsächlich genau solch eine Pandemie beschert hatten. Doch ist diese düstere Zukunftsvision lediglich die Grundierung für ein persönliches Drama. Denn Bit leidet nicht nur unter dem Verlust der Kindheitsträume und -welten, sondern auch und vor allem darunter, daß seine Jugendfreundin Helle, wie er ein Kind Arkadiens, nach zwanzig Jahren vollkommener Abwesenheit zwar zurückgekehrt ist und sich ihm angeschlossen hat, nun aber, nach der Geburt der gemeinsamen Tochter, erneut verschwunden ist und verschwunden bleibt. Und so sucht er nach und nach seine Eltern und einige der alten Freunde zusammen, kehrt, eher durch Zufall, genau zu jener Zeit in die alte, mittlerweile verlassene Kommune zurück und beginnt Stück für Stück, an das alte Leben anzuknüpfen – zumindest so lange, wie die Pandemie die amerikanische Öffentlichkeit im Griff hält.

Diesen im Jahr 2012 recht kurzfristige Ausblick auf die Zukunft kann man sicherlich als Warnung, als Beitrag der Autorin zur allgemeinen Diskussion um Klimaveränderung und Klimawandel lesen. Sie beschreibt unbewohnbare Städte im Südwesten der USA, bspw. Phoenix, Arizona, und berichtet von kolossalen Flüchtlingsströmen in die nördlichen Regionen der Erdkugel, da in Äquatornähe kein Leben mehr möglich sei. Diese Verflechtungen spielen in der eigentlichen Story allerdings keine unmittelbare Rolle. Vielleicht sollte man sie also wirklich nur als Mahnung lesen. Bestenfalls als „objektiven“ Beweis dafür, daß die Hippies der späten 60er und 70er Jahre mit ihrer Naturverbundenheit nicht ganz so falsch lagen, wie es später gern behauptet wurde. Es stellt die unterstellte Naivität dieser an sich eher a-politischen (oder das Politische anders begreifenden) Bewegung in Frage und zeigt stattdessen Menschen, die weitblickender waren als viele ihrer Generation, die auch nach dem berühmten Bericht des Club of Rome noch an ein „Weiter, Höher, Schneller“ auch in ökonomischen Belangen – Stichwort: Wachstum – glauben wollten. Es stellt sich also die Frage, wer hier eigentlich naiv gewesen ist?

Doch spielt dies, es sei noch einmal erwähnt, nur eine untergeordnete Rolle im Roman. Möglicherweise dient dieses ganze Szenario auch eher dazu, dramaturgisch ein Gegengewicht zu bieten zum gnadenlosen Scheitern der Kommune und deren utopistischen Zielen und Träumen. Dieses Scheitern allerdings beschreibt Groff eindringlich. Ob aus eigener Anschauung oder aus Büchern angelesen, aus Erzählungen zusammengetragen und aus den Überlieferungen vieler, die genau diese Lebensformen ausprobiert haben, abgeschaut, kann sie recht anschaulich vorführen, wie all die Träume vom freien Leben ohne Privateigentum, in freier Liebe und Zugewandtheit aller allen gegenüber eben an den kleinlichen psychologischen Problemen zerschellen, denen der Mensch trotz aller Lektüre von Marx, Fromm und Marcuse unterlegen ist. Eifersucht, Machtstreben, Götzenverehrung, Grüppchenbildung, Meinungsverschiedenheiten einerseits und natürlich die äußeren Bedingungen – Hunger, Mißerfolge, Drogen – andererseits führen dazu, daß sich die Mitglieder nach und nach überwerfen, zerstreiten, selbst enge Freundschaften – so ist Bits Vater Abe eng mit dem Anführer der Kommune befreundet gewesen – zerbrechen und sogar in Gegnerschaft münden.

Groffs Kunstgriff besteht darin, dieses Scheitern konsequent aus der Sicht des erst fünfjährigen, später fünfzehnjährigen Bit zu erzählen. Ein gewagter Kniff, da Erzählungen aus Kinderperspektive allerlei Gefahren mit sich bringen. Zu häufig wirkt diese Perspektive aufgesetzt, verkitscht, unauthentisch – wie auch nicht, wenn eben eigentlich ein Erwachsener schreibt – und ist für den Leser unergiebig. Hier muß man Groff großes Lob aussprechen, denn es gelingt ihr, die Untiefen einer solchen Erzählperspektive zu umschiffen. Für Bit ist Arcadia einerseits ein zauberhaftes Paradies, in dem er eine unbescholtene und meistens sogar recht glückliche Kindheit verleben kann. Doch so magisch dieses Arkadien manches Mal anmuten mag – vor Bit bleiben eben auch die Probleme der Erwachsenen nicht verborgen. Seine Mutter Hannah ist depressiv und verfällt in den kalten Wintermonaten, die in Upstate New York noch ein bisschen härter als anderswo sein können, in eine Art Starre, verlässt das Haus nicht, nimmt nicht an den Pflichtaufgaben teil, vernachlässigt aber auch Abe und Bit. Offenbar hat es – noch vor Einsetzen der eigentlichen Handlung des Romans – eine Tragödie gegeben, Hannah hat ein Kind verloren, worüber sie nicht hinwegzukommen scheint. Groff erspart uns und sich tränenreiche Erklärungen und schildert die Vorkommnisse, wie sie ein Fünfjähriger wohl wahrnehmen würde: uneinheitlich, unverständlich und fragmentarisch. So verfährt sie mit einigen der geschilderten Geschehnisse. Das schafft eine Atmosphäre des Unberechenbaren und stets auch Bedrohlichen hinter der scheinbaren Fassade einer heilen, alternativen Welt.

Im zweiten der insgesamt vier Abschnitte, Bit ist nun fünfzehn, verdeutlichen sich einige der Entwicklungen. Entsprechend des Alters der Jugendlichen, deren Perspektive weiterhin durch Bit repräsentiert wird, begreifen nicht nur sie, sondern begreift auch der Leser immer besser, was in der Kommune vorgeht. Bit ist verliebt in Helle, die in jugendlich-rebellischer Pose für den gerade aufkommenden Punk schwärmt und früh, mit vierzehn, beginnt, mit Drogen zu experimentieren. Die werden sie den Rest ihres Lebens begleiten und dieses Leben bestimmen – und indirekt eben auch Bits. Denn der wird sich denn Rest seines Lebens verantwortlich für die „Überlebenden“ der Kommune fühlen. In diesem zweiten Abschnitt wird das ganze Scheitern einer Generation schmerzhaft vorgeführt. Und es gelingt Groff dabei auch, hintergründig davon zu erzählen, wie sich die Zeitläufte ändern – Ende der 70er Jahre schlug die eigentlich liberale Stimmung um, mit Ronald Reagan kam die reine Reaktion an die Macht und begann den konservativen Siegeszug der 80er Jahre. In der Kommune, die sich teils nur mit Drogenverkauf über Wasser halten kann, in der immer mehr Menschen – Spät-Hippies, Aussteiger, Drifter, Junkies – auflaufen, die nicht mehr zu verköstigen sind und die bei Weitem nicht alle die Ideale der ursprünglichen Arkadier teilen, brechen die Konflikte immer offener aus und schließlich verschwinden die alten Kämpen nach und nach.

In den beiden verbleibenden Abschnitten erzählt Groff dann von den Erlebnissen in Bits Leben ca. zwanzig Jahre später. Das ist zunächst interessant, da es sich immer wieder auf Arcadia und Bits Kindheit bezieht, vor allem kann Groff so beschreiben, wie die Kinder von Marx und Coca-Cola und deren Nachkommen weitergemacht haben, als die Zeiten sich änderten. Sie kann die Beschädigungen und auch die Verhärtungen darstellen, die viele dieser Kinder befallen hat, allen voran Helle, die ja Jahre verschwunden war und eine Karriere als Junkie hinter sich hat. Kurz taucht sie wieder auf, bekommt ein Kind von Bit und verschwindet dann endgültig aus seinem Leben. Das kann noch fesseln. Leider gilt das nicht mehr für den letzten Abschnitt, in dem Groff davon erzählt, wie Bit sich bemüht, Abe und Hannah, beide krank, beide erschöpft, wieder zusammen zu bringen und ihnen das Alter irgendwie genehm zu gestalten. Der Abschnitt wirkt dann aber seltsam orientierungslos, als habe die Autorin nicht mehr recht gewusst, wohin mit ihren Figuren. Also lässt sie einige wesentliche von ihnen auf dem Grund und Boden von Arcadia wieder zusammenkommen und dann die Pandemie ausbrechen, wodurch eine Art Zwischenzeit entsteht. Zeit für Reflektion und die Frage, wie weiter? Doch wirkt das eher aufgesetzt, angepappt, nicht wirklich mit dem Vorherigen verbunden. Hinzu kommt, daß es Groff nicht gelingt, ihren Figuren im Breiten wirklich Leben einzuhauchen. So nah uns Bit, Hannah und Abe, hier und da auch Nebenfiguren kommen, schon in der Charakterisierung Helles bleibt Groff nebulös. Und bei anderen, weniger wesentlichen Figuren der Handlung, bleiben eigentlich nur Namen, um sie auseinander zu halten, kaum haben wir charakteristische Merkmale oder Eigenheiten der Figuren an die Hand bekommen, um sie identifizieren zu können.

So bleibt am Ende der Lektüre ein wenig Ratlosigkeit. Ein Werk, das zu drei Vierteln überzeugen kann, dann aber ein wenig die Orientierung verliert und nicht so recht weiß, wohin es sich wenden soll. Dennoch ist ARCADIA ein alles in allem gelungenes Werk, das sich ehrlich, auch melancholisch, mit einer Generation auseinandersetzt, die es sicherlich sehr gut gemeint und dann leider oftmals sehr schlecht gemacht hatte. Dies ist keine Abrechnung, Groff würdigt den Versuch eines wirklichen alternativen Lebens, sie zollt jenen Respekt, die es versucht haben und scheiterten und ihren Idealen dennoch treu zu bleiben versuchten. Sie zeigt aber ebenso gnadenlos die Schattenseiten gerade dieses alternativen Lebens, vor allem mit all dem Drogenmißbrauch und der Naivität, die oft Motor hinter den Versuchen eines Ausbruchs war. Das ist ehrenwert. Und als Roman ist es unterhaltsam, oft spannend und vor allem berührt es. Das ist schon mal eine ganze Menge dessen, was Literatur leisten kann.

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